14. November 2019

Winterhoff und Kaube: Buchbesprechung


Das Bildungswesen gehe den Bach hinunter – das ist immer wieder zu hören. Zwei ganz unterschiedliche Autoren untersuchen die Trends der letzten Jahre und üben scharfe Kritik an den permanenten Reformen. 

  

Verblöden unsere Schulen? NZZ, 14.11. von Martin Beglinger

Es gibt Bücher, die bringen Berufspädagogen zum Kochen. Gemeint sind die Generalabrechnungen von Nichtpädagogen mit der Schule. Der Allzweckphilosoph Richard David Precht zählt zu dieser Kategorie, nun ist die Reihe wieder am deutschen Kinderpsych­iater Michael Winterhoff. Das bekannteste seiner mittlerweile neun Bücher, «Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit», ist 2009 erschienen und steht mittlerweile in der 19. Auflage. Und jetzt also: «Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut» – wieder ein Bestseller. 

Übermässig Mitleid mit den Profis braucht man nicht zu haben, aber ein wenig kann man ihren Frust verstehen, wenn sie bei Winterhoff zum x-ten Mal lesen müssen, dass alles den Bach hinuntergehe, Eltern, Kinder, Schule – und jetzt noch das ganze Land. Die «Zeit» nennt Winterhoff bereits den «Thilo Sarrazin der Erziehung» und seine Ideen eine «Pädagogik des Grauens», es wird seinen Verkaufserfolg nicht schmälern.

Die Grossthese des Kinderpsych­iaters: Es wachse gerade eine ganze Generation verhaltensgestörter junger Menschen mit der geistigen Reife von Kleinkindern heran. Weil die Eltern nicht mehr Eltern sein wollten oder könnten und bei der Erziehung komplett versagten – «dieser Kampf ist so gut wie verloren» (Winterhoff) –, müsse es nun die Schule richten. Wenn sie nur könnte. Denn auch das Bildungswesen sieht der Autor seit zwanzig Jahren durch alle möglichen und unmöglichen Reformen ruiniert. 

Auf jeder zweiten Seite ist von «Chaos», «Katastrophen» und «Wahnsinn» die Rede, und sollte sich das Bildungssystem nicht rasch und gründlich ändern, schreibt Winterhoff im Schlusskapitel, dann «wird das schleichende Gift der fehlenden psychischen Entwicklung unsere Gesellschaft unrettbar und binnen kurzer Zeit aushöhlen».

Karikaturhafte Kritik

Ziemlich schrille Thesen. Oft genug sind sie mehr anekdotisch behauptet als empirisch belegt, aber offensichtlich ritzen sie einen dicken Nerv. Ganz besonders verbeisst sich Winterhoff in die «Ideologie des offenen Unterrichts» und des «autonomen Lernens», bei dem die Lehrerin zur Lernbegleiterin degradiert werde und nicht mehr die Chefin mit klaren Ansagen sei. 

Tatsächlich gibt es viele gute Gründe, das Rollenverständnis eines passiven Lehrers, der sich den tagesaktuellen Launen seiner Klasse ergibt, für falsch zu halten; der Bildungsforscher John Hattie hat sie in seiner epochalen Studie über guten Unterricht genannt. Doch ist diese Kritik nicht eher eine Karikatur der Realität? Winterhoff tut so, als sei offener Unterricht in ganz Deutschland quasidiktatorisch verordnet worden und habe sich im Schulalltag als flächendeckende ideologische Unterwanderung durchgesetzt. Beides stimmt nicht, nicht für Deutschland und noch weniger für die Schweiz.

Winterhoff will «wieder auf Bindung und Beziehung» in der Schule setzen. Daran ist nichts gruselig, im Gegenteil, ohne Beziehung kann weder Erziehung noch Schule funktionieren. Doch warum «wieder»? Das klingt, als hätte «die» Schule seit eh und je auf Bindung und Beziehung gesetzt. Gute Lehrer taten das tatsächlich schon immer und ganz von sich aus, aber was ist mit den vielen, vielen andern? Winterhoff will offenbar zurück in die Zeiten vor 1990, als die Schule noch «einigermassen gut» funktioniert habe, wie er behauptet. Doch damit verklärt er nicht nur die alten Zeiten, sondern er verkennt auch, wie sehr sich die Umstände verändert haben.

