Der Fall eines Knaben mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hat das
Bildungssystem im Kanton Luzern an seine Grenzen gebracht. Ein Rückblick: In
der Primarschule hatte bei ihm der Unterricht in der regulären Klasse mit
integrativer Sonderschulung gut funktioniert. Als Sek-Schüler musste er dann
ins Schul- und Wohnzentrum Malters wechseln. Der Start dort war harzig, er
wurde zwischenzeitlich zu Hause unterrichtet. Für Sek-Schüler gab es bisher für
Kinder mit ASS kein spezifisches Angebot (Artikel vom 7. August).
So werden im Kanton Luzern autistische Kinder unterrichtet, Luzerner Zeitung, 27.11. von Alexander von Däniken
Im Herbst hat das Schul- und Wohnzentrum zwei Notfallplätze für
Sek-Schüler eröffnet, auch der betroffene Knabe nutzt das Angebot. Aufgrund des
Persönlichkeitsschutzes gehen wir nicht näher auf den Fall ein, sondern schauen
vor Ort, wie dort Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, bei denen eine
der unzähligen Ausprägungen von Autismus diagnostiziert worden ist.
Ein Zehntel der Malterser
Sonderschüler ist autistisch
Petra Baeschlin empfängt uns im Gebäude der Lernwerkstatt für Kinder mit
ASS. Sie leitet die Werkstatt, die etwas abseits von den übrigen Gebäuden der
Sonderschule liegt. Ihr Mann Lukas ist Geschäftsleiter des ganzen Zentrums und
damit Hauptverantwortlicher für rund 100 Kinder, die vor Ort in die
Sonderschule gehen. Auch werden 95 Kinder begleitet, die in die reguläre Schule
gehen.
Die Lernwerkstatt für Kinder mit ASS ist 2017 mit drei Kindern
gestartet, jetzt sind es bereits zehn. «Wir erwarten noch eine höhere
Nachfrage», sagt Petra Baeschlin. Die räumliche Trennung von den übrigen
Sonderschülern macht Sinn, wie ein Blick ins Klassenzimmer zeigt.
In der Mitte des Raums sind sternförmig fünf kleine Arbeitsplätze
angeordnet, die jeweils von Trennwänden umgeben sind. Hier sitzen die Kinder,
wenn sie ihren «Arbeitsplan» bearbeiten: rechnen, Sprachen lernen, zeichnen.
Der Plan wird jeden Morgen festgelegt; ebenso die Zeitfenster für die einzelnen
Aufgaben. Alles ist klar strukturiert: Nummer 1, Rechnen, daneben ein
Zeitsymbol, das 20 Minuten anzeigt. Auf dem Tisch steht ein Timer, der
signalisiert, wann die Zeit um ist. Neben dem Timer liegt ein Gehörschutz,
unter dem Pult links hat jede Schublade ihren Zweck. An erhöhter Stelle ist ein
Lämpchen: Wenn ein Kind den Rat einer Lehrerin braucht, schaltet es das Licht
ein. Petra Baeschlin:
«Viele Kinder, die von Autismus betroffen sind,
brauchen ganz klare Strukturen und Ruhe.»
So sei auch Wochen im Voraus angekündigt worden, dass «zwei Männer von
der Zeitung» kommen werden. Die Betreuung ist sehr intensiv: Zwei Lehrerinnen
kümmern sich im Schnitt um fünf Kinder. Wenn einem Kind alles zu viel wird,
kann es der Lehrerin einen Stern übergeben, was bedeutet, dass sich das Kind in
ein Häuschen mit Matratze zurückziehen kann und zehn Minuten nicht gestört
wird.
Pastellfarbene Wände, akribische
Menüpläne
Potenzielle Störungen gibt es viele: Baulärm von draussen, Lärm von
anderen Kindern, grelles Licht. Die Wandfarben sind in Pastellfarben gehalten.
Und die herbstliche Fensterdeko, von den Kindern gefertigte farbige
Laubblätter, wird erst ersetzt, wenn es mit den Kindern besprochen wurde.
Ein wichtiger Bestandteil der Werkstatt, die als Tagesschule geführt
wird, ist auch das Kochen und Essen. «Es gibt autistische Menschen, die zum
Beispiel vorübergehend nichts Weisses essen», sagt Petra Baeschlin. Hierzu
werde mit den Eltern akribisch abgesprochen, was den Kindern nicht bekommt –
und was sie leistungsfähiger macht. «Ein Schüler macht eine Diät, seither hat
er spürbar mehr Energie und er ist konzentrationsfähiger.»
Dass die Kinder ihren festen Rahmen brauchen, zeigt sich auch an den
Wochenplänen. Mittwochs geht es ins Hallenbad, donnerstags in den Wald. Die
Unterschiede zur Regelschule sind frappant. «Manche Kinder mit ASS kommen mit
der lebhaften Atmosphäre und den vielen Übergängen besser klar», sagt Baeschlin,
die ausgebildete Heilpädagogin ist. Für Kinder, die weder in der Regelschule
noch in der Sonderschule adäquat gefördert werden können, ist die Lernwerkstatt
die einzige Alternative.
Auch Emotionen lesen will gelernt
sein
Einige Schüler mit ASS haben Mühe mit Lesen; nicht nur die Schrift,
sondern auch Emotionen. In der Lernwerkstatt wird im Rahmen des Sozialtrainings
zum Beispiel auch geübt, wie man auf wütende oder lächelnde Mitmenschen
reagiert. Zahlreiche Bilder mit Emotionsbeispielen zieren die Wände in den
Schulzimmern. Überhaupt wird viel mit Symbolen und Bildern gearbeitet. Das
setzt bei den Mitarbeitern viel voraus, wie Petra Baeschlin erklärt:
«Es braucht nicht nur die didaktischen Fähigkeiten,
sondern auch eine innere Ruhe und Geduld. Und den Willen, sich voll und ganz
auf die Kinder einzulassen.»
Das Ziel ist in der Lernwerkstatt dasselbe wie in der übrigen
Sonderschule und in den Regelschulen: Die Kinder auf die Reintegration oder das
Berufsleben vorbereiten. «Dazu braucht es aber auch die Vorbereitung der
künftigen Lehrmeister», sagt Baeschlin. Die ASS-Lernwerkstatt berät auch
Schulen und Lehrbetriebe. «Oft wird gesagt, die Kinder müssen sich an die
Gesellschaft anpassen. In unserem Fall braucht es vor allem das Gegenteil.»
Immer mit dabei sind auch die Eltern; sie wüssten am besten, was in den Kindern
vorgeht. Die Erfolgschancen bei der beruflichen Integration sind naturgemäss
höher, wenn es sich um einen autismusfreundlichen Arbeitsplatz handelt. «Auch
ein lebhafteres Umfeld ist nicht ausgeschlossen», sagt Baeschlin.
Die zwei Oberstufenschüler mit ASS, darunter der eingangs erwähnte
Knabe, sind derzeit versuchsweise in der Lernwerkstatt. Die definitive Aufnahme
der ASS-Lernwerkstatt in den Leistungsauftrag des Schul- und Wohnzentrum
Malters erfolgt auf das neue Jahr.
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