5. November 2019

Mehr Welschlandaufenthalte


Es war ein Zittersieg. Am Schluss gaben wenige Stimmen den Ausschlag dafür, dass Sandra Locher Benguerel (sp.) anstelle des langjährigen Bündner SVP-Nationalrats Heinz Brand ins Bundeshaus zieht. Die 44-jährige Primarlehrerin aus Chur steht für eine politische Entwicklung, die angesichts der grünen Welle etwas untergegangen ist: Im neuen Parlament werden nicht nur mehr Grüne und mehr Frauen sitzen, sondern auch doppelt so viele Politikerinnen mit pädagogischem Hintergrund. Ihre Vertretung ist von mindestens sechs auf zwölf gestiegen. Mit Andrea Gmür-Schönenberger (cvp.) gibt es in der kommenden Legislatur auch mindestens eine Lehrervertreterin im Ständerat, eventuell folgt nach dem zweiten Wahlgang noch Mathias Reynard (sp.).
Alle Deutschschweizer Schüler sollen ins Welschland, NZZaS, 3.11. von René Donzé


Die Lehrerlobby wächst nicht nur zahlenmässig, sondern auch im politischen Gewicht. So hat der Lehrerverband Schweiz (LCH) mit Locher neu eine direkte Vertretung im Parlament. Sie ist als Präsidentin des Lehrerverbands Graubünden auch in der Präsidentenkonferenz des Schweizer Dachverbandes: Zudem ist sie ­befreundet mit LCH-Präsidentin Dagmar Rösler. «Wir haben nun einen direkten Draht in den Nationalrat», freut sich Rösler. «So können wir unsere Anliegen noch besser in die Politik einbringen.» Damit dies auch gelingt, schwebt Locher eine parteiübergreifende Bildungsallianz vor, der möglichst alle Lehrer im Bundeshaus angehören sollen.

Eine Idee, die bei den meisten neu gewählten Lehrern und auch bei jenen, die schon im Rat sind, gut ankommt. Wobei der ehemalige Primarlehrer und langjährige SP-Nationalrat Matthias Aebischer darauf hinweist, dass es bereits einige Bildungsallianzen im Rat gibt (für Weiterbildung, Berufsbildung, Hochschulen, Kinder und Jugendliche), denen die Neuen beitreten können.

Röstigraben überwinden

Die Lehrerinnen und Lehrer im Rat kommen aus unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Lagern und werden nicht immer als eine Stimme auftreten: Vom konservativen Nidwaldner SVP-Nationalrat Peter Keller über den neuen Urner CVP-Nationalrat Simon Stadler bis zur Lehrergewerkschafterin Sandra Locher ist eine weite Spanne. In zwei Punkten scheinen sich aber alle einig zu sein: Es braucht mehr Schüleraustausch über die Sprachgrenzen. Und benachteiligte Kinder müssen bereits im Vorschulalter gefördert werden. Beide Themen werden demnächst im Rat debattiert. Zentrale Forderung der Lehrer ist, dass alle Kinder und Jugendlichen mindestens einmal einen Sprachaufenthalt in einem anderen Landesteil absolvieren. Heute verbringen bloss 25 Prozent eine bis drei Wochen, 14 Prozent mehr als drei Wochen ennet dem Röstigraben.
Um diese Bilanz zu verbessern, will der Bundesrat künftig mehr Geld investieren. In der Kulturbotschaft 2021 bis 2024, die demnächst ins Parlament kommt, sind dafür 10 Millionen Franken eingestellt, das ist fünfmal mehr als bisher. Dennoch genüge das nicht, um das Ziel zu erreichen, teilt die zuständige Agentur des Bundes, Movetia, auf Anfrage mit. Noch immer liegt es vor allem am Engagement der Lehrer und der Zahlungsbereitschaft von Kanton und Gemeinden, ob ein Austausch stattfindet.

Das soll sich ändern, sagt ­Franziska Roth. «Dieses Heft gehört in Bundeshände», fordert sie. Auch der neue Urner CVP-Nationalrat Simon Stadler findet es sinnvoll, Sprachaufenthalte mehr zu fördern. Dies könnte auch über Gutscheine für Sprachaufenthalte geschehen, sagt der Primarlehrer. Die Schaffhauserin Martina Munz fordert als ersten Schritt, dass jeder angehende Lehrer während dem Studium ein Praktikum in einer anderen Sprachregion absolvieren muss.

Frühe Defizite vermeiden

Ein zweites Thema, das die Räte beschäftigen wird, ist die frühe Förderung: Kinder, die in bildungsfernen oder fremdsprachigen Familien aufwachsen, sollten noch vor dem Kindergarten erfasst und gefördert werden. Nach Vorstössen von Aebischer und der Bildungskommission lässt der Bundesrat abklären, wo Handlungsbedarf besteht. Aebischer ist überzeugt, dass alle Parteien erkannt hätten, welche Folgen Defizite in der frühen Kindheit haben können: «Wir werden versuchen, diese Defizite zu beheben.»
Zur Debatte steht etwa eine Anschubfinanzierung durch den Bund, wie dies schon bei den Krippen der Fall ist. Für die nötige Mehrheit im Rat braucht es Unterstützung der Mitte. Hier könnten die Lehrervertreter eine wichtige Rolle spielen. «Es braucht eine gute frühe Förderung», sagt EVP-Nationalrätin Lilian Studer. «Der Bund muss eine aktive Rolle einnehmen.» Stadler würde zumindest punktuelle Frühförderung unterstützen: «Es darf aber nicht zu einer Verschulung der ersten Lebensjahre kommen.»

Parlamentarier mit pädagogischem Flair

Sechs neue Parlamentarier sind oder waren Lehrer: Sandra Locher Benguerel (sp.) ist Primarlehrerin und Präsidentin des Lehrerverbands Graubünden. Der Urner Simon Stadler (cvp.) ist gelernter Maurer und liess sich zum Primarlehrer ausbilden. Die Aargauerin Lilian Studer (evp.) unterrichtet Textiles Werken, und die Solothurnerin Franziska Roth (sp.) ist Heilpädagogin. Ein kleines Pensum als Mathematiklehrer an der Schweizerischen Technischen Fachschule hat der Zürcher Jörg Mäder (glp.). Die Aargauerin Gabriela Suter (sp.) unterrichtete früher an einer Kantonsschule. Bereits im Rat sassen folgende ehemalige Lehrer: Matthias Aebischer (sp.) war Primarlehrer in Ligerz, Andrea Gmür-Schönenberger (cvp.) unterrichtete an einem Gymnasium, Peter Keller (svp.) lehrte auf Sekundarstufe und im Kollegium Stans, Martina Munz (sp.) war Berufsschullehrerin, CVP-Präsident Gerhard Pfister lehrte Philosophie und Deutsch in einer Privatschule. Noch immer aktiv als Sekundarlehrer ist Mathias Reynard (sp.). 

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