3. November 2019

Narrativer Geschichtsunterricht


Der Geschichtsunterricht in der Volksschule hat einen schweren Stand. Eigentlich würde gemäss Hanspeter Amstutz ein lebendiger Geschichtsunterricht eine Grundlage für das Verstehen wesentlicher Zusammenhänge schaffen. Der ehemalige Sekundarlehrer bricht im Interview eine Lanze für den narrativen Unterricht. Andreas Stadelmann und Regula Argast, Dozierende für Fachdidaktik Sekundarstufe 1 an der PHBern, befürworten narrativen Unterricht, plädieren aber in ihrem Beitrag für einen erweiterten und der Kompetenzorientierung entsprechenden Begriff von Erzählen.
Hanspeter Amstutz setzt sich für einen besseren Geschichtsunterricht ein, Bild: Screenshot SRF



In einem Gastkommentar für die NZZ haben Sie geschrieben: Wenn unserer Jugend magerer Geschichtsunterricht vorgesetzt werde, dürfe uns das nicht länger egal sein. Was führt Sie zur Auffassung, der Unterricht sei mager?
Kurz gesagt haben wir im Geschichtsunterricht zu wenig Zeit und Tiefe. Lehrpersonen sind unsicher, was sie noch behandeln sollen. In der Primarschule ist die Geschichte der alten Eidgenossenschaft unbeliebt geworden. Im Zyklus 3 ist die Lektionendotation das Problem. Eine Wochenlektion Geschichte ist viel zu wenig. Der Lehrplan 21 gewährt ja viele Freiräume, hingegen fehlt die Orientierung. Den SchülerInnen fehlt Grundlagenwissen. Sie hungern nach Geschichten und starken Bildern. Akademische Quellentexte zu lesen, ist zeitaufwendig. Wir müssen den Lehrpersonen wieder Mut machen, Geschichte auch narrativ zu unterrichten.

Welche Konsequenzen hat der von Ihnen als mager eingeschätzte Geschichtsunterricht auf unsere Gesellschaft?
In einer direkten Demokratie sollte man geschichtliche Zusammenhänge kennen. Viele zentrale geschichtliche Ereignisse, etwa die Industrialisierung oder soziale Entwicklungen, haben Auswirkungen bis heute. Seriöse Abstimmungen ohne Grundlagenwissen sind nicht möglich.

Sie kritisieren die fehlende Zeit für das Fach Geschichte. Andere Fachbereiche tun dies auch. Was, denken Sie, müsste man streichen, um mehr Zeit freizuschaufeln?
Ich kritisiere die Frühfremdsprachen. Ich mag Französisch, unterrichtete es selber. Aber die Lektionentafel, insbesondere auf Primarschulstufe, ist überladen. Um eine Fremdsprache kompetent unterrichten zu können, ist grosser Aufwand nötig. Dies geht auf Kosten anderer Fächer. Die Realien kommen unter Druck.

Im Lehrplan 21 gibt es das Fach Geschichte nicht mehr. Der neue Fächerkomplex heisst nun Natur, Mensch, Gesellschaft. Geschichte ist in Räume, Zeiten, Gesellschaft RZG integriert, zusammen mit Geografie. Was sagen Sie zur Zusammenfassung?
Es widerspricht jeder Wissenschaftlichkeit, verschiedene Fächer zu einem solchen Komplex zu vermengen. Die Verbindung der Fächer geschieht automatisch. RZG ist eine Kopfgeburt, ein zu intellektueller Ansatz.

«Dank dem neuen Sammelfach werden viel mehr Zusammenhänge zwischen Geografie und Geschichte hergestellt und erkannt. Die neuen Sammelfächer fördern generell das vernetzte und interdisziplinäre Denken und Handeln, sie behindern das Lernen von Bulimie-Wissen.» Was sagen auf diese These? Wenn ich Geschichte richtig vermittle, lehre ich kein Bulimie-Wissen, sondern ich sorge für Erlebnisse, Zusammenhänge. Und ich vermittle Fakten, die für Klarheit und Sicherheit sorgen. Diese These bringt nicht viel.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Geschichtsunterricht mit Lehrplan 21 zu stärken?
Die Grundkompetenzen im LP 21 können den Themen klar zugeordnet werden. Der LP 21 führt Themen auf, jedoch viel zu viele. Die Orientierung fehlt. Viele Lehrpersonen haben einen grossen Respekt, in das Fach einzutauchen. Ich habe kommentierte Folien ausgearbeitet, die als Grundlage für einen guten narrativen Geschichtsunterricht eingesetzt werden können. Auch habe ich Grundlagen für gute Hefteinträge erarbeitet. Meine Erfahrung zeigt mir, dass die SchülerInnen nach wie vor gerne Hefteinträge machen. Ich empfehle, dass die Pädagogischen Hochschulen sich vermehrt mit dem Konzept des narrativen Unterrichts auseinandersetzen. Selbstverständlich schliesst das andere Methoden resp. das analytische und forschende Lehren und Lernen nicht aus.

