Der
Geschichtsunterricht in der Volksschule hat einen schweren Stand. Eigentlich
würde gemäss Hanspeter Amstutz ein lebendiger Geschichtsunterricht eine
Grundlage für das Verstehen wesentlicher Zusammenhänge schaffen. Der ehemalige
Sekundarlehrer bricht im Interview eine Lanze für den narrativen Unterricht. Andreas
Stadelmann und Regula Argast, Dozierende für Fachdidaktik Sekundarstufe 1 an
der PHBern, befürworten narrativen Unterricht, plädieren aber in ihrem Beitrag
für einen erweiterten und der Kompetenzorientierung entsprechenden Begriff von
Erzählen.
Hanspeter Amstutz setzt sich für einen besseren Geschichtsunterricht ein, Bild: Screenshot SRF
In einem Gastkommentar für die NZZ haben Sie
geschrieben: Wenn unserer Jugend magerer Geschichtsunterricht vorgesetzt werde,
dürfe uns das nicht länger egal sein. Was führt Sie zur Auffassung, der
Unterricht sei mager?
Kurz
gesagt haben wir im Geschichtsunterricht zu wenig Zeit und Tiefe. Lehrpersonen
sind unsicher, was sie noch behandeln sollen. In der Primarschule ist die
Geschichte der alten Eidgenossenschaft unbeliebt geworden. Im Zyklus 3 ist die
Lektionendotation das Problem. Eine Wochenlektion Geschichte ist viel zu wenig.
Der Lehrplan 21 gewährt ja viele Freiräume, hingegen fehlt die Orientierung.
Den SchülerInnen fehlt Grundlagenwissen. Sie hungern nach Geschichten und
starken Bildern. Akademische Quellentexte zu lesen, ist zeitaufwendig. Wir
müssen den Lehrpersonen wieder Mut machen, Geschichte auch narrativ zu
unterrichten.
Welche Konsequenzen hat der von Ihnen als mager
eingeschätzte Geschichtsunterricht auf unsere Gesellschaft?
In einer
direkten Demokratie sollte man geschichtliche Zusammenhänge kennen. Viele
zentrale geschichtliche Ereignisse, etwa die Industrialisierung oder soziale
Entwicklungen, haben Auswirkungen bis heute. Seriöse Abstimmungen ohne
Grundlagenwissen sind nicht möglich.
Sie kritisieren die fehlende Zeit für das Fach
Geschichte. Andere Fachbereiche tun dies auch. Was, denken Sie, müsste man
streichen, um mehr Zeit freizuschaufeln?
Ich
kritisiere die Frühfremdsprachen. Ich mag Französisch, unterrichtete es selber.
Aber die Lektionentafel, insbesondere auf Primarschulstufe, ist überladen. Um
eine Fremdsprache kompetent unterrichten zu können, ist grosser Aufwand nötig.
Dies geht auf Kosten anderer Fächer. Die Realien kommen unter Druck.
Im Lehrplan 21 gibt es das Fach Geschichte
nicht mehr. Der neue Fächerkomplex heisst nun Natur, Mensch, Gesellschaft.
Geschichte ist in Räume, Zeiten, Gesellschaft RZG integriert, zusammen mit
Geografie. Was sagen Sie zur Zusammenfassung?
Es
widerspricht jeder Wissenschaftlichkeit, verschiedene Fächer zu einem solchen
Komplex zu vermengen. Die Verbindung der Fächer geschieht automatisch. RZG ist
eine Kopfgeburt, ein zu intellektueller Ansatz.
«Dank dem neuen Sammelfach werden viel mehr
Zusammenhänge zwischen Geografie und Geschichte hergestellt und erkannt. Die
neuen Sammelfächer fördern generell das vernetzte und interdisziplinäre Denken
und Handeln, sie behindern das Lernen von Bulimie-Wissen.» Was sagen auf diese
These?
Wenn ich Geschichte richtig vermittle, lehre ich kein Bulimie-Wissen, sondern
ich sorge für Erlebnisse, Zusammenhänge. Und ich vermittle Fakten, die für
Klarheit und Sicherheit sorgen. Diese These bringt nicht viel.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, den
Geschichtsunterricht mit Lehrplan 21 zu stärken?
Die
Grundkompetenzen im LP 21 können den Themen klar zugeordnet werden. Der LP 21
führt Themen auf, jedoch viel zu viele. Die Orientierung fehlt. Viele
Lehrpersonen haben einen grossen Respekt, in das Fach einzutauchen. Ich habe
kommentierte Folien ausgearbeitet, die als Grundlage für einen guten narrativen
Geschichtsunterricht eingesetzt werden können. Auch habe ich Grundlagen für
gute Hefteinträge erarbeitet. Meine Erfahrung zeigt mir, dass die SchülerInnen
nach wie vor gerne Hefteinträge machen. Ich empfehle, dass die Pädagogischen
Hochschulen sich vermehrt mit dem Konzept des narrativen Unterrichts
auseinandersetzen. Selbstverständlich schliesst das andere Methoden resp. das
analytische und forschende Lehren und Lernen nicht aus.
