19. September 2019

Volksschule braucht Raum für Alternativen


Es ist der Albtraum für Eltern: Kaum ist die Tochter, der Sohn in der Primarschule, fangen die Probleme an. Das Kind wird von Klassenkameraden geplagt, es ist unglücklich, will morgens nicht zur Schule, hat undefinierbare Bauchschmerzen. Die Eltern wenden sich an den Lehrer; Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen werden eingeschaltet. Die Situation wird nicht besser, die Familie ist nervlich am Ende. Was tun? Das Kind in eine andere Klasse schicken? Eine Privatschule suchen? Oder es fortan selber unterrichten?
Kinder gehören nicht dem Staat, Weltwoche, 18.9. von Katharina Fontana


Den letzten Weg wollte eine Basler Mutter gehen, um ihren Sohn, einen Drittklässler, vor weiterem Mobbing in der Schule zu schützen. Doch daraus wird nichts: Die basel-städtische Justiz lehnte ihren Antrag auf homeschooling ab. Das sei richtig, sagt das Bundesgericht. Die Bundesverfassung gebe den Eltern keinen Anspruch auf homeschooling, Kantone könnten den Hausunterricht gänzlich verbieten, heisst es im diese Woche veröffentlichten Urteil der Lausanner Richter.

Misstrauische Eltern
Das ist keine gute Nachricht für die homeschoolers. Nach einer Umfrage des Tages-Anzeigers vom März dieses Jahres werden rund 2000 Kinder in der Schweiz zu Hause unterrichtet; das ist zwar sehr wenig, doch die Zahlen zeigen steil nach oben. Auf die meisten Leute dürfte die heimische Schulstube exotisch wirken, doch die homeschoolers selber sehen im Privatunterricht die beste Art, individuell auf die Lernbedürfnisse der Kinder einzugehen. Man komme schneller mit dem Lehrplan voran, und die Kinder würden vor negativen Einflüssen, vor allzu frühem Handykonsum, vor Pornovideos, Kiffen oder Gewalt auf Pausenplätzen geschützt, heisst es.

Ähnliches ist von Eltern zu hören, die ihre Kinder in Privatschulen schicken. Mit gut fünf Prozent ist der Anteil der Privatschüler hierzulande zwar eher tief, in gewissen Kantonen wie Genf, Basel oder Zug liegt er allerdings deutlich höher. Ein Gutteil der Eltern sind Expats, die möglicherweise nicht allzu lange in der Schweiz bleiben und für ihr Kind ein internationales Umfeld suchen. Oder es handelt sich um speziell erfolgsorientierte Mütter und Väter, die mehr aus ihrem Kind herausholen wollen und finden, dass nur die Privatschule die richtige Förderung biete. Daneben gibt es Eltern, die reformpädagogische Schulen bevorzugen oder sich homogenere Klassen wünschen ohne die «Problemkinder», die heute in der Volksschule mitgezogen werden. Doch egal, welches die Beweggründe sind, eine Gemeinsamkeit gibt es: Man hat kein Vertrauen in die Volksschule.

Damit sind wir bei der Frage, die vorab in gebildeten Elternkreisen die Gefühle in Wallung bringt: Soll man sein Kind heute noch staatlich unterrichten lassen? Ist die Volksschule ein guter Weg? Darf man sie dem Kind zumuten? Nach Vorbehalten gegenüber der öffentlichen Schule muss man nicht lange suchen. Dass die Volksschule stets in der Lage sei, all ihre Funktionen einwandfrei zu erfüllen, behaupten wohl nicht einmal ihre treusten Anhänger. Und dennoch mutet die omnipräsente Kritik an der Volksschule über-trieben an: Die unter Eltern verbreitete Angst, dass es ihrer Emma Lynn oder ihrem Elias Alexander dort nicht gutgehen werde, ist über weite Strecken unbegründet.

Die Volksschule ist nicht ohne Grund tief in der Volksseele verankert. Etwas pathetisch ausgedrückt, ist sie der Ort, an dem die Kinder zu selbstverantwortlichen Staatsbürgern heranwachsen, der unentgeltliche, obligatorische Unterricht ist Teil der demokratischen Gesellschaft. Oder einfacher gesagt: In der Schule finden Kinder Kameraden, die aus unterschiedlichen familiären Verhältnissen stammen, dort lernen sie, dass alle von ihnen gleich viel wert sind – die Volksschule ist die Bastion wider die Klassengesellschaft.
Nun mag man einwenden, dass die gesellschaftliche Durchmischung einem Mythos entspreche, da die Quartiere immer stärker segregiert seien. Den Trend, vor der Einschulung des Kindes in die Gemeinde am Hang oder am See zu ziehen, wo die Akademikerdichte hoch ist, die sozialen Probleme gering und wovon man sich erhofft, dass das Kind unter seinesgleichen aufwächst, gibt es tatsächlich. Doch letztlich sind es bloss vereinzelte Gemeinden, die eintönig durchgestylt sind. Auch im «Akademikerquartier» wohnen Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, die in schwierigen Familienverhältnissen leben, die aus einem fremden Kulturkreis stammen oder einer anderen Religion angehören.

