«Annouk*
ist sehr gewissenhaft»,lobte die Kindergärtnerin im Elterngespräch. Sie könne
sich erstaunlich lange in die gestellten Aufgaben vertiefen,halte sich an die Regeln und spiele
rücksichtsvoll mit ihren Gspänli. Bloss:«In einer grösseren Gruppe hat sie ein
Problem. Sie streckt nie auf,macht kaum mit. Es wäre gut,wenn sie sich mehr
melden würde.» Schon sehr früh zeigten Annouk und ihr jüngerer Bruder
Lars eine Vorliebe für ruhigeTätigkeiten. Liebten es zu malen, zu zeichnen, stundenlang
Puzzles zu machen.«In einer grösseren Gruppe ist beiden oft sichtbar unwohl», sagt
Jasmin, die Mutter der beiden.
Introvertiert? Na und! BZ Basle, 7.11. von Veronica Bonilla Gurzeler
«Gibt es
in den Ferien oder in einem Hotel ein Kinderprogramm, wollen sie sich der Kindergruppe
fast nieanschliessen.» Jasmin weiss: Ihre Kinder sind introvertiert. Genau wie sie
selber auch.Introvertierte Menschen neigen in Gruppen oder in grösseren
Menschenansammlungen eher zum Beobachten als zum Handeln. Sie ziehen
Gespräche zu zweit dem Bad in der Menge vor. Nach einer gewissen
Zeit unter Leuten fühlen sie sich erschöpft und haben das
Bedürfnis nach Rückzug und einer ruhigen Umgebung.
Extravertierten wird mehr
Erfolg zugetraut
Die Begriffe Introversion und Extraversion waren
ursprünglich wertfrei.Heute scheint sich aber die Überzeugung durchzusetzen, dass
erfolgreicher durchs Leben kommt und glücklicher ist, wer sich extravertiert
verhält. Wer sich gut verkaufen kann, kontaktfreudig,schlagfertig und gesellig ist.Das setze die
Zurückhaltenden und Ruhigen unter Druck,vor allem im Kindesalter, sagt Susanne
Schild, eine Personalfachfrau und Mutter, die sich die Sensibilisierung
für Introversion zur Aufgabe gemacht hat. Introvertierte Kinder bekommen das Gefühl, dass etwas
nicht stimmt mit ihnen, dass sie anders sein sollten.
Introvertierte Menschen leiden
nicht in erster Linie unter ihrem stillen Temperament, sondern
vielmehr unter den verständnislosen, bisweilen verletzenden Reaktionen des
Umfelds. Als kleines Mädchen gab Lili fremden Menschen nicht gerne die
Hand, beobachtete lieber als zu reden oder versuchte, sich hinter ihrer zwei Jahre
älteren Schwester zu verstecken. «Lili hat halt Hemmungen»,gab die Schwester
altklug zum Besten; die Lacher der Erwachsenen trieben Lili die Schamröte ins
Gesicht. Später, in der Schule, erhielt das Mädchen gute Noten, und die Lehrerin
rühmte ihr folgsames Verhalten. Im Schulbericht wurde Lilis ruhige,
bisweilen schüchterne Art aber negativ bewertet.Lili mied das Reden vor der Klasse, vor
allem, weil sie immer knallrot anlief. Und lernte, dass nicht nur mit den zu lauten Schülerinnen und
Schülern etwas falsch war,sondern auch mit den zu leisen.
Während Introversion und
Extraversion Veranlagungen sind,die sich nicht ablegen lassen, weisen
Entwicklungspsychologen heute daraufhin,dass Schüchternheit eine erlernte
Eigenschaft ist, die auf negativen Erfahrungen basiert und
alle betreffenkann:Die Kinder haben Angst vor dem abfälligen
Urteil anderer und sind deshalb in sozialen Situationen
gehemmt.Extravertierte und introvertierte Kinder können schüchtern werden,etwa wenn
man sie zu etwas drängt,das ihnen nicht entspricht, oder weil man ihnen nicht die
Zeit lässt, die sie brauchen, um sich an neue Situationen zu gewöhnen. Lili hätte
sich als Kind gewünscht,in ihrem Wesen gesehen und akzeptiert zu werden, wie sie
ist. Wie schwierig das sein kann,wurde ihr klar,als sie feststellte, dass ihr
erstes Kind ein ebenso zurückhaltender Beobachter war, wie sie es gewesen
sein musste.Ihr Sohn brauchte deutlich länger als sein gleichaltriger Freund, bis
er sich im Gemeinschaftszentrum traute, alleine die Spielecke zu entdecken.
