Dass an der Urne über den Einsatz von Lehrmitteln entschieden wird, ist
selbst für schweizerische Verhältnisse aussergewöhnlich. Im November werden die
Stimmberechtigten im Baselbiet über das umstrittene Französischlehrbuch «Mille
feuilles» befinden. Seit Jahren kritisieren Eltern und Lehrpersonen, dass
Schülerinnen und Schüler in sechs Deutschschweizer Kantonen kaum mehr richtig
Französisch lernten. Basel-Stadt, Baselland, Bern, Freiburg, Solothurn und das
Wallis, in denen Französisch die erste Fremdsprache ist, setzen das Lehrmittel
«Mille feuilles» seit 2011 ein.
Barlez wu Fransai? Ein umstrittenes Französischbuch löst einen politischen Sturm aus, NZZ, 18.10. von Daniel Gerny und Erich Aschwanden
Ruf des Lehrbuchs ist ruiniert
Französischlehrbücher sind selten sonderlich beliebt, doch bei «Mille
feuilles» setzte die Kritik schon zu Beginn ein und ist seither nicht
abgerissen. Im Gegenteil: Inzwischen rollt eine regelrechte Protestwelle durch
die Kantone. Das Lehrmittel hat mittlerweile einen so schlechten Ruf, dass das
Resultat der Abstimmung in Basel-Landschaft absehbar ist: Lehrerinnen und
Lehrer werden künftig wieder frei entscheiden können, ob sie «Mille feuilles»
einsetzen wollen oder nicht. Das Lehrmittelobligatorium wird abgeschafft.
Lehrmittel wie «Mille feuilles», das darauf aufbauende «Clin d’œil» oder
das für den Englischunterricht konzipierte «New World» basieren auf neuen didaktischen
Konzepten, die sich stark von denjenigen unterscheiden, mit denen die heutige
Eltern- und Lehrergeneration vertraut ist. Sie sind Teil des
Fremdsprachenkonzeptes «Passepartout», auf das sich die sechs Kantone entlang
der Sprachgrenze geeinigt haben. Schülerinnen und Schüler sollen die Sprache
auf natürliche Weise erlernen, so wie sie es mit ihrer Muttersprache getan
haben. Sie sollen nicht in erster Linie Vokabeln und Grammatik pauken, sondern
die neue Sprache möglichst oft hören und so ein «Sprachbad nehmen». Fehler zu
machen, gehört dabei zumindest zu Beginn zum didaktischen Konzept: Fehler seien
ein Hinweis darauf, dass die neue Sprache mutig angewendet werde, und dürften
deshalb nicht systematisch korrigiert werden.
Doch die Resultate dieser Lernmethode sind ernüchternd, um nicht zu
sagen verheerend. Eine Evaluation durch das Institut für Mehrsprachigkeit der
Universität Freiburg i. Ü. kommt zu dem Schluss, dass das anvisierte
Leistungsniveau nach knapp vier Jahren Französischunterricht nicht annähernd
erreicht wird. Die sechs «Passepartout»-Kantone haben die Untersuchung vor drei
Jahren in Auftrag gegeben. Jetzt zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler
selbst im 6. Primarschuljahr kaum in der Lage sind, einen korrekten Satz
zu sprechen, geschweige denn sich an einem einfachen Dialog zu beteiligen. Nur
gerade 42,5 Prozent der Schüler verfügen im Bereich Sprechen über die von der
Erziehungsdirektorenkonferenz verlangten Grundkompetenzen. Gemessen an den
ambitiöseren Vorgaben der «Passepartout»-Kantone, erreichen sogar nur knapp 11
Prozent die Ziele.
Dominoeffekt in anderen Kantonen
erhofft
Etwas besser – wenn auch weit entfernt von gut – sind die Resultate in
den Bereichen Leseverstehen und Hörverstehen. So können nur 62 Prozent der
Schüler einen sehr einfachen Text lesen und nach mehrmaligem Lesen auch
verstehen – vorausgesetzt, Thema und Textsorte sind vertraut. Für den
Baselbieter Fremdsprachenlehrer Philipp Loretz, eine der treibenden Kräfte im
Kampf gegen «Mille feuilles», ist dies die Folge einer völlig verfehlten
Didaktik. Es handle sich bei der Evaluation bereits um die vierte
wissenschaftliche Untersuchung, welche dem «Passepartout»-Konzept «ein
miserables Zeugnis» ausstelle.
