Das Schuljahr in Bern ist gerade mal zwei Wochen jung, an einem
Freitagmittag nippt der Klavierlehrer Felix Holler (52) an seinem Espresso. Er
hat es nicht pressant. Und das ist das Problem: «Oft kann ich erst um 15.30 Uhr
mit dem Unterricht beginnen.»
Grund für Hollers frustrierende Lage: Am Nachmittag fehlen ihm die
Schüler. Nicht, weil es dem Nachwuchs seit ein paar Jahren an Musikbegeisterung
mangelt – nein: seine Kundschaft drückt um diese Zeit einfach noch die
Schulbank: «Der Lehrplan 21 führte für uns Musiklehrer zu einer
Verschlechterung.» Holler selbst erfuhr in diesem Jahr eine ungewollte
Pensenreduktion von rund 7,5 Prozent, nun fehlt ihm fast ein Monatslohn – mehr
als 7000 Franken: «Die Schmerzgrenze ist erreicht.»
Musiklehrer bangen um ihre Existenz, Blick, 7.9. von Tobias Marti
Agenda von Schweizer Schülern ist voll
Schweizer Schüler sind extrem beschäftigt. Nach dem Unterricht
absolvieren viele ein Art Freizeitmarathon: Fussball, Unihockey, Ballett, und
eben auch noch Geige, Klavier, Gitarre. Der Lehrplan 21 trug nicht zur
Entspannung der Agenda bei.
Als die Bildungsdirektoren-Konferenz, die ihn verantwortet, die Jahre
2012 und 2018 miteinander verglich, stellte auch sie fest, «dass die
Lektionenzahlen in einigen Kantonen gestiegen sind». Im Kanton Bern etwa sind
das je nach Klasse bis zu sechs zusätzliche Lektionen pro Woche. Die Folgen:
«In Kantonen, in denen die Gesamtlektionenzahl gestiegen ist», so die
Bildungsdirektoren, «ist die Vereinbarkeit zwischen Schule und Freizeit sicher
anspruchsvoller geworden.»
Anders gesagt: Die Agenda vieler Schüler ist voll. Und die Leidtragenden
sind auch die Musiklehrer.
Grosse Konkurrenz bei Freizeitangeboten
Man habe verschiedene Rückmeldungen erhalten, dass die
Stundenplangestaltung schwieriger geworden sei als in früheren Jahren, sagt
Nicola von Greyerz, Präsidentin des Verbandes der bernischen Musikschulen. Dies
kann schlimmstenfalls zu Härtefällen führen: Man wisse von Beispielen, bei
denen «Schüler und Lehrerin kein Zeitfenster fanden und darum der
Instrumentalunterricht fallen gelassen werden musste», sagt Greyerz.
Die Konkurrenz mit anderen Freizeitangeboten habe sich verstärkt. Auch
der Berner Erziehungsdirektion ist «die Problematik bekannt». In anderen
Kantonen wie etwa Luzern hat das Volksschulamt ebenfalls «solche Rückmeldungen»
erhalten.
Freitagabend in Thun BE, Schulhaus Allmendingen, Dirigent Martin Schranz
(52) probt mit seiner Blasmusik. Auch zwei Jugendliche spielen mit. Keine
Selbstverständlichkeit in Zeiten der Nachwuchsprobleme: «Diese Entwicklung im
Kanton zu beobachten, zerreisst mir fast das Herz», sagt Schranz. Auch er
unterrichtet als Musiklehrer, auch er berichtet von einer Situation, die
langsam dramatisch werde: «Jeder Musiklehrer muss sich überlegen, wie er
überleben will.» Die unfreiwillige Siesta am Nachmittag, er kennt sie nur zu
gut. Vollzeit zu unterrichten, sei fast nicht mehr möglich.
Es bleibt still am 1. August
Dieser Zustand führt zu einer Negativspirale: Je weniger Kinder ein
Instrument beherrschen, desto weniger rücken in die Musikvereine nach – in
einem Land wie der Schweiz, wo ohne Dorfmusik keine Jubiläumsfeier steigt, wo
es vielerorts ohne Männerchor am 1. August still bleibt, ist dies eine fatale
Entwicklung.
«Wo sonst kann ein 16-Jähriger zusammen mit einem 70-Jährigen das
gleiche Hobby betreiben?», fragt Valentin Bischof, Präsident der Schweizer
Blasmusiker.
Das gemeinsame Musizieren in Musikvereinen, Orchestern und Chören dient
dem Zusammenhalt der Gesellschaft, ist Nicola von Greyerz überzeugt: «Wenn
immer weniger Kinder ein Instrument beherrschen oder nicht mehr richtig singen
lernen, dann geht dies verloren.»
Knappe Zeit, grosser hoher Leistungsdruck
Auch Bischof, oberster Blasmusiker des Landes, hat registriert, dass der
Stundenplan dichter geworden ist. Wenn er an den neuen Lehrplan denkt, hat er
gemischte Gefühle.
«Die Zeit am Nachmittag wird immer knapper, der Leistungsdruck aber
immer grösser», sagt Anna Fintelmann von der Schweizerischen Chorvereinigung.
Jeder Schüler müsse sich fragen, was er neben dem normalen Schulprogramm noch
schaffe. «Irgendwann kommt der Punkt, wo zwischen den Aktivitäten ausgewählt
werden muss», sagt sie. Diese Entwicklung habe sich über die Jahre verschärft.
Es gäbe Lösungen. Eine sieht vor, dass Schüler den Musikunterricht
kompensieren dürfen. Allerdings nur in Bereichen, in denen sie «auch mit reduziertem
Pensum deutlich mehr als die Grundansprüche erreichen», wie es in der Berner
Verordnung heisst – kurz: Wer nicht talentiert ist, hat Pech. Was die Zahlen
belegen: Bisher wurden im ganzen Kanton erst rund 200 solche Gesuche bewilligt,
bei 20'000 Schülern.
Mehr Unterricht vormittags, weniger nachmittags
Vielleicht gibt es aber auch eine viel einfachere Lösung. Und die findet
sich am Küchentisch der Familie Holler in Bern.
Der Vorschlag von Jan Holler, Bruder des Musiklehrers und Elternrat in
Bern: «Mehr Unterricht am Vormittag, weniger am Nachmittag.» Wenn am Morgen
fünf statt vier Lektionen unterrichtet würden, sei dies bereits hilfreich. Ohne
Frühstunden, einfach durch Straffung des Programms. In der föderalistischen
Schweiz seien es eben noch immer die Schulkommissionen, die am Stundenplan
tüfteln können. Jan Holler: «Eine Organisationssache.»
Nächstes Schuljahr kann er beweisen, was sein Modell taugt. Die Schule der eigenen Kinder erhielt eine entsprechende Ausnahmegenehmigung.
Wo waren die Musiklehrer, als über den Lehrplan 21 abgestimmt wurde?
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