Unbewusst entwickelte Lili eine subtile Ablehnung gegen ihn, die ihre Beziehung
während Jahren belastete. Die Blockade löste sich erst, als ihr
bewusst wurde,dass sie im Prinzip mit sich selbst und ihren
eigenen Erfahrungen haderte.
Erholungszeit einplanen hilft Eltern und Kindern
Viele
Eltern werden auch von Schuldgefühlen geplagt, wenn sie merken, dass ihr Kind
die gleichen Schwierigkeiten hat wie sie.Laut Psychologin Brigitte
Stirnemann ist es hilfreich, anzunehmen, dass Introversion
ein Stück weit genetisch verursacht sei: «Das hilft, das Kind anzunehmen, wie es
ist.» Ausserdem seien diese Eltern Spezialisten auf dem Gebiet. Sie wissen aus
eigener Erfahrung, was einem introvertierten Kind gut tut. Das ist auch bei Jasmin
so: «Ich musste lernen, meine Arbeit und meine Freizeit so zu gestalten, dass ich
genügend Ruhe habe und Zeit alleine verbringe, damit es mir gut geht. Das versuche
ich den Kindern mitzugeben.» Kommen die beiden von Schule und Kindergarten heim,
sind sie froh, wenn sie sich zuerst eine Weile alleine beschäftigen können und
nicht gleich weiter müssen zum nächsten Termin,auf den Spielplatz oder
in den Flötenunterricht. Manchmal wartet Jasmin sogar mit dem Mittagessen,um den Kindern genügend Erholungszeit zu
gönnen.«Kommen sie dann an den Tisch, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass es
weder Streit noch Drama gibt.» Trotzdem fragt sie sich immer wieder mal, wie gut
es ihnen geht. Beide Kinder erzählen zu Hause wenig,schon gar nicht, was sie bedrückt.
«Ich mache mir Sorgen,dass ich nicht mitkriege, wenn sie Hilfe
brauchen»,sagt Jasmin.
Ruhige Menschen sind oft empathische Zuhörer
Brigitte
Stirnemann empfiehlt Eltern stiller Kinder, Problembereiche anzusprechen,jedoch
in einem Gesprächsstil, der nicht konfrontativ ist. Sie können fragen: Wie war
das für dich? Warst du sehr traurig? Oder: Ich kann mir vorstellen, dass dich
das sehr wütend macht. Mittlerweile gibt es Bücher und Blogs über das
Selbstverständnis der Introversion. Die bekannteste Fürsprecherin für
Introvertierte ist die amerikanische Anwältin Susan Cain, deren Ted-Talk dazu von
einem Millionenpublikum geschaut wurde. Ja, ruhige Kinder und Erwachsene sind nicht nur genaue
Beobachter, sondern oft auch empathische Zuhörer und Ratgeber. Sie sind
vertrauenswürdig, haben eine differenzierte
Selbstwahrnehmung und orientieren sich mehr an immateriellen Werten als an Statussymbolen.
Susan Cain wünscht sich deshalb:«Die nächste Generation der ruhigen Kinder soll und
wird mit dem Wissen um ihre Stärken aufwachsen.»
*Alle
Namen von Betroffenen und Angehörigen geändert.
Dies ist ein gekürzter Beitrag aus«WirEltern».
In meinem Kanton werden die Kinder auch beurteilt nach dem Kriterium "Mitarbeit". Da werden stille Kinder regelmässig benachteiligt.
AntwortenLöschen