25. Oktober 2019

Lobgesang auf die Mehrsprachigkeitsdidaktik


Katja Danuser unterrichtet Englisch in einer fünften Primarklasse im deutschsprachigen Teil des Kantons Graubünden. In den ersten Wochen des Schuljahrs behandelt sie mit den Kindern das Thema Farben/colours. Die Kinder lernen seit der dritten Klasse Italienisch. Da sich Frau Danuser regelmässig mit dem Italienischlehrer ihrer Klasse abspricht, weiss sie, dass die Kinder in der dritten Klasse im Fach Italienisch die Farben/ i colori gelernt haben. 
Eine Sonderprofessur für den Sprachunterricht von morgen, Südostschweiz, 24.10. von Vincenzo Todisco und Lydia Bauer


Die Sprachdetektive ordnen Farben 
Ein Grundpfeiler der Didaktik der Mehrsprachigkeit ist, dass Sprachen nicht mehr voneinander getrennt gelernt, sondern miteinander verknüpft werden. Lernende aktivieren ihr Vorwissen beim Sprachenlernen. Das setzt voraus, dass sich Lehrpersonen absprechen und dass Lehrmittel und Unterrichtsmaterialien aufeinander abgestimmt sind. Frau Danuser knüpft ans Vorwissen der Kinder an. Sprachvergleiche verbunden mit entdeckendem Lernen eignen sich besonders gut dafür. 

Katja Danuser bittet die Kinder, sich die Farben auf Italienisch in Erinnerung zu rufen: rosso, giallo, verde, bianco, nero, blu … Sie weist darauf hin, dass the colours sehr ähnlich klingt wie i colori. Ob auch die Wörter für die Farben auf Englisch und Italienisch ähnlich aussehen? Frau Danuser sagt den Kindern, sie seien nun Sprachdedektive und lässt sie der Frage nachgehen, ob es Ähnlich keiten zwischen der Bezeichnung der Farben in den beiden Sprachen gibt: red, yellow, green, white, black, blue … Die Kinder stellen fest, dass es Farben gibt, die sehr ähnlich geschrieben und gesprochen werden, z. B. blu – blue, andere wie giallo – yellow eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen und wieder andere, wie nero – black, sich überhaupt nicht ähneln. Dafür merken die Kinder, dass im Deutschen einige Farben sehr oder ziemlich ähnlich wie im Englischen sind: red – rot, green – grün, white – weiss, blue – blau. Die Kinder erstellen eine Tabelle und ordnen die Farben in den drei Sprachen Englisch, Deutsch und Italienisch nach ihrer Ähnlichkeit. 

Veränderungen als Chancen 
Globalisierung, Digitalisierung, Mobilität und Migrationsbewegungen haben in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftlichen Strukturen und die Sprachlandschaft in der Schweiz grundlegend verändert. Von einem viersprachigen ist die Schweiz zu einem vielsprachigen Land geworden. Sprachliche und kulturelle Heterogenität haben auch in den Schulstuben Einzug gehalten. Gerade in der Schule bedeuten die neuen Entwicklungen in vielerlei Hinsicht eine Chance, sie sind aber auch mit grossen Herausforderungen verbunden. Frau Danuser nutzt geschickt dieses mehrsprachige Potenzial in ihrer Klasse.

Sprachenaustausch zwischen Kindern 
In der Klasse gibt es Kinder mit anderen Herkunftssprachen als das Schweizerdeutsch. Sie berichten einander, wie die Farben in ihren Sprachen heissen. Auf Spanisch sagt man für rot rojo – und man spricht rojo anders aus, als es geschrieben wird. Auf Albanisch sagt man für grün gjelbër. «Das hört sich eher wie gelb an», meint ein Kind. Dafür sagt man auf Portugiesisch branco für weiss, also ähnlich wie bianco auf Italienisch. Aber auf Portugiesisch kann man für weiss auch alvo sagen. Die Kinder vervollständigen die Tabelle mit den Farben der anderen Sprachen und unterhalten sich über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen. Ganz nebenbei und ohne es zu merken haben sie dabei die Vokabeln für die englischen Farben gelernt. 

Spielerisch Sprachen lernen 
Beim frühen Fremdsprachenlernen stehen Grammatik und Ortho grafie nicht an erster Stelle. Wichtig ist, dass die Kinder die Gelegenheit haben, die Fremdsprache möglichst häufig und in lebensnahen Situationen zu gebrauchen. Entscheidend sind die Kommunikation und ein angstfreier Umgang mit der zu lernenden Sprache. Kinder sind aber sehr wohl dazu bereit, sich auf spielerische und entdeckende Weise mit grammatikalischen Fragen auseinanderzusetzen. 

Die Kinder in der Klasse von Frau Danuser üben die Farben, indem sie Spiele machen, Sätze bilden, Geschichten lesen und erzählen, Übungen im Buch lösen. Dabei achtet die Lehrerin darauf, dass die Schülerinnen und Schüler bei allen Aktivitäten die Gelegenheit haben, häufig zu sprechen und miteinander zu interagieren. Natürlich machen die Kinder dabei auch Fehler, die Sätze sind grammatikalisch nicht immer korrekt, aber die Lehrerin ist zurückhaltend mit Korrigieren, die Kinder sollen vorerst ihre Sätze bilden und sollen sich nicht gehemmt fühlen. 