Nutzloses Frühfranzösisch
Die Klassen mögen nicht mehr so durchmischt sein wie früher, die Direktorentochter und der Arbeitersohn werden nicht mehr überall zusammen die Schulbank drücken, doch die Begegnungen finden statt. Das zeigt sich auch an Elternabenden, an denen man teils mit Leuten im Kreis herum sitzt, die man sonst kaum je treffen würde.

Auch was die Bildung angeht, sollte man die Volksschule nicht zu schlecht reden. Sicher, es gibt Gemeinden, in denen der Anteil der Problemfälle, welche die schulischen Minimalziele nicht erreichen, Sorge macht. Die hohe Zahl an fremdsprachigen Schülern stellt eine Herausforderung dar. Und dass verhaltensauffällige oder behinderte Kinder nicht mehr Sonderklassen besuchen, sondern mit im Schulzimmer sitzen, macht die Aufgabe für die Lehrer auch nicht einfacher. Gleichzeitig gibt es aber immer wieder innovative Lehrer und Schulen, welche auf die «ungünstige» Zusammensetzung der Klassen und auf die Diversität der Schüler mit viel Engagement reagieren und eine Qualität erzielen, die sich im Vergleich mit anderen, privilegierteren Schulen durchaus sehen lassen kann – eigentliche «Getto-Schulen» existieren hierzulande nicht.

Stolpersteine für die Volksschule sind dagegen die Bürokratie und die anhaltenden, teils praxisfernen Reformen. Frappant ist auch, wie träg das System teilweise ist. Das zeigt sich etwa beim Frühfranzösisch, das in den Kantonen an der deutsch-französischen Sprachgrenze bereits ab der dritten Primarklasse gelehrt wird – mit dem Effekt, dass die Kinder nach vier Jahren Unterricht noch keinen geraden Satz auf Französisch sagen können. Das Problem ist seit längerem bekannt, und doch werden wohl noch mehrere Schuljahrgänge die nutzlosen Frühfranzösisch-Stunden absitzen, bevor sich etwas ändert.
Die öffentliche Schule, vor allem die Primarschule, ist letztlich Unterricht ab Stange, keine individuell ausgerichtete Förderung des kindlichen Talents. Insofern ist sie eine Absage an die akademische Aufrüstung, die heutzutage in ambitionierten Elternkreisen en vogue ist und bereits für Kleinkinder teils absurde Ausmasse annimmt.

Klar ist: Die Schule kann das familiäre Umfeld nie ersetzen. Wer als Kind interessante Diskussionen mit den Eltern erlebt, wer mit Zeitungen und Büchern aufwächst, wer ein anregendes Umfeld hat, Ausflüge mit der Familie unternimmt und selber etwas entdecken darf, übersteht auch einen vielleicht nicht in jeder Hinsicht optimalen Schulunterricht ohne Probleme. Für die Charakterbildung eines Primarschülers muss es zudem kein Nachteil sein, wenn er in den ersten Schuljahren auf schwächere Klassenkameraden, die den Lehrstoff nicht so schnell bewältigen, hin und wieder warten muss.

Das eigentlich Erstaunliche für Mütter und Väter schulpflichtiger Kinder ist es, zu sehen, wie widerstandsfähig diese letztlich sind. Wie unbeschadet sie all die schulischen Misserfolge, fiesen Klassenkameraden und pädagogischen Fehlleistungen überstehen. Und wie sie die öffentliche Schule als intakte Menschen verlassen, um eine Berufslehre zu absolvieren, eine Fachhochschule zu besuchen oder an die Universität zu ziehen.

Auch wenn die Volksschule insgesamt also eine gute Sache ist, heisst das nicht, dass man sie den Eltern aufzwingen sollte. Es braucht Raum für Alternativen. Insofern ist das eingangs erwähnte Urteil des Bundesgerichts, das den Eltern kein Recht auf Hausunterricht zugesteht, bedenklich. Solange der Unterricht gemäss staatlichem Lehrplan gewährleistet ist, muss eine solche Bildungsform in einer liberalen Gesellschaft Platz haben – die Kinder gehören nicht dem Staat, wie sollten sie?

Anmassend, ja übergriffig
Das Urteil betrifft zudem nicht nur die Randgruppe der heutigen homeschoolers – der Wunsch nach Hausunterricht könnte in Zukunft deutlich weiter verbreitet sein. Mit dem Harmos-Konkordat sind Kinder nämlich bereits mit vier Jahren schulpflichtig und treten in den Kindergarten oder die Basisstufe ein. Das ist früh – und für etliche Vierjährige ist es zu früh, sie wollen sich noch nicht jeden Tag von zu Hause lösen. Kommt hinzu, dass auf Bundesebene Bestrebungen laufen, die frühkindliche Förderung massiv auszubauen und bereits die Null- bis Vierjährigen schrittweise ins staatliche Bildungssystem einzubeziehen.
Vielen Eltern dürfte diese Entwicklung hin zu einer Verschulung der ersten Lebensjahre ein Graus sein. Der Hausunterricht ist ein Mittel, notfalls Gegensteuer zu geben und das eigene Kind vor einem als anmassend, ja übergriffig empfundenen Staat zu schützen.


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