Geschichtsunterricht ist herausfordernd für
Lehrpersonen, verlangt viel Wissen und die Fähigkeit, mehr Zusammenhänge zu
erkennen als in anderen Fächern. Die Ausbildung muss entsprechend gut und tief
sein. Die Zeit reicht aber an der PH nicht für alle Inhalte, die gefordert
werden. Wie damit umgehen?
Erzählen
zu können, ist eine Grundkompetenz einer guten Lehrperson. Am Beispiel
Geschichte kann narrativer Unterricht erarbeitet werden, das kommt anderen
Fächern, insbesondere dem Deutschunterricht, zugute. Spannungslinien mit ein
wenig Drama im narrativen Unterricht begeistern insbesondere auch Buben, die
heute teilweise zu kurz kommen. Narrativer Unterricht ist sprachfördernd und
kulturfördernd.
Neue Themen – Integration, Umgang mit
Heterogenität, Digitalisierung / Medien und Informatik – beanspruchen auch viel
Zeit in der Grundausbildung. Wie damit umgehen?
Wer
Zusammenhänge versteht, verfällt weniger dem Populismus. Daher müssen das Fach
Geschichte und die anderen kulturellen Fächer gestärkt werden. Der Kampf für
diese Fächer ist Sache der Lehrpersonen. Für die Digitalisierungskompetenzen
gibt es genügend Lobbying.
Angenommen, Sie könnten die Schule nach Ihrem
Gutdünken verändern. Was würden Sie sofort umsetzen?
Ich würde
nicht viel verändern in Bezug auf meinen Geschichtsunterricht der letzten
Jahre. Der tägliche Kontakt mit den SchülerInnen ist wichtig, auch für die
Beziehung. Ich habe als Lehrperson den Spielraum immer voll ausgenutzt, damit
die kulturellen Fächer sicher nicht zu kurz kommen. Grundsätzlich gilt für
mich: Weniger aber gründlicher. Ich würde die Schule entschlacken. Das heisst
aber nicht, dass es langweiliger werden muss. Ich plädiere für ein Zurück zum
Wesentlichen. Dieses müsste in der Lehrplanrevision besser definiert werden.
Mein Gefühl ist, dass die Schulpolitik stark von Versprechungen lebt. Und diese
werden als Tatsachen verkauft.
Sie sind jetzt pensioniert. Wieso setzen Sie
sich nach wie vor mit so viel Herzblut für die Bildungsqualität ein?
Mir macht
die Schule wahnsinnig viel Spass. Und sie ist mir extrem wichtig. Ich möchte
weitergeben, was es wert ist, weiterzugeben. Weil es sonst verloren geht. Mich
treibt die Frage um, welche Werte die Schule vermitteln soll. Ich möchte
Lehrpersonen ermutigen und entlasten. Es gibt zentrale Bereiche, in denen man
die Kinder packen kann. Darum müssen wir Lehrpersonen ringen.
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Andreas
Stadelmann und Regula Argast, Dozierende für Fachdidaktik Sekundarstufe 1 an
der PHBern, befürworten narrativen Unterricht, plädieren aber in ihrem Beitrag
für einen erweiterten und der Kompetenzorientierung entsprechenden Begriff von
Erzählen.
Im Kanton
Bern wird seit August 2018 der Lehrplan 21 ab der 7. Klasse stufenweise
eingeführt. In Anlehnung an internationale Entwicklungen in Bildungsforschung
und Bildungspolitik vertritt der Lehrplan 21 ein konstruktivistisches
Verständnis von schulischen Lehr-Lernprozessen. Dabei stehen die kognitive
Aktivierung der SchülerInnen und die konstruktive Unterstützung ihrer
Lernprozesse im Zentrum. Ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt des neuen Lehrplans
bildet denn auch die Kompetenzorientierung. Dadurch sollen die SchülerInnen
befähigt werden, Wissen und Können aufzubauen, um auch komplexe Aufgaben
selbständig zu bewältigen.
Mit
Prozessen des Wandels gehen immer auch Fragen einher: War es bisher nicht
besser? Wird uns mit der Kompetenzorientierung alter Wein in neuen Schläuchen
verkauft? Gaukeln die neuen Sammelfächer wie «Räume, Zeiten, Gesellschaften»
(RZG) Interdisziplinarität vor, während sie in Wirklichkeit Instrumente zur
Reduktion der Stundentafel der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen
Fächer sind?