Da sie schon beim Sätzebilden sind, weist die Lehrerin darauf hin, dass im Italienischen mit den Farben in den Sätzen je nachdem etwas geschieht, il cane è nero, aber i cani sono neri, la banana è gialla und le banane sono gialle. Und wie steht es damit im Englischen? The dog is black, the dogs are black, the banana is yellow, the bananas are yellow. Da gibt es keine Veränderung. Und warum sagt man im Italienischen il cielo è blu und i cieli sono blu? Die Kinder übernehmen wieder die Rolle der Sprachdedektive und machen sich Überlegungen im Bereich der Wortbildung und der Angleichung der Wörter. 

Aus diesem Beispiel wird klar, weshalb die Mehrsprachigkeitsdidaktik als «die Wissenschaft und Lehre vom kombinierten und koordinierten Unterrichten und Lernen mehrerer Fremdsprachen innerhalb und ausserhalb der Schule» bezeichnet wird. In diesem Sinn sieht auch der Lehrplan 21 vor, dass in der Volksschule durchaus immersive Unterrichtssequenzen eingebaut werden können. Im Fachjargon der Sprachdidaktikerinnen nennt sich diese Vorgehensweise bilingualer Sachfachunterricht und bedeutet, dass die entsprechende Fremdsprache auch in anderen Fächern eingesetzt wird. 

Potenziale besser nutzen 
In der Schule, an der Katja Danuser unterrichtet, ist es gang und gäbe, dass die Fremdsprachen, in diesem Fall Englisch, punktuell auch in anderen Fächern zum Zuge kommen. Die Lehrerin nutzt die Gelegenheit und gestaltet eine Lektion Zeichnen in Englisch, bei der es um das Mischen der Farben geht. Die Kinder beschränken sich natürlich nicht darauf, die einzelnen Farben nochmals auf Englisch zu benennen, sondern die Lehrerin hat die Lektion so vorbereitet, dass ganze Sätze möglichst korrekt auf Englisch gesprochen werden müssen. Dasselbe macht sie auch im Turnen. Sie organisiert ein Farbenfangis, bei dem sich die Kinder bewegen, die Farben und Gegenstände auf Englisch benennen und Sätze wie «Jetzt bist du dran», «du bist gefangen», «das gilt nicht», «das Spiel ist zu Ende» usw. auf Englisch sprechen. 

Mit Ausnahme der zweisprachigen Schulen fehlen im Moment in Graubünden einschlägig erprobte Modelle und Konzepte für die Umsetzung der IMD, aber vor allem wird Mehrsprachigkeit oft immer noch als Hindernis gesehen, das dem Ideal des monolingualen Sprechers entgegensteht. Die Notwendigkeit und der Sinn, potenzielle schulische und ausserschulische Mehrsprachigkeit positiv zu nutzen und im Unterricht einzubinden, muss noch den Sprung von der Forschung in das Klassenzimmer schaffen. Erst dann kann IMD zum Regelfall an Schulen und Hochschulen werden – damit die Lernenden bei ihrem Spracherwerb profitieren können. 

Vincenzo Todisco ist Leiter der Sonderprofessur IMD Italienisch an der Pädagogischen Hochschule Graubünden, Lydia Bauer ist Assistentin der Hochschulleitung. 

1 Kommentar:

  1. Dieser Text spiegelt vorzüglich die Mängel der heutigen Lehrerausbildung in den Fremdsprachen. Naivität und Ignoranz treffen sich hier und erzeugen zusammen jene Art von Arroganz, die zum Markenzeichen unserer Pädagogischen Hochschulen geworden ist.
    Das muntere Sprachvergleichen mit allen möglichen Migrantensprachen mag lustig sein, und solche Wortverwandtschaften können im Einzelfall auch helfen, aber neu ist dies ja nicht. Zusätzlich verleiten solch simple Vergleiche oft zu völlig falschen Schlussfolgerungen. Das ist ein Hauptgrund, weshalb sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik im Unterricht nicht durchsetzen kann.
    Gemäss den Autoren soll die Lehrerin zurückhaltend mit Korrigieren sein. Viel wichtiger als sprachliche Korrektheit sei das spielerische Element. Fremdsprachenlernen solle Spass machen, wird da suggeriert. Nur lernt man Sprachen leider nicht ohne Mühe und grossen Aufwand. Und die Fehler, die sich früh eingeschliffen haben, bringt man später kaum mehr weg. Das gilt auch für den Deutschunterricht, wo nun immerhin schon einige Kantone reagieren und die Methode «Schreiben nach Gehör» verbieten. Wir wissen mittlerweile dank umfangreichen Untersuchungen, dass das Konzept des spielerischen Sprachenlernens in der Schweiz krachend gescheitert ist.
    Schliesslich noch zur Verwendung der Fremdsprache in anderen Fächern. Auch diese Idee ist alles andere als neu. Damit will man die fehlende Unterrichtszeit in den Fremdsprachen in anderen Fächern kompensieren. Doch das Ganze hat einen Haken: Wenn man in der Primarschule gleich zwei Fremdsprachen und dazu Hochdeutsch und eventuell noch Rumantsch Grischun lernen muss, wird der Spielraum für die ohnehin fehlende Zeit durch die Vielzahl der zu fördernden Sprachen noch enger. Dazu kommt, dass Primarlehrer, welche fliessend englisch und italienisch sprechen, kaum zu finden sind.
    Was uns hier als Sprachunterricht der Zukunft vorgegaukelt wird, ist in Wirklichkeit bloss ein Sammelsurium von in der Praxis gescheiterten Konzepten.

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