Geschichtsunterricht ist herausfordernd für Lehrpersonen, verlangt viel Wissen und die Fähigkeit, mehr Zusammenhänge zu erkennen als in anderen Fächern. Die Ausbildung muss entsprechend gut und tief sein. Die Zeit reicht aber an der PH nicht für alle Inhalte, die gefordert werden. Wie damit umgehen?
Erzählen zu können, ist eine Grundkompetenz einer guten Lehrperson. Am Beispiel Geschichte kann narrativer Unterricht erarbeitet werden, das kommt anderen Fächern, insbesondere dem Deutschunterricht, zugute. Spannungslinien mit ein wenig Drama im narrativen Unterricht begeistern insbesondere auch Buben, die heute teilweise zu kurz kommen. Narrativer Unterricht ist sprachfördernd und kulturfördernd.

Neue Themen – Integration, Umgang mit Heterogenität, Digitalisierung / Medien und Informatik – beanspruchen auch viel Zeit in der Grundausbildung. Wie damit umgehen?
Wer Zusammenhänge versteht, verfällt weniger dem Populismus. Daher müssen das Fach Geschichte und die anderen kulturellen Fächer gestärkt werden. Der Kampf für diese Fächer ist Sache der Lehrpersonen. Für die Digitalisierungskompetenzen gibt es genügend Lobbying.

Angenommen, Sie könnten die Schule nach Ihrem Gutdünken verändern. Was würden Sie sofort umsetzen?
Ich würde nicht viel verändern in Bezug auf meinen Geschichtsunterricht der letzten Jahre. Der tägliche Kontakt mit den SchülerInnen ist wichtig, auch für die Beziehung. Ich habe als Lehrperson den Spielraum immer voll ausgenutzt, damit die kulturellen Fächer sicher nicht zu kurz kommen. Grundsätzlich gilt für mich: Weniger aber gründlicher. Ich würde die Schule entschlacken. Das heisst aber nicht, dass es langweiliger werden muss. Ich plädiere für ein Zurück zum Wesentlichen. Dieses müsste in der Lehrplanrevision besser definiert werden. Mein Gefühl ist, dass die Schulpolitik stark von Versprechungen lebt. Und diese werden als Tatsachen verkauft.

Sie sind jetzt pensioniert. Wieso setzen Sie sich nach wie vor mit so viel Herzblut für die Bildungsqualität ein?
Mir macht die Schule wahnsinnig viel Spass. Und sie ist mir extrem wichtig. Ich möchte weitergeben, was es wert ist, weiterzugeben. Weil es sonst verloren geht. Mich treibt die Frage um, welche Werte die Schule vermitteln soll. Ich möchte Lehrpersonen ermutigen und entlasten. Es gibt zentrale Bereiche, in denen man die Kinder packen kann. Darum müssen wir Lehrpersonen ringen.

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Andreas Stadelmann und Regula Argast, Dozierende für Fachdidaktik Sekundarstufe 1 an der PHBern, befürworten narrativen Unterricht, plädieren aber in ihrem Beitrag für einen erweiterten und der Kompetenzorientierung entsprechenden Begriff von Erzählen.

Im Kanton Bern wird seit August 2018 der Lehrplan 21 ab der 7. Klasse stufenweise eingeführt. In Anlehnung an internationale Entwicklungen in Bildungsforschung und Bildungspolitik vertritt der Lehrplan 21 ein konstruktivistisches Verständnis von schulischen Lehr-Lernprozessen. Dabei stehen die kognitive Aktivierung der SchülerInnen und die konstruktive Unterstützung ihrer Lernprozesse im Zentrum. Ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt des neuen Lehrplans bildet denn auch die Kompetenzorientierung. Dadurch sollen die SchülerInnen befähigt werden, Wissen und Können aufzubauen, um auch komplexe Aufgaben selbständig zu bewältigen.

Mit Prozessen des Wandels gehen immer auch Fragen einher: War es bisher nicht besser? Wird uns mit der Kompetenzorientierung alter Wein in neuen Schläuchen verkauft? Gaukeln die neuen Sammelfächer wie «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) Interdisziplinarität vor, während sie in Wirklichkeit Instrumente zur Reduktion der Stundentafel der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer sind?

