24. November 2019

Immer mehr psychisch kranke Kinder


Für die blitzartig einschiessenden ­Kopfschmerzen bei Vanessa findet der Arzt keine Ursache. Das 13-jährige Mädchen ist kurzsichtig und hat ­Legasthenie. In der Schule kommt sie aber einigermassen mit. Ihre Mutter leidet unter starken Stimmungsschwan­kungen, der Vater ist ein Choleriker. Vor sechs Monaten war Vanessa mit ihrem Onkel in einen Autounfall verwickelt, der Onkel ist dabei gestorben. Das Mädchen kann mit niemandem darüber reden, sie hat nur einmal ihrer besten Freundin davon erzählt. Der Arzt schickt Vanessa für weitere Abklärungen zum Psychiater. Dieser diagnostiziert eine ­Somatisierungsstörung. Vereinfacht gesagt: Vanessa kann den Tod ihres Onkels nicht verarbeiten und reagiert mit Kopfschmerzen. Solche Fälle sind typisch für Kinder und Jugendliche – seelische Leiden führen bei ihnen oft zu körperlichen Symptomen. Und: Derartige Fälle sind nicht nur typisch, sondern auch sehr häufig. 
Immer mehr Kinder müssen zum Psychiater, Sonntagszeitung, 24.11. von Dominik Balmer


Eine neue Auswertung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) zeigt, wie dramatisch die Zahlen in den vergangenen Jahren hochgeschnellt sind. Beispielsweise bei den Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre, die sich in einer Psychiatrie­praxis behandeln liessen. Im Jahr 2006 waren es nur gerade 25 Kinder und Jugendliche pro 1000 Versicherte, 2017 bereits mehr als 41. Das ist ein Plus von 65 Prozent. 

Noch deutlicher zeigt sich der Effekt bei den Konsultationen in der ambulanten Spitalpsychiatrie. Von 2006 bis 2017 haben sich die Konsultationen bei den Kindern und Jugendlichen mehr als verdoppelt – die Gesundheitsstatistiker verzeichnen ein Plus von mehr als 120 Prozent. Bei manchen psychiatrischen Ambulatorien müssen die Eltern mittlerweile bis zu sechs Monate warten, um einen Termin für ihre Kinder zu bekommen.

Steigender Leistungsdruck ist eines der Hauptprobleme

Natürlich sind die Zahlen nicht nur ein schlechtes Zeichen. «Eltern, Lehrer und Angehörige schauen heute genauer hin, wie es den Kindern geht. Das ist positiv», so ­Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Luzer­ner Kinder- und ­Jugendpsychiatrie. Zumal auch das Angebot an Psychiatern und Psychologen gestiegen sei. «Früher gab es eine Dunkel­ziffer in der Statistik, diese ist ­heute sicher tiefer.» 

Da ist aber auch die andere Seite. Der enorme Anstieg innert weniger Jahre hat noch weitere Gründe. Weniger erfreuliche. Schweizer Kinder und Jugendliche sind zwar so gesund wie seit Jahrzehnten nicht mehr – allerdings gilt das nur für deren Körper. Ihre Seelen, die sind zunehmend krank.

Dagmar Pauli ist Chefärztin der universitären Zürcher Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als eines der Hauptprobleme bezeichnet sie den steigenden Schuldruck und die Leistungsanforderungen an die Kinder. Und die Schweiz ist keine Insel: Laut Pauli belegen internationale Studien, dass psychische Krankheiten wie Depressionen und Ängste bei Überforderung im Kindes- und Jugendalter auch in anderen Ländern häufiger diagnostiziert werden.

Für Bilke-Hentsch, Präsident der Vereinigung kinder- und jugendpsychiatrischer Chefärzte, ist die Digitalisierung einer der grossen Krankmacher. Der Arzt spricht von einem «immensen Risiko» für eine Gesellschaft. Die Digitalisierung löse bei den Erwachsenen «massive Unsicherheiten» aus. «Das überträgt sich auf die Kinder. Und sie sind letztlich nichts anderes als ein Seismograf ihrer Eltern.» Die Kinder würden sich fragen, ob sie in dieser Gesellschaft einmal überhaupt noch gebraucht würden. 

So weiss man heute: Die zunehmenden Burn-out-Diagnosen bei den Erwachsenen prägen ihre Kinder. Sie wachsen in einem stressig-labilen Umfeld auf. Die Kinder leiden mit und werden später selber krank. Diese Prägung kann so weit gehen, dass sie in deren Erbgut nachweisbar wird.

