27. November 2019

Schule für Autisten


Der Fall eines Knaben mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hat das Bildungssystem im Kanton Luzern an seine Grenzen gebracht. Ein Rückblick: In der Primarschule hatte bei ihm der Unterricht in der regulären Klasse mit integrativer Sonderschulung gut funktioniert. Als Sek-Schüler musste er dann ins Schul- und Wohnzentrum Malters wechseln. Der Start dort war harzig, er wurde zwischenzeitlich zu Hause unterrichtet. Für Sek-Schüler gab es bisher für Kinder mit ASS kein spezifisches Angebot (Artikel vom 7. August).
So werden im Kanton Luzern autistische Kinder unterrichtet, Luzerner Zeitung, 27.11. von Alexander von Däniken


Im Herbst hat das Schul- und Wohnzentrum zwei Notfallplätze für Sek-Schüler eröffnet, auch der betroffene Knabe nutzt das Angebot. Aufgrund des Persönlichkeitsschutzes gehen wir nicht näher auf den Fall ein, sondern schauen vor Ort, wie dort Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, bei denen eine der unzähligen Ausprägungen von Autismus diagnostiziert worden ist.

Ein Zehntel der Malterser Sonderschüler ist autistisch
Petra Baeschlin empfängt uns im Gebäude der Lernwerkstatt für Kinder mit ASS. Sie leitet die Werkstatt, die etwas abseits von den übrigen Gebäuden der Sonderschule liegt. Ihr Mann Lukas ist Geschäftsleiter des ganzen Zentrums und damit Hauptverantwortlicher für rund 100 Kinder, die vor Ort in die Sonderschule gehen. Auch werden 95 Kinder begleitet, die in die reguläre Schule gehen.

Die Lernwerkstatt für Kinder mit ASS ist 2017 mit drei Kindern gestartet, jetzt sind es bereits zehn. «Wir erwarten noch eine höhere Nachfrage», sagt Petra Baeschlin. Die räumliche Trennung von den übrigen Sonderschülern macht Sinn, wie ein Blick ins Klassenzimmer zeigt.

In der Mitte des Raums sind sternförmig fünf kleine Arbeitsplätze angeordnet, die jeweils von Trennwänden umgeben sind. Hier sitzen die Kinder, wenn sie ihren «Arbeitsplan» bearbeiten: rechnen, Sprachen lernen, zeichnen. Der Plan wird jeden Morgen festgelegt; ebenso die Zeitfenster für die einzelnen Aufgaben. Alles ist klar strukturiert: Nummer 1, Rechnen, daneben ein Zeitsymbol, das 20 Minuten anzeigt. Auf dem Tisch steht ein Timer, der signalisiert, wann die Zeit um ist. Neben dem Timer liegt ein Gehörschutz, unter dem Pult links hat jede Schublade ihren Zweck. An erhöhter Stelle ist ein Lämpchen: Wenn ein Kind den Rat einer Lehrerin braucht, schaltet es das Licht ein. Petra Baeschlin:
«Viele Kinder, die von Autismus betroffen sind, brauchen ganz klare Strukturen und Ruhe.»

So sei auch Wochen im Voraus angekündigt worden, dass «zwei Männer von der Zeitung» kommen werden. Die Betreuung ist sehr intensiv: Zwei Lehrerinnen kümmern sich im Schnitt um fünf Kinder. Wenn einem Kind alles zu viel wird, kann es der Lehrerin einen Stern übergeben, was bedeutet, dass sich das Kind in ein Häuschen mit Matratze zurückziehen kann und zehn Minuten nicht gestört wird.

Pastellfarbene Wände, akribische Menüpläne
Potenzielle Störungen gibt es viele: Baulärm von draussen, Lärm von anderen Kindern, grelles Licht. Die Wandfarben sind in Pastellfarben gehalten. Und die herbstliche Fensterdeko, von den Kindern gefertigte farbige Laubblätter, wird erst ersetzt, wenn es mit den Kindern besprochen wurde.

Ein wichtiger Bestandteil der Werkstatt, die als Tagesschule geführt wird, ist auch das Kochen und Essen. «Es gibt autistische Menschen, die zum Beispiel vorübergehend nichts Weisses essen», sagt Petra Baeschlin. Hierzu werde mit den Eltern akribisch abgesprochen, was den Kindern nicht bekommt – und was sie leistungsfähiger macht. «Ein Schüler macht eine Diät, seither hat er spürbar mehr Energie und er ist konzentrationsfähiger.»

Dass die Kinder ihren festen Rahmen brauchen, zeigt sich auch an den Wochenplänen. Mittwochs geht es ins Hallenbad, donnerstags in den Wald. Die Unterschiede zur Regelschule sind frappant. «Manche Kinder mit ASS kommen mit der lebhaften Atmosphäre und den vielen Übergängen besser klar», sagt Baeschlin, die ausgebildete Heilpädagogin ist. Für Kinder, die weder in der Regelschule noch in der Sonderschule adäquat gefördert werden können, ist die Lernwerkstatt die einzige Alternative.

Auch Emotionen lesen will gelernt sein
Einige Schüler mit ASS haben Mühe mit Lesen; nicht nur die Schrift, sondern auch Emotionen. In der Lernwerkstatt wird im Rahmen des Sozialtrainings zum Beispiel auch geübt, wie man auf wütende oder lächelnde Mitmenschen reagiert. Zahlreiche Bilder mit Emotionsbeispielen zieren die Wände in den Schulzimmern. Überhaupt wird viel mit Symbolen und Bildern gearbeitet. Das setzt bei den Mitarbeitern viel voraus, wie Petra Baeschlin erklärt:

«Es braucht nicht nur die didaktischen Fähigkeiten, sondern auch eine innere Ruhe und Geduld. Und den Willen, sich voll und ganz auf die Kinder einzulassen.»
Das Ziel ist in der Lernwerkstatt dasselbe wie in der übrigen Sonderschule und in den Regelschulen: Die Kinder auf die Reintegration oder das Berufsleben vorbereiten. «Dazu braucht es aber auch die Vorbereitung der künftigen Lehrmeister», sagt Baeschlin. Die ASS-Lernwerkstatt berät auch Schulen und Lehrbetriebe. «Oft wird gesagt, die Kinder müssen sich an die Gesellschaft anpassen. In unserem Fall braucht es vor allem das Gegenteil.» Immer mit dabei sind auch die Eltern; sie wüssten am besten, was in den Kindern vorgeht. Die Erfolgschancen bei der beruflichen Integration sind naturgemäss höher, wenn es sich um einen autismusfreundlichen Arbeitsplatz handelt. «Auch ein lebhafteres Umfeld ist nicht ausgeschlossen», sagt Baeschlin.

Die zwei Oberstufenschüler mit ASS, darunter der eingangs erwähnte Knabe, sind derzeit versuchsweise in der Lernwerkstatt. Die definitive Aufnahme der ASS-Lernwerkstatt in den Leistungsauftrag des Schul- und Wohnzentrum Malters erfolgt auf das neue Jahr.


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