Es war ein Zittersieg. Am Schluss gaben wenige Stimmen den
Ausschlag dafür, dass Sandra Locher Benguerel (sp.) anstelle des langjährigen
Bündner SVP-Nationalrats Heinz Brand ins Bundeshaus zieht. Die 44-jährige
Primarlehrerin aus Chur steht für eine politische Entwicklung, die angesichts
der grünen Welle etwas untergegangen ist: Im neuen Parlament werden nicht nur
mehr Grüne und mehr Frauen sitzen, sondern auch doppelt so viele Politikerinnen
mit pädagogischem Hintergrund. Ihre Vertretung ist von mindestens sechs auf
zwölf gestiegen. Mit Andrea Gmür-Schönenberger (cvp.) gibt es in der kommenden
Legislatur auch mindestens eine Lehrervertreterin im Ständerat, eventuell folgt
nach dem zweiten Wahlgang noch Mathias Reynard (sp.).
Alle Deutschschweizer Schüler sollen ins Welschland, NZZaS, 3.11. von René Donzé
Die Lehrerlobby wächst nicht nur zahlenmässig, sondern auch
im politischen Gewicht. So hat der Lehrerverband Schweiz (LCH) mit Locher neu
eine direkte Vertretung im Parlament. Sie ist als Präsidentin des
Lehrerverbands Graubünden auch in der Präsidentenkonferenz des Schweizer
Dachverbandes: Zudem ist sie befreundet mit LCH-Präsidentin Dagmar Rösler.
«Wir haben nun einen direkten Draht in den Nationalrat», freut sich Rösler. «So
können wir unsere Anliegen noch besser in die Politik einbringen.» Damit dies
auch gelingt, schwebt Locher eine parteiübergreifende Bildungsallianz vor, der
möglichst alle Lehrer im Bundeshaus angehören sollen.
Eine Idee, die bei den meisten neu gewählten Lehrern und
auch bei jenen, die schon im Rat sind, gut ankommt. Wobei der ehemalige
Primarlehrer und langjährige SP-Nationalrat Matthias Aebischer darauf hinweist,
dass es bereits einige Bildungsallianzen im Rat gibt (für Weiterbildung,
Berufsbildung, Hochschulen, Kinder und Jugendliche), denen die Neuen beitreten
können.
Röstigraben überwinden
Die Lehrerinnen und Lehrer im Rat kommen aus
unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Lagern und werden nicht
immer als eine Stimme auftreten: Vom konservativen Nidwaldner SVP-Nationalrat
Peter Keller über den neuen Urner CVP-Nationalrat Simon Stadler bis zur
Lehrergewerkschafterin Sandra Locher ist eine weite Spanne. In zwei Punkten
scheinen sich aber alle einig zu sein: Es braucht mehr Schüleraustausch über
die Sprachgrenzen. Und benachteiligte Kinder müssen bereits im Vorschulalter
gefördert werden. Beide Themen werden demnächst im Rat debattiert. Zentrale
Forderung der Lehrer ist, dass alle Kinder und Jugendlichen mindestens einmal
einen Sprachaufenthalt in einem anderen Landesteil absolvieren. Heute
verbringen bloss 25 Prozent eine bis drei Wochen, 14 Prozent mehr als drei
Wochen ennet dem Röstigraben.
Um diese Bilanz zu verbessern, will der Bundesrat künftig
mehr Geld investieren. In der Kulturbotschaft 2021 bis 2024, die demnächst ins
Parlament kommt, sind dafür 10 Millionen Franken eingestellt, das ist fünfmal
mehr als bisher. Dennoch genüge das nicht, um das Ziel zu erreichen, teilt die
zuständige Agentur des Bundes, Movetia, auf Anfrage mit. Noch immer liegt es
vor allem am Engagement der Lehrer und der Zahlungsbereitschaft von Kanton und
Gemeinden, ob ein Austausch stattfindet.
Das soll sich ändern, sagt Franziska Roth. «Dieses Heft gehört
in Bundeshände», fordert sie. Auch der neue Urner CVP-Nationalrat Simon Stadler
findet es sinnvoll, Sprachaufenthalte mehr zu fördern. Dies könnte auch über
Gutscheine für Sprachaufenthalte geschehen, sagt der Primarlehrer. Die
Schaffhauserin Martina Munz fordert als ersten Schritt, dass jeder angehende
Lehrer während dem Studium ein Praktikum in einer anderen Sprachregion
absolvieren muss.
Frühe Defizite vermeiden
Ein zweites Thema, das die Räte beschäftigen wird, ist die
frühe Förderung: Kinder, die in bildungsfernen oder fremdsprachigen Familien
aufwachsen, sollten noch vor dem Kindergarten erfasst und gefördert werden.
Nach Vorstössen von Aebischer und der Bildungskommission lässt der Bundesrat
abklären, wo Handlungsbedarf besteht. Aebischer ist überzeugt, dass alle
Parteien erkannt hätten, welche Folgen Defizite in der frühen Kindheit haben
können: «Wir werden versuchen, diese Defizite zu beheben.»
Zur Debatte steht etwa eine Anschubfinanzierung durch den
Bund, wie dies schon bei den Krippen der Fall ist. Für die nötige Mehrheit im
Rat braucht es Unterstützung der Mitte. Hier könnten die Lehrervertreter eine
wichtige Rolle spielen. «Es braucht eine gute frühe Förderung», sagt
EVP-Nationalrätin Lilian Studer. «Der Bund muss eine aktive Rolle einnehmen.»
Stadler würde zumindest punktuelle Frühförderung unterstützen: «Es darf aber
nicht zu einer Verschulung der ersten Lebensjahre kommen.»
Parlamentarier mit pädagogischem Flair
Sechs neue Parlamentarier sind oder waren Lehrer: Sandra
Locher Benguerel (sp.) ist Primarlehrerin und Präsidentin des
Lehrerverbands Graubünden. Der Urner Simon Stadler (cvp.) ist
gelernter Maurer und liess sich zum Primarlehrer ausbilden. Die
Aargauerin Lilian Studer (evp.) unterrichtet Textiles Werken,
und die Solothurnerin Franziska Roth (sp.) ist Heilpädagogin.
Ein kleines Pensum als Mathematiklehrer an der Schweizerischen Technischen
Fachschule hat der Zürcher Jörg Mäder (glp.). Die
Aargauerin Gabriela Suter (sp.) unterrichtete früher an einer
Kantonsschule. Bereits im Rat sassen folgende ehemalige Lehrer: Matthias
Aebischer (sp.) war Primarlehrer in Ligerz, Andrea
Gmür-Schönenberger (cvp.) unterrichtete an einem Gymnasium, Peter
Keller (svp.) lehrte auf Sekundarstufe und im Kollegium Stans, Martina
Munz (sp.) war Berufsschullehrerin, CVP-Präsident Gerhard
Pfister lehrte Philosophie und Deutsch in einer Privatschule. Noch
immer aktiv als Sekundarlehrer ist Mathias Reynard (sp.).
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