18. Oktober 2019

Flächendeckende Abschaffung des Lehrmittelobligatoriums gefordert


Dass an der Urne über den Einsatz von Lehrmitteln entschieden wird, ist selbst für schweizerische Verhältnisse aussergewöhnlich. Im November werden die Stimmberechtigten im Baselbiet über das umstrittene Französischlehrbuch «Mille feuilles» befinden. Seit Jahren kritisieren Eltern und Lehrpersonen, dass Schülerinnen und Schüler in sechs Deutschschweizer Kantonen kaum mehr richtig Französisch lernten. Basel-Stadt, Baselland, Bern, Freiburg, Solothurn und das Wallis, in denen Französisch die erste Fremdsprache ist, setzen das Lehrmittel «Mille feuilles» seit 2011 ein.
Barlez wu Fransai? Ein umstrittenes Französischbuch löst einen politischen Sturm aus, NZZ, 18.10. von Daniel Gerny und Erich Aschwanden


Ruf des Lehrbuchs ist ruiniert
Französischlehrbücher sind selten sonderlich beliebt, doch bei «Mille feuilles» setzte die Kritik schon zu Beginn ein und ist seither nicht abgerissen. Im Gegenteil: Inzwischen rollt eine regelrechte Protestwelle durch die Kantone. Das Lehrmittel hat mittlerweile einen so schlechten Ruf, dass das Resultat der Abstimmung in Basel-Landschaft absehbar ist: Lehrerinnen und Lehrer werden künftig wieder frei entscheiden können, ob sie «Mille feuilles» einsetzen wollen oder nicht. Das Lehrmittelobligatorium wird abgeschafft.
Lehrmittel wie «Mille feuilles», das darauf aufbauende «Clin d’œil» oder das für den Englischunterricht konzipierte «New World» basieren auf neuen didaktischen Konzepten, die sich stark von denjenigen unterscheiden, mit denen die heutige Eltern- und Lehrergeneration vertraut ist. Sie sind Teil des Fremdsprachenkonzeptes «Passepartout», auf das sich die sechs Kantone entlang der Sprachgrenze geeinigt haben. Schülerinnen und Schüler sollen die Sprache auf natürliche Weise erlernen, so wie sie es mit ihrer Muttersprache getan haben. Sie sollen nicht in erster Linie Vokabeln und Grammatik pauken, sondern die neue Sprache möglichst oft hören und so ein «Sprachbad nehmen». Fehler zu machen, gehört dabei zumindest zu Beginn zum didaktischen Konzept: Fehler seien ein Hinweis darauf, dass die neue Sprache mutig angewendet werde, und dürften deshalb nicht systematisch korrigiert werden.

Doch die Resultate dieser Lernmethode sind ernüchternd, um nicht zu sagen verheerend. Eine Evaluation durch das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg i. Ü. kommt zu dem Schluss, dass das anvisierte Leistungsniveau nach knapp vier Jahren Französischunterricht nicht annähernd erreicht wird. Die sechs «Passepartout»-Kantone haben die Untersuchung vor drei Jahren in Auftrag gegeben. Jetzt zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler selbst im 6. Primarschuljahr kaum in der Lage sind, einen korrekten Satz zu sprechen, geschweige denn sich an einem einfachen Dialog zu beteiligen. Nur gerade 42,5 Prozent der Schüler verfügen im Bereich Sprechen über die von der Erziehungsdirektorenkonferenz verlangten Grundkompetenzen. Gemessen an den ambitiöseren Vorgaben der «Passepartout»-Kantone, erreichen sogar nur knapp 11 Prozent die Ziele.

Dominoeffekt in anderen Kantonen erhofft
Etwas besser – wenn auch weit entfernt von gut – sind die Resultate in den Bereichen Leseverstehen und Hörverstehen. So können nur 62 Prozent der Schüler einen sehr einfachen Text lesen und nach mehrmaligem Lesen auch verstehen – vorausgesetzt, Thema und Textsorte sind vertraut. Für den Baselbieter Fremdsprachenlehrer Philipp Loretz, eine der treibenden Kräfte im Kampf gegen «Mille feuilles», ist dies die Folge einer völlig verfehlten Didaktik. Es handle sich bei der Evaluation bereits um die vierte wissenschaftliche Untersuchung, welche dem «Passepartout»-Konzept «ein miserables Zeugnis» ausstelle.

