12. Dezember 2019

Gemecker über PISA


Kaum sind die Resultate der neusten Pisa-Studie publik, schon hängt der Bildungsturm schief – ein Ritual, das sich seit 2000 alle drei Jahre wiederholt. Ein Ächzen und Stöhnen geht durch die Lande ob unserer unfähigen Schülerinnen und Schüler; alle melden sich zu Wort: Bildungsexperten, echte und selbst ernannte, Lehrer, Politikerinnen, Bäcker, Taxifahrerinnen, Chemiker und Kaminfegerinnen. Alle sind ja mal zur Schule gegangen, werden so automatisch zu Experten, wissen, dass dringend reformiert werden muss, dass früher eh alles besser war, dass iPhones Teufelswerkzeuge sind, dass das halt davon kommt, dass die heutige Jugend freitags für das Klima streikt, statt die Hauptstädte von Burkina Faso und Französisch-Guyana auswendig zu lernen.
"Weshalb die Pisa-Studie nicht funktioniert", Basler Zeitung, 11.12. ohne Nennung des Autors


Was aber wird da überhaupt ver­glichen? Ich behaupte mal, Äpfel mit Birnen – oder noch schlimmer: Regenwürmer mit Giraffen, Ölsardinen mit Braunkohle. Wie um Himmels willen sollen die Schulleistungen in der Dorfschule im appenzellischen Trogen mit denen in den Lehmhütten der Slums von Rio de Janeiro und der Eliteschule von Singapur verglichen werden? Wundert es tatsächlich jemanden, dass Schweizer Schüler viel besser lesen als ihre Gschpänli in Kasachstan oder in der Dominikanischen Republik, dass deutsche Schüler besser rechnen können als Milan in Kosovo oder Aisha in Algerien?
Die USA glänzen auch nicht wirklich, dümpeln etwa in Mathe weit abgeschlagen knapp vor Kroatien und Kasachstan, im Gesamtdurchschnitt zwischen Tschechien und Lettland. Testergebnisse eines Landes können negativ verzerrt werden, wenn in der nationalen Pisa-Stichprobe die 15-Jährigen aus unteren sozialen Schichten, die in der Regel schlechtere Testergebnisse liefern, überrepräsentiert sind. Dies war der zentrale Kritikpunkt einer Studie, die zwei Wissen­schaftler vom Economic Policy Institute in Washington zu den Pisa-Ergebnissen der USA 2009 vorgelegt haben.
Und das vor Jahren so hochgelobte Finnland? Hurra, die Schweizer haben die Streber aus dem Norden endlich überflügelt. Nur über das Warum schweigt die Pisa-Studie. In den 90er-Jahren durchlitt Finnland eine Wirtschaftskrise. Viele, vor allem junge Leute waren lange arbeitslos; sie werden heute die verlorene Generation genannt. Deren Kinder sind vor ein paar Jahren im Pisa-Alter angekommen. Die Eltern bieten ihnen keinen Halt, keine Visionen. Verschärfend wirkt die aktuelle Jugendarbeitslosigkeit von rund 20 Prozent. Die Schüler haben ein Motivationsproblem – da prallt auch ein vorbildliches Schulsystem auf neue Herausforderungen.
Nicht zu vergessen der neidvolle Blick Richtung Ostasien, nach Tokio, Seoul und Shanghai mit ihren jungen Pisa-Intelligenzbestien. Nur: Seit 2014 ist in Japan Selbstmord die erste Todesursache unter Kindern im Alter zwischen 10 und 19 Jahren – Hauptursache ist der Druck in den Schulen. Oder die 15-jährige Koreanerin, die gegenüber dem «Spiegel» gesagt hatte: «Wenn du eine Zwei bekommst, denkst du schon ans Sterben.» Manche Schüler denken nicht nur daran: Im vergangenen Jahr nahmen sich in Korea 265 Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren das Leben.
Vielleicht, weil sie den Satz des Pythagoras nicht auf Anhieb verstanden haben, den sie eh in ihrem ganzen Leben nie mehr gebraucht hätten.

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