Chancen der Interdisziplinarität
Vor dem
Hintergrund des Lehrplans 21 sehen auch wir uns in der Ausbildung zukünftiger
GeschichtslehrerInnen vor vielfältige Herausforderungen gestellt. Während der
bernische Lehrplan 95 im Rahmen des Fachbereichs «NMM» ausdrücklich
übergreifende (interdisziplinäre) Themenfelder vorsah, sind die acht
Kompetenzbereiche des Fachbereichs RZG im Lehrplan 21 in vier geografische und
vier historische Bereiche getrennt. Das Ziel, mit Interdisziplinarität
vernetztes und problemorientiertes Denken zu fördern, ist damit nicht angelegt.
Auch gibt der neue Lehrplan kaum Hinweise auf eine interdisziplinäre Didaktik.
Wir sind jedoch überzeugt von den Chancen der Interdisziplinarität und
versuchen der interdisziplinären Tradition des auslaufenden Lehrplans Rechnung
zu tragen. So bieten wir in der Ausbildung mehrere interdisziplinäre RZG-Veranstaltungen
an.
Exemplarisches Lernen
Weiter bedeutet
die neue Stundentafel eine Einbusse für den Geografie- und Geschichtsunterricht
von bis zu 30% bei gleichzeitig mehr ausgewiesenen verbindlichen Inhalten. Wir
versuchen daher in der Ausbildung den Studierenden Möglichkeiten und Chancen
des exemplarischen Lernens aufzuzeigen, die auch die neuen RZG-Lehrmittel
bereithalten. Exemplarische Themenwahl darf nicht willkürlich geschehen und
idealerweise im Zusammenspiel mit Fragen aus der unmittelbaren Lebenswelt der
SchülerInnen. Beispiele dafür gibt es zahlreiche: der Frauenstreik vom 14. Juni
2019, die Wahl- und Abstimmungspropaganda schweizerischer Parteien, der Umgang
mit Migration und Integration, die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht in der
Schweiz wie die Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und
vieles mehr.
Die
bildungspolitische Wende bringt aber auch Chancen. Gerade die
Kompetenzorientierung kommt der Forderung nach einem narrativen
Geschichtsunterricht entgegen. Geschichte lebt und wird lebendig durch
Geschichten. Daher legen wir Wert darauf, dass die Studierenden lernen,
narrative Elemente in den Geschichtsunterricht einzubauen, die dem Anspruch der
Multiperspektivität gerecht werden. SchülerInnengerechte Erzählungen mit Kreide
und Wandtafel oder entlang von Bildern bedürfen Übung und Erfahrung und können
in der Ausbildung kaum abschliessend erworben, aber die Freude daran kann
geweckt werden.
Sich in der Welt orientieren
In der
heutigen Geschichtsdidaktik geht Narrativität im Sinne des verstorbenen
Didaktikers Karl-Ernst Jeismann aber über diese enger gefasste Bedeutung von
historischem Erzählen hinaus. So definierte Jeismann das historische Lernen
ganz grundsätzlich als einen «Prozess der Sinnbildung über Zeiterfahrung durch
historisches Erzählen (…), in dem die Kompetenzen zu diesem Erzählen entstehen
und sich entwickeln». Die SchülerInnen sollen im Geschichtsunterricht also
lernen, historische Fragen zu verstehen und selbst zu formulieren, Antworten
aus Quellen, Darstellungen und Zeitzeugeninterviews zu erarbeiten, kritisch mit
geschichtskulturellen Manifestationen wie historischen Spielfilmen oder Comics
umzugehen, historische Begriffe und Zeitabschnitte zu fassen und – schliesslich
– die historischen Erkenntnisse auf die Einschätzung der Gegenwart und das
eigene Handeln zu beziehen. Dies widerspricht der Forderung nach einem
narrativen Unterricht nicht, legt diesem aber einen erweiterten und der
Kompetenzorientierung entsprechenden Begriff von Narrativität zugrunde.
"Exemplarische Themenwahl darf nicht willkürlich geschehen und idealerweise im Zusammenspiel mit Fragen aus der unmittelbaren Lebenswelt der SchülerInnen. Beispiele dafür gibt es zahlreiche: der Frauenstreik vom 14. Juni 2019, die Wahl- und Abstimmungspropaganda schweizerischer Parteien, der Umgang mit Migration und Integration, die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht in der Schweiz wie die Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen und vieles mehr."
AntwortenLöschenViele dieser Themen sind Galaxien entfernt von der unmittelbaren Lebenswelt der Kinder. Wo leben diese PH-Theoretiker? Auch mal selbst unterrichtet? Ziemlich entlarvend, was hier mit einem Pathos der Wissenschaftlichkeit gesagt wird. Vergessen wir ob all der Quellenstudien, Comics und historischen Spielfilme nicht, dass die Lektionenzahl drastisch reduziert wurde.