Seit
Monaten zerbrechen sich einige der wichtigsten Bildungsvertreter des Landes den
Kopf darüber, was Schweizer Maturanden künftig können müssen. Bund und
Erziehungsdirektoren haben mit ihrer «Weiterentwicklung der gymnasialen
Maturität» eine Reform angestossen, die das Gymnasium verändern wird. Nebendem Lehrplan
und den einzelnen Fächern geht es auch darum, welche Faktoren den Lernerfolg
der Schüler beeinflussen. Dabei entzündet sich nun wieder eine alte Debatte: Wie
stark wirkt der Unterrichtsbeginn auf die Leistung der Jugendlichen?
Eltern, Lehrer
und Bildungsexperten streiten seit Jahren darüber, wann die Lektionen angesetzt
werden sollen. Der Unterricht am frühen Morgen ist für viele Jugendliche
Folter. Kaum in der Pubertät, mogeln sie sich jeden Tag durch die erste Schulstunde.
Die Augen sind zwar geöffnet, doch aufnehmen können sie nichts. Ihre innere Uhr
lässt es nicht zu. «An den Gymnasien verschärft sich das Problem»,sagt Lucius Hartmann,
PräsidentdesVereins der Schweizerischen Gymnasiallehrer. Der Weg an die
Kantonsschule ist für die meisten Jugendlichen deutlich länger als zur obligatorischen
Schulzeit.Wer um 7.30Uhr im Klassenzimmer sitzen muss, geht oft schon um 6.30 Uhr
aus dem Haus. Die Folge: zu wenig Schlaf, schlechte schulische Leistungen,
manchmal gar gesundheitliche Probleme.
Für Hartmann
ist deshalb klar: «Wir sollten über einen späteren Unterrichtsbeginn
diskutieren und die wissenschaftlichen Erkenntnisse einfliessen lassen.» In den
vergangenen Jahren haben zahlreiche Studien belegt, dass Kinder erfolgreicher
lernen und ausgeglichener sind, wenn die Schule später beginnt. Zudem greifen Jugendliche
weniger oft zu Nikotin, Koffein und Energydrinks. Schon eine kleine
Verschiebung des Unterrichtsbeginns mache einen Unterschied, sagen
Schlafforscher. Einige Ergebnisse sind alarmierend: Bereits 2016 stellte der
Jugendgesundheitsbericht der Stadt Bern massive Schlafdefizite fest. Er zeigte,
dass drei von vier Jugendlichen nicht genug schlafen.
Soll die Schule erst um 8 Uhr beginnen?
Auch die oberste
Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, hat sich mit den Ergebnissen der Studie auseinandergesetzt.
«Es ist erwiesen, dass viele Jugendliche Probleme in der ersten Stunde haben.»
Allerdings gelte es zu beachten, dass der Übergang ins Berufsleben später ohne
Probleme funktionieren müsse. Einen Unterrichtsbeginn um 8 Uhr sieht sie
deshalb als möglichen Kompromiss. Zurzeit herrschen wegen des föderalen Schulsystems
in den Kantonen und Gemeinden grosse Unterschiede. Die meisten starten zwischen
7.30Uhrund8.15Uhr.
Einige
Schulen haben bereits versucht, den Erkenntnissen aus der Schlafforschung
Rechnung zu tragen. So verschob eine Kantonsschule in St.Gallen den Start von
7.35 Uhr auf 7.55 Uhr. Allerdings sorgten die dadurch entstehenden kürzeren
Pausen und ein länger Schultag für Unmut – auch bei den Schülern. Der Kanton
Bern wiederum setzte das Konzept an zehn Schulen um, auch damit der öffentliche
Verkehr entlastet wird. Doch in Bern blieb es ebenfalls ein Problem, alle
Lektionen in den Tag zu packen, wenn der Unterricht später beginnt. Tatsächlich
ist die Unterrichtszeit an Schweizer Gymnasien im internationalen Vergleich
überdurchschnittlich hoch, wie Zahlen des europäischen Bildungsinformationsnetzwerks
Eurydice belegen. Während deutsche und französische Gymnasiasten wöchentlich 27
bis 32 Lektionen besuchen, sind es in der Schweiz zwischen 36 und 38. Das geht nur,
wenn man früh beginnt– oder grundlegend etwas ändert. Das könnte nun mit der
Reform gelingen. In den Gymnasien müsse zu viel Stoff in zu wenig Zeit unterrichtet
werden, sagt Gymnasiallehrer Hartmann. Er sieht deshalb zwei Möglichkeiten.
