17. September 2019

Homeschooling immer beliebter


Sind Eltern die besseren Lehrer? Die Frage gewinnt an Brisanz angesichts der Tatsache, dass die Anzahl der zu Hause unterrichteten Kinder markant zunimmt. Innerhalb von fünf Jahren hat sich deren Zahl in der Schweiz verdreifacht. Im Schuljahr 2018/19 waren es rund 2100 Kinder, die meisten im Kanton Bern (583), danach folgen die Kantone Waadt (gut 500), Aargau (288) und Zürich (240). Im laufenden Schuljahr gibt es noch mehr «Homeschooler» (allein in Bern plus 82), national dürften es mit Blick auf die – allerdings lückenhafte – Datenlage etwa 2500 sein.
Aus Misstrauen vor dem Staat: Immer mehr Eltern unterrichten ihre Kinder privat, NZZ, 16.9. von Jörg Krummenacher



Angst vor Verlust der Lernfreude

Damit machen die von ihren Eltern unterrichteten Kinder zwar nur 0,2 Prozent aller Volksschüler aus. Doch die Zunahme ist ein Indiz für ein wachsendes Unbehagen mancher Eltern gegenüber dem staatlichen Schulbetrieb. «Das meistgenannte Motiv für elterlichen Privatunterricht ist die Befürchtung, dass die natürliche Lernfreude der Kinder in der Schule verloren gehen könnte», sagt Willi Villiger. Er ist Oberstufenlehrer, Vater von zehn Kindern, die zu Hause unterrichtet wurden, und Präsident des Vereins Bildung zu Hause Schweiz. Der Verein verzeichnet laut Villiger «ein sanftes, jedoch stetes Wachstum» und zählt inzwischen 700 Mitglieder. Nachdem in den Anfangsjahren vor allem Familien mit christlichem Hintergrund die Bewegung geprägt hätten, stiessen heute zunehmend junge Familien mit mehreren Kindern hinzu, die ihre Zukunft strategisch planten und ihren Idealen «von Zusammenleben, Erziehung und Bildung» nachlebten.

In einer 2018 publizierten Masterarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz nennt Jana Hottiger denn auch die «Frommen» und die «Alternativen» als wichtigste Elterngruppen, die sich zumindest zeitweise dem staatlichen Schulsystem entziehen und Homeschooling bevorzugen. Die Autorin verweist einerseits auf die nach wie vor hohe Qualität der Volksschule in der Schweiz – gerade auch im internationalen Vergleich –, anderseits aber auf den von vielen als zu gross empfundenen Leistungsdruck. Zudem begünstigten individualisierende Tendenzen den Homeschooling-Gedanken stark.

«Heterogene Graswurzelbewegung»

Willi Villiger nennt einen weiteren Aspekt: «Die beinahe unerschöpflichen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters.» Bildungsinhalte liessen sich heute in multimedialer und professioneller Aufbereitung abrufen. Lehrkräfte würden zunehmend zu Coaches, die ihren Schützlingen Lernumgebungen anböten, welche diese selbstgesteuert und in ihrem eigenen Tempo durchwanderten. «Es ist dies auch weitgehend die Art», so Villiger, «wie Homeschool-Kinder zu Hause lernen können.»

Willi Villiger geht weit, wenn er sagt, der klassische Schulbetrieb in staatlichen oder privaten Schulen erscheine darob «in einem anachronistischen Licht». Doch er hat recht, wenn er auf die zunehmende Bedeutung des Homeschooling hinweist, für das sich auch diverse pädagogische Hochschulen interessieren. Diese zeichnen laut Villiger «das differenzierte Bild einer lebendigen und überaus heterogenen Graswurzelbewegung».

Wesentlich zurückhaltender äussert sich Dagmar Rösler, die neue Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Sie räumt zwar ein, dass der Unterricht zu Hause in Ausnahmesituationen durchaus Sinn ergeben könne, etwa wenn ein Kind krank sei oder spezielle Rahmenbedingungen brauche. Homeschooling-Kinder verpassten jedoch «die Erlebnisse in der Gemeinschaft, die sie stärken und gesellschaftstauglich machen». Zudem könnten sich nur gutsituierte Familien Homeschooling leisten. «Dies ist aus Sicht des LCH eine starke Schwächung der Chancengerechtigkeit in der Bildung unserer Kinder.»

Von Kanton zu Kanton verschieden

Im Zeitalter schulischer Harmonisierung sticht das Homeschooling jedenfalls als Relikt föderaler Eigenheiten heraus. In keinem anderen Bereich zeigt sich noch so deutlich, dass die Volksschule in der Schweiz Sache der Kantone ist. Beim Homeschooling können sie ihre Autonomie ausleben: Während einzelne Kantone den Eltern mehr oder weniger freie Hand lassen und lediglich eine Meldepflicht kennen, verunmöglichen andere Kantone de facto die Beschulung zu Hause.

Besonders liberal zeigt sich etwa der Kanton Bern, der zwar eine Bewilligung, von den Eltern aber keine Lehrberechtigung verlangt. Die Bewilligung wird äusserst grosszügig erteilt, so dass Bern quasi zum Homeschooling-Mekka der Deutschschweiz geworden ist. Auch die meisten Westschweizer pflegen eine grosszügige Praxis. Der Kanton Zürich tut dies zwar auch, geht aber einen Mittelweg, indem er ab dem zweiten Jahr des Homeschooling den Nachweis eines Lehrdiploms verlangt. In diversen Kantonen gilt diese Anforderung bereits ab dem ersten Homeschooling-Jahr.

Als besonders restriktiv gelten hingegen die Kantone Uri und Tessin. Auch St. Gallen, das von den Eltern an sich kein Lehrpatent verlangt, gehört zu den Hardlinern bezüglich Homeschooling: In den letzten zehn Jahren erteilte der dafür zuständige Erziehungsrat keine einzige Bewilligung. Homeschooling hänge eben «stark vom Wohlwollen einzelner Beamter in den Bildungsdepartementen und von der Politik ab», kommentiert Willi Villiger. Immerhin stellt er bei einzelnen Kantonen «eine vorsichtige Öffnung» fest.

Motion verlangt Harmonisierung

Angesichts der föderalen Polyfonie überrascht der Ruf nach Harmonisierung auch in diesem Bereich nicht. Der Berner SP-Nationalrat Adrian Wüthrich hat im März eine Motion eingereicht, die den Bundesrat verpflichten will, minimale national gültige Regeln für den Unterricht zu Hause aufzustellen. Der Bundesrat will allerdings nichts davon wissen und hat in seiner Antwort – analog zur bundesgerichtlichen Praxis – auf die Souveränität der Kantone verwiesen: Die Regelung des privaten Unterrichts sei nicht Gegenstand der in der Bundesverfassung vorgesehenen Harmonisierung im Schulwesen. Noch harrt die Motion ihrer Behandlung im Rat, doch ist abzusehen, dass Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, auch künftig notfalls den Kanton wechseln müssen.

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