Es ist der Albtraum für Eltern: Kaum ist die Tochter, der Sohn in der
Primarschule, fangen die Probleme an. Das Kind wird von Klassenkameraden
geplagt, es ist unglücklich, will morgens nicht zur Schule, hat undefinierbare
Bauchschmerzen. Die Eltern wenden sich an den Lehrer; Schulsozialarbeiter und
Schulpsychologen werden eingeschaltet. Die Situation wird nicht besser, die
Familie ist nervlich am Ende. Was tun? Das Kind in eine andere Klasse schicken?
Eine Privatschule suchen? Oder es fortan selber unterrichten?
Kinder gehören nicht dem Staat, Weltwoche, 18.9. von Katharina Fontana
Den letzten Weg wollte eine Basler Mutter gehen, um ihren Sohn, einen
Drittklässler, vor weiterem Mobbing in der Schule zu schützen. Doch daraus wird
nichts: Die basel-städtische Justiz lehnte ihren Antrag auf homeschooling ab.
Das sei richtig, sagt das Bundesgericht. Die Bundesverfassung gebe den Eltern
keinen Anspruch auf homeschooling, Kantone könnten den
Hausunterricht gänzlich verbieten, heisst es im diese Woche veröffentlichten
Urteil der Lausanner Richter.
Misstrauische Eltern
Das ist keine gute Nachricht für die homeschoolers. Nach
einer Umfrage des Tages-Anzeigers vom März dieses Jahres
werden rund 2000 Kinder in der Schweiz zu Hause unterrichtet; das ist zwar sehr
wenig, doch die Zahlen zeigen steil nach oben. Auf die meisten Leute dürfte die
heimische Schulstube exotisch wirken, doch die homeschoolers selber
sehen im Privatunterricht die beste Art, individuell auf die Lernbedürfnisse
der Kinder einzugehen. Man komme schneller mit dem Lehrplan voran, und die
Kinder würden vor negativen Einflüssen, vor allzu frühem Handykonsum, vor
Pornovideos, Kiffen oder Gewalt auf Pausenplätzen geschützt, heisst es.
Ähnliches ist von Eltern zu hören, die ihre Kinder in Privatschulen
schicken. Mit gut fünf Prozent ist der Anteil der Privatschüler hierzulande zwar
eher tief, in gewissen Kantonen wie Genf, Basel oder Zug liegt er allerdings
deutlich höher. Ein Gutteil der Eltern sind Expats, die möglicherweise nicht
allzu lange in der Schweiz bleiben und für ihr Kind ein internationales Umfeld
suchen. Oder es handelt sich um speziell erfolgsorientierte Mütter und Väter,
die mehr aus ihrem Kind herausholen wollen und finden, dass nur die
Privatschule die richtige Förderung biete. Daneben gibt es Eltern, die
reformpädagogische Schulen bevorzugen oder sich homogenere Klassen wünschen
ohne die «Problemkinder», die heute in der Volksschule mitgezogen werden. Doch
egal, welches die Beweggründe sind, eine Gemeinsamkeit gibt es: Man hat kein
Vertrauen in die Volksschule.
Damit sind wir bei der Frage, die vorab in gebildeten Elternkreisen die
Gefühle in Wallung bringt: Soll man sein Kind heute noch staatlich unterrichten
lassen? Ist die Volksschule ein guter Weg? Darf man sie dem Kind zumuten? Nach
Vorbehalten gegenüber der öffentlichen Schule muss man nicht lange suchen. Dass
die Volksschule stets in der Lage sei, all ihre Funktionen einwandfrei zu
erfüllen, behaupten wohl nicht einmal ihre treusten Anhänger. Und dennoch mutet
die omnipräsente Kritik an der Volksschule über-trieben an: Die unter Eltern
verbreitete Angst, dass es ihrer Emma Lynn oder ihrem Elias Alexander dort
nicht gutgehen werde, ist über weite Strecken unbegründet.
Die Volksschule ist nicht ohne Grund tief in der Volksseele verankert.
Etwas pathetisch ausgedrückt, ist sie der Ort, an dem die Kinder zu selbstverantwortlichen
Staatsbürgern heranwachsen, der unentgeltliche, obligatorische Unterricht ist
Teil der demokratischen Gesellschaft. Oder einfacher gesagt: In der Schule
finden Kinder Kameraden, die aus unterschiedlichen familiären Verhältnissen
stammen, dort lernen sie, dass alle von ihnen gleich viel wert sind – die
Volksschule ist die Bastion wider die Klassengesellschaft.
Nun mag man einwenden, dass die gesellschaftliche Durchmischung einem
Mythos entspreche, da die Quartiere immer stärker segregiert seien. Den Trend,
vor der Einschulung des Kindes in die Gemeinde am Hang oder am See zu ziehen,
wo die Akademikerdichte hoch ist, die sozialen Probleme gering und wovon man
sich erhofft, dass das Kind unter seinesgleichen aufwächst, gibt es
tatsächlich. Doch letztlich sind es bloss vereinzelte Gemeinden, die eintönig
durchgestylt sind. Auch im «Akademikerquartier» wohnen Kinder, deren Eltern
nicht studiert haben, die in schwierigen Familienverhältnissen leben, die aus
einem fremden Kulturkreis stammen oder einer anderen Religion angehören.
