20. November 2019

Mehr als die Hälfte geht nicht direkt in die Lehre


Ein paar tausend Lehrstellen sind unbesetzt geblieben, das Gymnasium ist begehrt wie eh und je, die Schulabgänger befinden sich insgesamt in einer komfortablen Situation: All diese Befunde haben Stefan Wolter nicht überrascht, als er die Resultate des neusten Nahtstellenbarometers studiert hat. Doch da war auch dieses Rätsel, vor dem der Bildungsforscher stand. Und für das Professor Wolter, als Direktor des Schweizerischen Instituts für Bildungsforschung ein renommierter Experte auf dem Gebiet, noch keine wirkliche Erklärung gefunden hat. 
Auf Umwegen in die Lehre, BZ Basel, 19.11. von Dominic Wirth


Etwas über 79000 neue Lehrlinge, das geht aus dem Nahtstellenbarometer des Bundes hervor, haben diesen Sommer bei einem Schweizer Unternehmen einen Lehrvertrag erhalten. Gleichzeitig gaben nur rund 36000 Sekundarschulabgänger an, eine Lehrstelle anzutreten. Woher kommen all die anderen, über rund 43000 Lehrlinge? Und was haben sie vor ihrem Lehrantritt gemacht, seit sie die obligatorische Schule verlassen haben? Das ist die Frage, die Bildungsforscher Wolter seither umtreibt. Sie hat sich zwar schon im letzten Jahr, als das Nahtstellenbarometer zum ersten Mal in dieser Form erhoben wurde, gestellt. Doch heuer ist die Zahl der Lehrstellen, die nicht von Schulabgängern angetreten werden, nochmals stark angestiegen.

Die Mär vom klassischen Bildungsweg
«Wir wussten zwar, dass bei weitem nicht jede Lehrstelle mit einem Schulabgänger besetzt wird», sagt Wolter. Doch dass heutzutage mehr als die Hälfte der Lehrlinge allem Anschein nach nicht den klassischen Bildungsweg–nach der obligatorischen Schule direkt in die Berufsbildung–gewählt hat, ist für den Bildungsforscher «eine grosse Überraschung. Dieses Phänomen ist uns bisher noch nicht so ins Auge gestochen.» Woher kommen also die 43000 Lehrlinge? Stefan Wolter sagt, das gelte es vertieft zu erforschen. Die eine oder andere Hypothese hat er indes. Ein Teil hat nach dem Abschluss der obligatorischen Schule zuerst ein Brückenangebot absolviert oder ein Zwischenjahr gemacht. 2018 entschieden sich rund 13000 Jugendliche dafür. Andere Neo-­Lehrlinge, vermutet Wolter, haben sich zuerst am Gymnasium versucht und sind dort gescheitert. Beim Rest dürfte es sich laut Wolter um Menschen handeln, die eine Zweitlehre antreten, weil sie den Beruf wechseln wollen–oder die eine weitere Ausbildung machen, um auf dem Arbeitsmarkt attraktiver zu werden. 

Bald dreht die Demografie-Kurve 
Insgesamt blieben diesen Sommer rund11000 Lehrstellen unbesetzt.88 Prozent der Firmen fanden einen Lehrling, das sind etwas mehr als im Vorjahr (86 Prozent). Insgesamt bestätigt sich auf dem Lehrstellenmarkt ein Bild, das schon länger gilt: viele Schulabgänger bekommen jene Lehrstelle, die sie wollen. Allerdings dürfte der Konkurrenzkampf aufgrund der demografischen Entwicklung bald härter werden–zur Freude der Schweizer Firmen.

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