Chancen der Interdisziplinarität
Vor dem Hintergrund des Lehrplans 21 sehen auch wir uns in der Ausbildung zukünftiger GeschichtslehrerInnen vor vielfältige Herausforderungen gestellt. Während der bernische Lehrplan 95 im Rahmen des Fachbereichs «NMM» ausdrücklich übergreifende (interdisziplinäre) Themenfelder vorsah, sind die acht Kompetenzbereiche des Fachbereichs RZG im Lehrplan 21 in vier geografische und vier historische Bereiche getrennt. Das Ziel, mit Interdisziplinarität vernetztes und problemorientiertes Denken zu fördern, ist damit nicht angelegt. Auch gibt der neue Lehrplan kaum Hinweise auf eine interdisziplinäre Didaktik. Wir sind jedoch überzeugt von den Chancen der Interdisziplinarität und versuchen der interdisziplinären Tradition des auslaufenden Lehrplans Rechnung zu tragen. So bieten wir in der Ausbildung mehrere interdisziplinäre RZG-Veranstaltungen an.

Exemplarisches Lernen
Weiter bedeutet die neue Stundentafel eine Einbusse für den Geografie- und Geschichtsunterricht von bis zu 30% bei gleichzeitig mehr ausgewiesenen verbindlichen Inhalten. Wir versuchen daher in der Ausbildung den Studierenden Möglichkeiten und Chancen des exemplarischen Lernens aufzuzeigen, die auch die neuen RZG-Lehrmittel bereithalten. Exemplarische Themenwahl darf nicht willkürlich geschehen und idealerweise im Zusammenspiel mit Fragen aus der unmittelbaren Lebenswelt der SchülerInnen. Beispiele dafür gibt es zahlreiche: der Frauenstreik vom 14. Juni 2019, die Wahl- und Abstimmungspropaganda schweizerischer Parteien, der Umgang mit Migration und Integration, die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht in der Schweiz wie die Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und vieles mehr.

Die bildungspolitische Wende bringt aber auch Chancen. Gerade die Kompetenzorientierung kommt der Forderung nach einem narrativen Geschichtsunterricht entgegen. Geschichte lebt und wird lebendig durch Geschichten. Daher legen wir Wert darauf, dass die Studierenden lernen, narrative Elemente in den Geschichtsunterricht einzubauen, die dem Anspruch der Multiperspektivität gerecht werden. SchülerInnengerechte Erzählungen mit Kreide und Wandtafel oder entlang von Bildern bedürfen Übung und Erfahrung und können in der Ausbildung kaum abschliessend erworben, aber die Freude daran kann geweckt werden.

Sich in der Welt orientieren
In der heutigen Geschichtsdidaktik geht Narrativität im Sinne des verstorbenen Didaktikers Karl-Ernst Jeismann aber über diese enger gefasste Bedeutung von historischem Erzählen hinaus. So definierte Jeismann das historische Lernen ganz grundsätzlich als einen «Prozess der Sinnbildung über Zeiterfahrung durch historisches Erzählen (…), in dem die Kompetenzen zu diesem Erzählen entstehen und sich entwickeln». Die SchülerInnen sollen im Geschichtsunterricht also lernen, historische Fragen zu verstehen und selbst zu formulieren, Antworten aus Quellen, Darstellungen und Zeitzeugeninterviews zu erarbeiten, kritisch mit geschichtskulturellen Manifestationen wie historischen Spielfilmen oder Comics umzugehen, historische Begriffe und Zeitabschnitte zu fassen und – schliesslich – die historischen Erkenntnisse auf die Einschätzung der Gegenwart und das eigene Handeln zu beziehen. Dies widerspricht der Forderung nach einem narrativen Unterricht nicht, legt diesem aber einen erweiterten und der Kompetenzorientierung entsprechenden Begriff von Narrativität zugrunde.

1 Kommentar:

  1. "Exemplarische Themenwahl darf nicht willkürlich geschehen und idealerweise im Zusammenspiel mit Fragen aus der unmittelbaren Lebenswelt der SchülerInnen. Beispiele dafür gibt es zahlreiche: der Frauenstreik vom 14. Juni 2019, die Wahl- und Abstimmungspropaganda schweizerischer Parteien, der Umgang mit Migration und Integration, die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht in der Schweiz wie die Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und vieles mehr."

    Viele dieser Themen sind Galaxien entfernt von der unmittelbaren Lebenswelt der Kinder. Wo leben diese PH-Theoretiker? Auch mal selbst unterrichtet? Ziemlich entlarvend, was hier mit einem Pathos der Wissenschaftlichkeit gesagt wird. Vergessen wir ob all der Quellenstudien, Comics und historischen Spielfilme nicht, dass die Lektionenzahl drastisch reduziert wurde.

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