Entweder müsse die Gymizeit verlängert werden oder der Inhalt reduziert werden.
«Dann wäre es auch möglich, mit dem Unterricht später zu beginnen.»
Ein «Wundermittel» für alle Schüler wird gesucht
Das Thema
ist nicht nur in der Schweiz ein Dauerbrenner. Andere Länder wie England,
Schweden, aber auch Japan berücksichtigen die Ergebnisse der Schlafforschung stärker.
Dort beginnt die erste Lektion oft erst um 9 Uhr. Auch die USA ziehen nach: Vor
wenigen Wochen hat der Bundesstaat
Kalifornien
per Gesetz festgelegt, dass der Unterricht in den höheren Klassen nicht vor
8.30 Uhr beginnen darf. «Alle suchen nach einem schulischen Wundermittel, dass
Schülerinnen und Schüler gleichermassen – über Alter, Ethnie und Intelligenz
hinweg–nützt und die Leistung verbessert. Und das, ohne Geld zu kosten», sagt
der Senator, der das Gesetz mitverfasst hat.«Jetzt haben wir das Wundermittel.»
Hintergrund
der Verschiebung: Wenn man etwas Neues lernt und danach gut schläft, kann man diese
Dinge am nächsten Tag und auch später besser abrufen. Das Wissen wird während
man schläft vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis verschoben. Doch das gelingt
nicht immer. Einfache Rezepte, wie Jugendliche früher ins Bett zu schicken, funktionieren
nur bedingt. Einen starken Einfluss hat der Chronotyp jedes Menschen. Dabei gibt
es Eulen und Lerchen. Kinder wollen meist früh aufstehen, sie gehören zu den Lerchen.
Kaum in der Pubertät, verschiebt sich der Rhythmus allerdings in den meisten
Fällen nach hinten: Jugendliche sind morgens oft müde und abends wach (Eulen).
Ursache ist das Wachhormon Serotonin, das Teenager stärker am Abend
ausschütten. Die Folge: Auch wer früh ins Bett geht, kann nicht schlafen–und
der Morgen bleibt eine Qual. Schlafforscher ziehen gerne einen Vergleich:
«Jugendliche, die um 6Uhr aufstehen müssen, sind das Äquivalent eines Erwachsenen,
der um 4Uhr früh aus dem Bett geholt wird.» An erfolgreiches Lernen ist dann nicht
zu denken. Oder um ein Bonmot von alt Bundesrat Willi Ritschard zu bemühen:
«Die Schweizer stehen zwar früh auf, aber sie erwachen spät.» In der Schule wäre
es besser, beides zeitgleich zu tun.
Jahrelang wurde die Stundentafel bedenkenlos gefüllt. War die erste Lektion um 7.30 vorerst noch für Wahlfächer reserviert, fielen mit der Zeit die Hemmungen und schliesslich wurde die erste Lektion voll integriert. Im Lehrplan 21 wurden die Lektionen auf ein eigentlich nicht mehr vertretbares Minimum zusammengestrichen (Zeichnen, Musik, Geschichte, Geografie), damit neue Fächer wie Medien/Informatik und Berufliche Orientierung Platz fanden. Ein späterer Schulbeginn am Morgen ist nur möglich, wenn man bereit ist, ganze Fächer wieder aus dem Stundenplan zu steichen. Alles andere ist Augenwischerei.
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