Aufs Maximum reduzieren

Für alle, denen Winterhoffs Daueralarmismus auf die Nerven geht, gibt es eine Alternative. Sie stammt von Jürgen Kaube, der das Kunststück schafft, neben seinem Job als Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» regelmässig interessante Bücher zu schreiben (zuletzt über «Die Anfänge von allem» oder eine Biografie von Max Weber). «Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?», fragt jetzt der zweifache Vater Kaube im Titel. Auch er schreibt kritisch, aber nicht im Weltuntergangsmodus wie Winterhoff.

«Lehrer und Schulen sollen dies und das Gegenteil, das Praktische und das Theoretische, Chancengleichheit und Pisa-Leistungen, Arbeitsmarkt und Abendland. Natürlich sollen sie dabei auch noch Einwanderer integrieren, allen ambitionierten Eltern gefallen, keine Rechtsverordnung verletzen, den Übergang in die digitale Welt unterstützen und die Handy-Welt bekämpfen», schreibt Kaube. Und folgert plausibel, dies alles könne nur in einer «verrückten Überforderung» enden.

Was also muss die Schule? Seine Antwort, kurz und knapp: Sie muss die Schüler lesen, schreiben, rechnen und selber denken lehren. «Reduce to the max», um es mit einem alten Werbespruch zu sagen. Das mag wenig sein und ist doch für erschreckend viele bereits zu viel verlangt, eingedenk der Tatsache, dass in Deutschland jedes fünfte Kind die deutsche Grundschule verlässt, ohne ausreichend lesen zu können.

Obschon die Tonalität der beiden Bücher sehr verschieden ist, so liegen ihre Positionen immer wieder nahe beisammen. Auch Kaube argumentiert eher konservativ, aber nicht deshalb, weil er früher alles besser fand, sondern weil er Änderungen nicht a priori besser findet, nur weil ihnen das Label «zeitgemäss», «progressiv» oder «modern» anhängt. Beide Autoren kritisieren etwa die Pisa-Test-Gläubigkeit oder die einseitige Fokussierung auf die Bedürfnisse der Wirtschaft; sie schreiben gegen den Run auf die Gymnasien an und schonen jene Eltern nicht, die von der Schule die Produktion von karrieretauglichem Nachwuchs verlangen wie von ihrem Finanzberater eine gute Rendite. 

Und nicht zuletzt treffen sie sich in ihrer scharfen Kritik an den schulischen Dauerreformen. Bei diesem Thema, so Kaube, «wären wir bei einem entscheidenden Faktor des Leidens an der Schule. Bei den Didaktikern, Lerntheoretikern, Methodenerfindern nämlich und ihren erziehungswissenschaftlichen Begleitforschern. Sie haben, unterstützt durch reformfreudige Bildungsbürokratien und eine mit Reformen ihre Geschäfte machende Weiterbildungs- und Lehrmittelindustrie, die Schule zu einem Experimentierfeld von angeblichen Modernisierungen gemacht. Diese erfolgen oft ohne jeden anderen Anlass als ihr eigenes Innovationsbedürfnis.»

Auch mit dem jüngsten Hype an den Schulen, der Digitalisierung, gehen sie hart ins Gericht. Kaube formuliert es so: «Ein wichtiges Lernziel an Schulen ist Resistenz gegen Phrasendrescherei. Man könnte beim Thema Digitalisierung damit anfangen.» Winterhoff fordert, die Schule müsse die Kinder vor dem «Digitalisierungswahn» bewahren und bis zur vierten Klasse eine «digitalfreie Zone» bleiben. So halten es bekanntlich bereits die Digitalkönige in Kalifornien, die ihre eigenen Kinder in Montessori-Schulen schicken.
In der Schweiz liegen wir womöglich noch etwas näher an Kaubes Idealschule, wohl auch deshalb, weil sich die föderalistisch organisierte Volksschule bisher als praxisnäher und ideologieresistenter erwiesen hat. Doch auch hierzulande ist die Pädagogik unterdessen ein akademisches Modebusiness geworden, das mit den internationalen Wellen schwimmt. Mit dem Lehrplan 21 hat sich die «Kompetenzphrasen-Industrie» (Kaube) auch in der Schweiz durchgesetzt, nun beginnt man darüber zu streiten, wie praxistauglich das alles wirklich ist und wie sich Kompetenzen überhaupt messen lassen. Ob die Schüler am Ende tatsächlich besser lesen, rechnen, schreiben und denken können – niemand weiss es, auch nicht die Bildungsforschung. Sicher ist nur: Die Sache wird richtig teuer. Und die nächste Modewelle kommt bestimmt.

Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2019. 335 S., Fr. 31.90.
Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019. 221 S., Fr. 31.90.


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