Dass das Baselbiet nun als erster Kanton so klar Abstand von «Mille
feuilles» nehmen will, ist nicht zuletzt das Verdienst von Loretz. Inzwischen
gibt es in seinem Kanton kaum mehr Opposition gegen die vorgeschlagene Änderung
des Bildungsgesetzes, die den Lehrpersonen eine beschränkte Wahlfreiheit bei
den Lehrmitteln zurückgeben will. Zu verdanken ist der Sinneswandel aber auch
der neuen Bildungsdirektorin Monica Gschwind (fdp.), die politisches Gespür
bewies und alle Akteure unvoreingenommen an den Tisch brachte.
Geht es nach Loretz, wird der absehbare Abstimmungserfolg im Baselbiet
einen Dominoeffekt auslösen. Längst sind die Kritiker des
«Passepartout»-Konzeptes in den sechs Kantonen perfekt vernetzt. Mit einem am
Donnerstag veröffentlichten offenen Brief bereiten sie das Terrain für Phase
zwei im Kampf gegen «Mille feuilles» vor: Sie verlangen die flächendeckende
Abschaffung des Lehrmittelobligatoriums und die freie Wahl alternativer auf dem
Markt verfügbarer Französischlehrmittel. Zu den Mitunterzeichnern gehören neben
diversen Kantonalpolitikern auch der Bieler Lehrer Alain Pichard, ein «Mille
feuilles»-Kritiker der ersten Stunde. Parallel dazu wird in so gut wie allen
Kantonen mit parlamentarischen Vorstössen Druck gemacht. Die Allianz ist
parteipolitisch äusserst breit und heterogen: Von der früheren stellvertretenden
SVP-Generalsekretärin Aliki Panayides in Bern bis zum ehemaligen Basler
SP-Kantonalpräsidenten Daniel Goepfert ist praktisch das gesamte Spektrum
abgebildet.
Der Berner SVP-Grossrat Samuel Krähenbühl setzt ganz darauf, dass die
quer durch die Parteien gehende Kritik auch in seinem Kanton Wirkung zeigt.
«Das Desaster muss endlich beendet werden. Ich erhoffe mir, dass die Abstimmung
in Baselland Wirkung zeigt», sagt der Politiker, der in der SVP-Fraktion für
die Bildungspolitik zuständig ist. Sollte dies auf parlamentarischer Ebene
nicht gelingen, kann sich Krähenbühl vorstellen, eine Volksinitiative zu
lancieren. Im Kanton Basel-Stadt führen die GLP-Präsidentin Katja Christ und
der FDP-Bildungspolitiker Stephan Mumenthaler die Opposition im Parlament an: «Wenn
andere Kantone von ‹Mille feuilles› abrücken, müsste dies bei uns zu denken
geben», erklärt Mumenthaler: «Bis jetzt sehe ich dafür leider keinerlei
Anzeichen. Die Verwaltung bleibt stur.» In Bern haben die Gegner immerhin schon
einen Teilerfolg erreicht. Dort muss der Kanton auf Weisung des Parlaments
seinen Anteil an dem Schulbuchverlag verkaufen, der «Mille feuilles»
herausgibt.
Hinausgeschmissenes Geld
Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt beurteilt die
Evaluationsergebnisse anders als Loretz und Pichard: Sie zeigten ein
differenziertes Bild mit teilweise zufriedenstellenden oder erfreulichen
Ergebnissen, teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. Derzeit würden die
Ergebnisse gesichtet und analysiert. Einzig im Sprechen lägen die Ergebnisse
unter den Erwartungen. Vorderhand halten die Kantone an «Mille feuilles» fest –
zumindest teilweise. So wird in Basel derzeit ein neues Lehrmittel getestet. Ob
es zum Einsatz kommt, ist aber offen. Auch im Kanton Bern scheint die
Verunsicherung inzwischen gross zu sein. Nach längerem Hin und Her verzichtet
die Erziehungsdirektion auf eine Stellungnahme zur Zukunft des Lehrmittels.
Um den Totalabsturz abzuwenden, wurde «Mille feuilles» schon früher
angepasst und unter anderem um eine sogenannte «Mini-grammaire» ergänzt. Für
Loretz und Pichard ist dies allerdings hinausgeschmissenes Geld: Es handle sich
schon heute um das teuerste Lehrmittel, das es in der Schweiz je gegeben habe –
ohne dass mit den Anpassungen die grundlegenden Mängel behoben worden wären. Für
Pichard ist das besorgniserregend, weil daraus ein
Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept resultiere: Nur wer es ans Gymnasium schaffe,
erhalte die nötigen Sprachkompetenzen, kritisiert er. Beim Rest begnüge man
sich im Französisch inzwischen mit ein paar wenigen Brocken. «Wenn man
feststellt, dass ein Lehrmittel nichts taugt, muss man sofort eine Alternative
anbieten», fordert auch die Basler Bildungspolitikerin Katja Christ: «Es geht
schliesslich um die Ausbildung unserer Kinder.»
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