Nutzloses Frühfranzösisch
Die Klassen mögen nicht mehr so durchmischt sein wie früher, die
Direktorentochter und der Arbeitersohn werden nicht mehr überall zusammen die
Schulbank drücken, doch die Begegnungen finden statt. Das zeigt sich auch an
Elternabenden, an denen man teils mit Leuten im Kreis herum sitzt, die man
sonst kaum je treffen würde.
Auch was die Bildung angeht, sollte man die Volksschule nicht zu
schlecht reden. Sicher, es gibt Gemeinden, in denen der Anteil der
Problemfälle, welche die schulischen Minimalziele nicht erreichen, Sorge macht.
Die hohe Zahl an fremdsprachigen Schülern stellt eine Herausforderung dar. Und
dass verhaltensauffällige oder behinderte Kinder nicht mehr Sonderklassen
besuchen, sondern mit im Schulzimmer sitzen, macht die Aufgabe für die Lehrer
auch nicht einfacher. Gleichzeitig gibt es aber immer wieder innovative Lehrer
und Schulen, welche auf die «ungünstige» Zusammensetzung der Klassen und auf
die Diversität der Schüler mit viel Engagement reagieren und eine Qualität
erzielen, die sich im Vergleich mit anderen, privilegierteren Schulen durchaus
sehen lassen kann – eigentliche «Getto-Schulen» existieren hierzulande nicht.
Stolpersteine für die Volksschule sind dagegen die Bürokratie und die
anhaltenden, teils praxisfernen Reformen. Frappant ist auch, wie träg das
System teilweise ist. Das zeigt sich etwa beim Frühfranzösisch, das in den
Kantonen an der deutsch-französischen Sprachgrenze bereits ab der dritten
Primarklasse gelehrt wird – mit dem Effekt, dass die Kinder nach vier Jahren
Unterricht noch keinen geraden Satz auf Französisch sagen können. Das Problem
ist seit längerem bekannt, und doch werden wohl noch mehrere Schuljahrgänge die
nutzlosen Frühfranzösisch-Stunden absitzen, bevor sich etwas ändert.
Die öffentliche Schule, vor allem die Primarschule, ist letztlich
Unterricht ab Stange, keine individuell ausgerichtete Förderung des kindlichen
Talents. Insofern ist sie eine Absage an die akademische Aufrüstung, die
heutzutage in ambitionierten Elternkreisen en vogue ist und bereits für
Kleinkinder teils absurde Ausmasse annimmt.
Klar ist: Die Schule kann das familiäre Umfeld nie ersetzen. Wer als
Kind interessante Diskussionen mit den Eltern erlebt, wer mit Zeitungen und
Büchern aufwächst, wer ein anregendes Umfeld hat, Ausflüge mit der Familie
unternimmt und selber etwas entdecken darf, übersteht auch einen vielleicht
nicht in jeder Hinsicht optimalen Schulunterricht ohne Probleme. Für die
Charakterbildung eines Primarschülers muss es zudem kein Nachteil sein, wenn er
in den ersten Schuljahren auf schwächere Klassenkameraden, die den Lehrstoff
nicht so schnell bewältigen, hin und wieder warten muss.
Das eigentlich Erstaunliche für Mütter und Väter schulpflichtiger Kinder
ist es, zu sehen, wie widerstandsfähig diese letztlich sind. Wie unbeschadet
sie all die schulischen Misserfolge, fiesen Klassenkameraden und pädagogischen
Fehlleistungen überstehen. Und wie sie die öffentliche Schule als intakte
Menschen verlassen, um eine Berufslehre zu absolvieren, eine Fachhochschule zu
besuchen oder an die Universität zu ziehen.
Auch wenn die Volksschule insgesamt also eine gute Sache ist, heisst das
nicht, dass man sie den Eltern aufzwingen sollte. Es braucht Raum für
Alternativen. Insofern ist das eingangs erwähnte Urteil des Bundesgerichts, das
den Eltern kein Recht auf Hausunterricht zugesteht, bedenklich. Solange der
Unterricht gemäss staatlichem Lehrplan gewährleistet ist, muss eine solche
Bildungsform in einer liberalen Gesellschaft Platz haben – die Kinder gehören
nicht dem Staat, wie sollten sie?
Anmassend, ja übergriffig
Das Urteil betrifft zudem nicht nur die Randgruppe der heutigen homeschoolers –
der Wunsch nach Hausunterricht könnte in Zukunft deutlich weiter verbreitet
sein. Mit dem Harmos-Konkordat sind Kinder nämlich bereits mit vier Jahren
schulpflichtig und treten in den Kindergarten oder die Basisstufe ein. Das ist
früh – und für etliche Vierjährige ist es zu früh, sie wollen sich noch nicht
jeden Tag von zu Hause lösen. Kommt hinzu, dass auf Bundesebene Bestrebungen
laufen, die frühkindliche Förderung massiv auszubauen und bereits die Null- bis
Vierjährigen schrittweise ins staatliche Bildungssystem einzubeziehen.
Vielen Eltern dürfte diese Entwicklung hin zu einer Verschulung der ersten
Lebensjahre ein Graus sein. Der Hausunterricht ist ein Mittel, notfalls
Gegensteuer zu geben und das eigene Kind vor einem als anmassend, ja
übergriffig empfundenen Staat zu schützen.
Danke für diesen spannenden Beitrag.
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