Immer gibt es jemanden, der besser oder schöner ist

Als zusätzlicher Brandbeschleuniger wirken die sozialen Medien und Netzwerke. Sie sind überall verfügbar – und erlauben ­ständige Vergleiche. Immer gibt es jemanden, der besser ist, schöner, mehr Follower hat und mehr Likes generiert. Für Kinderseelen sind solche Vergleiche und Dauerbewertungen toxisch. «Studien belegen, dass junge Menschen, die viel Zeit mit sozialen Medien verbringen, wesentlich depressiver sind als andere», sagt Bilke-Hentsch. 

Letztlich sind es mehrere Faktoren, die zu einer Krise oder einer Krankheit führen. Stets zentral aber ist die Familie. Alain Di Gallo, Direktor der universitären Klinik für Kinder und Jugendliche in Basel, sagt: «Die Hirnentwicklung und die starke Abhängigkeit aller Kinder und Jugendlichen von ihrem Beziehungsumfeld sind eng mit der Symptomatik psychiatrischer Krankheiten verbunden.» Als typi­sche Störungen bezeichnet er Trennungsängste, Einnässen, Magersucht und ADHS. 

Die Lebensverweigerer sind überall gescheitert 

Die Psychiater sehen aber auch immer wieder neue Phänomene. «Es gibt Lebensverweigerer, die sich abkapseln und nicht mehr zur Schule gehen wollen», sagt Psychiaterin Pauli. Dieser Schulabsentismus ist laut Pauli ein zunehmendes Problem. Es seien oft Buben betroffen, gerade in Kombination mit exzessivem Medienkonsum wie E-Sport-Games. Diese jungen Patienten sind überall gescheitert: in der Schule, im Sozialleben, in der Liebe. Was sie können, das Gamen, betreiben sie umso exzessiver.
In der Psychiatrie lernen die Kinder und Jugendlichen vereinfacht gesagt, wie sie ihre Probleme selber lösen können. Das soll sie wappnen für spätere Krisen. Manchmal klappt das ohne Medikamente, manchmal braucht es sie.

Dass es sich lohnt, sich so früh wie möglich mit der psychischen Gesundheit der Kinder zu ­befassen, ist unter Experten ein Konsens. Viele bei Kindern und Jugendlichen diagnostizierte Krankheiten würden im Erwachsenenleben fortbestehen, sagt Psychiater Di ­Gallo. Und rund die Hälfte dieser Störungen hätten ihren Ursprung vor dem 16. Lebensjahr.
Umso fataler sind seelische Leiden bei Kindern und Jugendlichen, weil sie Entwicklungsaufgaben hemmen: Für Babys und Kleinkinder sind das beispielsweise Laufen- und Sprechenlernen, bei Kindern und Jugendlichen das Einschulen, die erste Lehrstelle und die erste Liebesbeziehung. «Für Kinder gibt es keinen Neustart. Deshalb müssen wir früh intervenieren», sagt Bilke-Hentsch. 

Was für die Fachleute logisch klingt, sieht die Politik zuweilen anders. Der Spardruck auf die Psychiatrie ist immens. Dabei müsste das Gegenteil passieren, wie ­Pauli fordert. «Wir haben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie immer noch eine Unterversorgung. Wir ­können nicht sparen. Wir müssen gerade bei den frühen und ambulanten Hilfen ausbauen – und das ­kostet.»

«Wir haben ein ernstes Nachwuchsproblem»

Auch Bilke-Hentsch ist besorgt, dass sich wegen der steigenden Kosten der Verteilkampf weiter akzentuieren wird. «Wir riskieren, dass künftig 10 bis 20 Prozent ­aller Schweizer Kinder und ­Jugendlichen schlicht abgehängt werden.» Unter diesem hohen Druck verliere auch der Beruf des Psychiaters an Attraktivität. «Wir haben schweizweit ein akutes Finanzierungs- sowie ein ernstes Nachwuchsproblem, das wir zusammen mit der Politik dringend lösen müssen.» 

Die Geschichte von Vanessa findet letztlich ein gutes Ende. In ­psychotherapeutischen Sitzungen ­bewältigt sie die verdrängte Trauer und Wut. Sie besucht ein Legasthenietraining, lernt Entspannungstechniken, treibt Sport. Gleichzeitig erhalten ihre Eltern Unterstützung – und die Lehrer werden einbezogen. Nach drei ­Monaten bezeichnet der Therapeut die Lage als stabil. Die Kopfschmerzen sind weg.

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