Das Bildungswesen gehe den Bach hinunter – das ist immer wieder zu hören. Zwei ganz unterschiedliche Autoren untersuchen die Trends der letzten Jahre und üben scharfe Kritik an den permanenten Reformen.
Verblöden unsere Schulen? NZZ, 14.11. von Martin Beglinger
Es gibt Bücher, die
bringen Berufspädagogen zum Kochen. Gemeint sind die Generalabrechnungen von
Nichtpädagogen mit der Schule. Der Allzweckphilosoph Richard David Precht zählt
zu dieser Kategorie, nun ist die Reihe wieder am deutschen Kinderpsychiater
Michael Winterhoff. Das bekannteste seiner mittlerweile neun Bücher, «Warum
unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit», ist 2009
erschienen und steht mittlerweile in der 19. Auflage. Und jetzt also:
«Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder
verbaut» – wieder ein Bestseller.
Übermässig
Mitleid mit den Profis braucht man nicht zu haben, aber ein wenig kann man
ihren Frust verstehen, wenn sie bei Winterhoff zum x-ten Mal lesen müssen, dass
alles den Bach hinuntergehe, Eltern, Kinder, Schule – und jetzt noch das ganze
Land. Die «Zeit» nennt Winterhoff bereits den «Thilo Sarrazin der Erziehung»
und seine Ideen eine «Pädagogik des Grauens», es wird seinen Verkaufserfolg
nicht schmälern.
Die
Grossthese des Kinderpsychiaters: Es wachse gerade eine ganze Generation
verhaltensgestörter junger Menschen mit der geistigen Reife von Kleinkindern
heran. Weil die Eltern nicht mehr Eltern sein wollten oder könnten und bei der
Erziehung komplett versagten – «dieser Kampf ist so gut wie verloren» (Winterhoff)
–, müsse es nun die Schule richten. Wenn sie nur könnte. Denn auch das
Bildungswesen sieht der Autor seit zwanzig Jahren durch alle möglichen und
unmöglichen Reformen ruiniert.
Auf
jeder zweiten Seite ist von «Chaos», «Katastrophen» und «Wahnsinn» die Rede,
und sollte sich das Bildungssystem nicht rasch und gründlich ändern, schreibt
Winterhoff im Schlusskapitel, dann «wird das schleichende Gift der fehlenden
psychischen Entwicklung unsere Gesellschaft unrettbar und binnen kurzer Zeit
aushöhlen».
Karikaturhafte
Kritik
Ziemlich
schrille Thesen. Oft genug sind sie mehr anekdotisch behauptet als empirisch
belegt, aber offensichtlich ritzen sie einen dicken Nerv. Ganz besonders
verbeisst sich Winterhoff in die «Ideologie des offenen Unterrichts» und des «autonomen
Lernens», bei dem die Lehrerin zur Lernbegleiterin degradiert werde und nicht
mehr die Chefin mit klaren Ansagen sei.
Tatsächlich
gibt es viele gute Gründe, das Rollenverständnis eines passiven Lehrers, der
sich den tagesaktuellen Launen seiner Klasse ergibt, für falsch zu halten; der
Bildungsforscher John Hattie hat sie in seiner epochalen Studie über guten
Unterricht genannt. Doch ist diese Kritik nicht eher eine Karikatur der
Realität? Winterhoff tut so, als sei offener Unterricht in ganz Deutschland
quasidiktatorisch verordnet worden und habe sich im Schulalltag als
flächendeckende ideologische Unterwanderung durchgesetzt. Beides stimmt nicht,
nicht für Deutschland und noch weniger für die Schweiz.
Winterhoff
will «wieder auf Bindung und Beziehung» in der Schule setzen. Daran ist nichts
gruselig, im Gegenteil, ohne Beziehung kann weder Erziehung noch Schule
funktionieren. Doch warum «wieder»? Das klingt, als hätte «die» Schule seit eh
und je auf Bindung und Beziehung gesetzt. Gute Lehrer taten das tatsächlich
schon immer und ganz von sich aus, aber was ist mit den vielen, vielen andern?
Winterhoff will offenbar zurück in die Zeiten vor 1990, als die Schule noch
«einigermassen gut» funktioniert habe, wie er behauptet. Doch damit verklärt er
nicht nur die alten Zeiten, sondern er verkennt auch, wie sehr sich die
Umstände verändert haben.