Dass das Baselbiet nun als erster Kanton so klar Abstand von «Mille feuilles» nehmen will, ist nicht zuletzt das Verdienst von Loretz. Inzwischen gibt es in seinem Kanton kaum mehr Opposition gegen die vorgeschlagene Änderung des Bildungsgesetzes, die den Lehrpersonen eine beschränkte Wahlfreiheit bei den Lehrmitteln zurückgeben will. Zu verdanken ist der Sinneswandel aber auch der neuen Bildungsdirektorin Monica Gschwind (fdp.), die politisches Gespür bewies und alle Akteure unvoreingenommen an den Tisch brachte.

Geht es nach Loretz, wird der absehbare Abstimmungserfolg im Baselbiet einen Dominoeffekt auslösen. Längst sind die Kritiker des «Passepartout»-Konzeptes in den sechs Kantonen perfekt vernetzt. Mit einem am Donnerstag veröffentlichten offenen Brief bereiten sie das Terrain für Phase zwei im Kampf gegen «Mille feuilles» vor: Sie verlangen die flächendeckende Abschaffung des Lehrmittelobligatoriums und die freie Wahl alternativer auf dem Markt verfügbarer Französischlehrmittel. Zu den Mitunterzeichnern gehören neben diversen Kantonalpolitikern auch der Bieler Lehrer Alain Pichard, ein «Mille feuilles»-Kritiker der ersten Stunde. Parallel dazu wird in so gut wie allen Kantonen mit parlamentarischen Vorstössen Druck gemacht. Die Allianz ist parteipolitisch äusserst breit und heterogen: Von der früheren stellvertretenden SVP-Generalsekretärin Aliki Panayides in Bern bis zum ehemaligen Basler SP-Kantonalpräsidenten Daniel Goepfert ist praktisch das gesamte Spektrum abgebildet.

Der Berner SVP-Grossrat Samuel Krähenbühl setzt ganz darauf, dass die quer durch die Parteien gehende Kritik auch in seinem Kanton Wirkung zeigt. «Das Desaster muss endlich beendet werden. Ich erhoffe mir, dass die Abstimmung in Baselland Wirkung zeigt», sagt der Politiker, der in der SVP-Fraktion für die Bildungspolitik zuständig ist. Sollte dies auf parlamentarischer Ebene nicht gelingen, kann sich Krähenbühl vorstellen, eine Volksinitiative zu lancieren. Im Kanton Basel-Stadt führen die GLP-Präsidentin Katja Christ und der FDP-Bildungspolitiker Stephan Mumenthaler die Opposition im Parlament an: «Wenn andere Kantone von ‹Mille feuilles› abrücken, müsste dies bei uns zu denken geben», erklärt Mumenthaler: «Bis jetzt sehe ich dafür leider keinerlei Anzeichen. Die Verwaltung bleibt stur.» In Bern haben die Gegner immerhin schon einen Teilerfolg erreicht. Dort muss der Kanton auf Weisung des Parlaments seinen Anteil an dem Schulbuchverlag verkaufen, der «Mille feuilles» herausgibt.

Hinausgeschmissenes Geld
Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt beurteilt die Evaluationsergebnisse anders als Loretz und Pichard: Sie zeigten ein differenziertes Bild mit teilweise zufriedenstellenden oder erfreulichen Ergebnissen, teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. Derzeit würden die Ergebnisse gesichtet und analysiert. Einzig im Sprechen lägen die Ergebnisse unter den Erwartungen. Vorderhand halten die Kantone an «Mille feuilles» fest – zumindest teilweise. So wird in Basel derzeit ein neues Lehrmittel getestet. Ob es zum Einsatz kommt, ist aber offen. Auch im Kanton Bern scheint die Verunsicherung inzwischen gross zu sein. Nach längerem Hin und Her verzichtet die Erziehungsdirektion auf eine Stellungnahme zur Zukunft des Lehrmittels.

Um den Totalabsturz abzuwenden, wurde «Mille feuilles» schon früher angepasst und unter anderem um eine sogenannte «Mini-grammaire» ergänzt. Für Loretz und Pichard ist dies allerdings hinausgeschmissenes Geld: Es handle sich schon heute um das teuerste Lehrmittel, das es in der Schweiz je gegeben habe – ohne dass mit den Anpassungen die grundlegenden Mängel behoben worden wären. Für Pichard ist das besorgniserregend, weil daraus ein Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept resultiere: Nur wer es ans Gymnasium schaffe, erhalte die nötigen Sprachkompetenzen, kritisiert er. Beim Rest begnüge man sich im Französisch inzwischen mit ein paar wenigen Brocken. «Wenn man feststellt, dass ein Lehrmittel nichts taugt, muss man sofort eine Alternative anbieten», fordert auch die Basler Bildungspolitikerin Katja Christ: «Es geht schliesslich um die Ausbildung unserer Kinder.»

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