Aufs
Maximum reduzieren
Für
alle, denen Winterhoffs Daueralarmismus auf die Nerven geht, gibt es eine
Alternative. Sie stammt von Jürgen Kaube, der das Kunststück schafft, neben
seinem Job als Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» regelmässig
interessante Bücher zu schreiben (zuletzt über «Die Anfänge von allem» oder
eine Biografie von Max Weber). «Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?»,
fragt jetzt der zweifache Vater Kaube im Titel. Auch er schreibt kritisch, aber
nicht im Weltuntergangsmodus wie Winterhoff.
«Lehrer
und Schulen sollen dies und das Gegenteil, das Praktische und das Theoretische,
Chancengleichheit und Pisa-Leistungen, Arbeitsmarkt und Abendland. Natürlich
sollen sie dabei auch noch Einwanderer integrieren, allen ambitionierten Eltern
gefallen, keine Rechtsverordnung verletzen, den Übergang in die digitale Welt
unterstützen und die Handy-Welt bekämpfen», schreibt Kaube. Und folgert plausibel,
dies alles könne nur in einer «verrückten Überforderung» enden.
Was
also muss die Schule? Seine Antwort, kurz und knapp: Sie muss die Schüler
lesen, schreiben, rechnen und selber denken lehren. «Reduce to the max», um es
mit einem alten Werbespruch zu sagen. Das mag wenig sein und ist doch für
erschreckend viele bereits zu viel verlangt, eingedenk der Tatsache, dass in
Deutschland jedes fünfte Kind die deutsche Grundschule verlässt, ohne
ausreichend lesen zu können.
Obschon
die Tonalität der beiden Bücher sehr verschieden ist, so liegen ihre Positionen
immer wieder nahe beisammen. Auch Kaube argumentiert eher konservativ, aber
nicht deshalb, weil er früher alles besser fand, sondern weil er Änderungen
nicht a priori besser findet, nur weil ihnen das Label «zeitgemäss»,
«progressiv» oder «modern» anhängt. Beide Autoren kritisieren etwa die
Pisa-Test-Gläubigkeit oder die einseitige Fokussierung auf die Bedürfnisse der
Wirtschaft; sie schreiben gegen den Run auf die Gymnasien an und schonen jene
Eltern nicht, die von der Schule die Produktion von karrieretauglichem
Nachwuchs verlangen wie von ihrem Finanzberater eine gute Rendite.
Und
nicht zuletzt treffen sie sich in ihrer scharfen Kritik an den schulischen
Dauerreformen. Bei diesem Thema, so Kaube, «wären wir bei einem entscheidenden
Faktor des Leidens an der Schule. Bei den Didaktikern, Lerntheoretikern,
Methodenerfindern nämlich und ihren erziehungswissenschaftlichen
Begleitforschern. Sie haben, unterstützt durch reformfreudige
Bildungsbürokratien und eine mit Reformen ihre Geschäfte machende
Weiterbildungs- und Lehrmittelindustrie, die Schule zu einem Experimentierfeld
von angeblichen Modernisierungen gemacht. Diese erfolgen oft ohne jeden anderen
Anlass als ihr eigenes Innovationsbedürfnis.»
Auch
mit dem jüngsten Hype an den Schulen, der Digitalisierung, gehen sie hart ins
Gericht. Kaube formuliert es so: «Ein wichtiges Lernziel an Schulen ist
Resistenz gegen Phrasendrescherei. Man könnte beim Thema Digitalisierung damit
anfangen.» Winterhoff fordert, die Schule müsse die Kinder vor dem
«Digitalisierungswahn» bewahren und bis zur vierten Klasse eine «digitalfreie
Zone» bleiben. So halten es bekanntlich bereits die Digitalkönige in
Kalifornien, die ihre eigenen Kinder in Montessori-Schulen schicken.
In
der Schweiz liegen wir womöglich noch etwas näher an Kaubes Idealschule, wohl
auch deshalb, weil sich die föderalistisch organisierte Volksschule bisher als
praxisnäher und ideologieresistenter erwiesen hat. Doch auch hierzulande ist
die Pädagogik unterdessen ein akademisches Modebusiness geworden, das mit den
internationalen Wellen schwimmt. Mit dem Lehrplan 21 hat sich die
«Kompetenzphrasen-Industrie» (Kaube) auch in der Schweiz durchgesetzt, nun
beginnt man darüber zu streiten, wie praxistauglich das alles wirklich ist und
wie sich Kompetenzen überhaupt messen lassen. Ob die Schüler am Ende
tatsächlich besser lesen, rechnen, schreiben und denken können – niemand weiss
es, auch nicht die Bildungsforschung. Sicher ist nur: Die Sache wird richtig
teuer. Und die nächste Modewelle kommt bestimmt.
Jürgen
Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2019. 335
S., Fr. 31.90.
Michael
Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019. 221 S., Fr. 31.90.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen