Sind Eltern die besseren
Lehrer? Die Frage gewinnt an Brisanz angesichts der Tatsache, dass die Anzahl
der zu Hause unterrichteten Kinder markant zunimmt. Innerhalb von fünf Jahren
hat sich deren Zahl in der Schweiz verdreifacht. Im Schuljahr 2018/19 waren es
rund 2100 Kinder, die meisten im Kanton Bern (583), danach folgen die Kantone
Waadt (gut 500), Aargau (288) und Zürich (240). Im laufenden Schuljahr gibt es
noch mehr «Homeschooler» (allein in Bern plus 82), national dürften es mit
Blick auf die – allerdings lückenhafte – Datenlage etwa 2500 sein.
Aus Misstrauen vor dem Staat: Immer mehr Eltern unterrichten ihre Kinder privat, NZZ, 16.9. von Jörg Krummenacher
Angst vor Verlust der Lernfreude
Damit machen die von ihren
Eltern unterrichteten Kinder zwar nur 0,2 Prozent aller Volksschüler aus. Doch
die Zunahme ist ein Indiz für ein wachsendes Unbehagen mancher Eltern gegenüber
dem staatlichen Schulbetrieb. «Das meistgenannte Motiv für elterlichen
Privatunterricht ist die Befürchtung, dass die natürliche Lernfreude der Kinder
in der Schule verloren gehen könnte», sagt Willi Villiger. Er ist
Oberstufenlehrer, Vater von zehn Kindern, die zu Hause unterrichtet wurden, und
Präsident des Vereins Bildung zu Hause Schweiz. Der Verein verzeichnet laut
Villiger «ein sanftes, jedoch stetes Wachstum» und zählt inzwischen 700
Mitglieder. Nachdem in den Anfangsjahren vor allem Familien mit christlichem
Hintergrund die Bewegung geprägt hätten, stiessen heute zunehmend junge
Familien mit mehreren Kindern hinzu, die ihre Zukunft strategisch planten und
ihren Idealen «von Zusammenleben, Erziehung und Bildung» nachlebten.
In einer 2018 publizierten Masterarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz nennt
Jana Hottiger denn auch die «Frommen» und die «Alternativen» als wichtigste
Elterngruppen, die sich zumindest zeitweise dem staatlichen Schulsystem
entziehen und Homeschooling bevorzugen. Die Autorin verweist einerseits auf die
nach wie vor hohe Qualität der Volksschule in der Schweiz – gerade auch im
internationalen Vergleich –, anderseits aber auf den von vielen als zu gross
empfundenen Leistungsdruck. Zudem begünstigten individualisierende Tendenzen
den Homeschooling-Gedanken stark.
«Heterogene Graswurzelbewegung»
Willi Villiger nennt einen
weiteren Aspekt: «Die beinahe unerschöpflichen Möglichkeiten des digitalen
Zeitalters.» Bildungsinhalte liessen sich heute in multimedialer und
professioneller Aufbereitung abrufen. Lehrkräfte würden zunehmend zu Coaches,
die ihren Schützlingen Lernumgebungen anböten, welche diese selbstgesteuert und
in ihrem eigenen Tempo durchwanderten. «Es ist dies auch weitgehend die Art»,
so Villiger, «wie Homeschool-Kinder zu Hause lernen können.»
Willi Villiger geht weit,
wenn er sagt, der klassische Schulbetrieb in staatlichen oder privaten Schulen
erscheine darob «in einem anachronistischen Licht». Doch er hat recht, wenn er
auf die zunehmende Bedeutung des Homeschooling hinweist, für das sich auch diverse
pädagogische Hochschulen interessieren. Diese zeichnen laut Villiger «das
differenzierte Bild einer lebendigen und überaus heterogenen
Graswurzelbewegung».
Wesentlich zurückhaltender
äussert sich Dagmar Rösler, die neue Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen
und Lehrer Schweiz (LCH). Sie räumt zwar ein, dass der Unterricht zu Hause in
Ausnahmesituationen durchaus Sinn ergeben könne, etwa wenn ein Kind krank sei
oder spezielle Rahmenbedingungen brauche. Homeschooling-Kinder verpassten
jedoch «die Erlebnisse in der Gemeinschaft, die sie stärken und
gesellschaftstauglich machen». Zudem könnten sich nur gutsituierte Familien
Homeschooling leisten. «Dies ist aus Sicht des LCH eine starke Schwächung der
Chancengerechtigkeit in der Bildung unserer Kinder.»
Von Kanton zu Kanton verschieden
Im Zeitalter schulischer
Harmonisierung sticht das Homeschooling jedenfalls als Relikt föderaler Eigenheiten heraus. In
keinem anderen Bereich zeigt sich noch so deutlich, dass die Volksschule in der
Schweiz Sache der Kantone ist. Beim Homeschooling können sie ihre Autonomie
ausleben: Während einzelne Kantone den Eltern mehr oder weniger freie Hand
lassen und lediglich eine Meldepflicht kennen, verunmöglichen andere Kantone de
facto die Beschulung zu Hause.
Besonders liberal zeigt sich etwa der Kanton Bern, der zwar eine Bewilligung,
von den Eltern aber keine Lehrberechtigung verlangt. Die Bewilligung wird
äusserst grosszügig erteilt, so dass Bern quasi zum Homeschooling-Mekka der
Deutschschweiz geworden ist. Auch die meisten Westschweizer pflegen eine
grosszügige Praxis. Der Kanton Zürich tut dies zwar auch, geht aber einen
Mittelweg, indem er ab dem zweiten Jahr des Homeschooling den Nachweis eines
Lehrdiploms verlangt. In diversen Kantonen gilt diese Anforderung bereits ab
dem ersten Homeschooling-Jahr.
Als besonders restriktiv gelten hingegen die Kantone Uri und Tessin. Auch St. Gallen, das von den Eltern an sich kein Lehrpatent verlangt, gehört zu den Hardlinern bezüglich Homeschooling: In den letzten zehn Jahren erteilte der dafür zuständige Erziehungsrat keine einzige Bewilligung. Homeschooling hänge eben «stark vom Wohlwollen einzelner Beamter in den Bildungsdepartementen und von der Politik ab», kommentiert Willi Villiger. Immerhin stellt er bei einzelnen Kantonen «eine vorsichtige Öffnung» fest.
Motion verlangt Harmonisierung
Angesichts der föderalen
Polyfonie überrascht der Ruf nach Harmonisierung auch in diesem Bereich nicht.
Der Berner SP-Nationalrat Adrian Wüthrich hat im März eine Motion eingereicht, die den
Bundesrat verpflichten will, minimale national gültige Regeln für den
Unterricht zu Hause aufzustellen. Der Bundesrat will allerdings nichts davon
wissen und hat in seiner Antwort – analog zur bundesgerichtlichen Praxis – auf
die Souveränität der Kantone verwiesen: Die Regelung des privaten Unterrichts
sei nicht Gegenstand der in der Bundesverfassung vorgesehenen Harmonisierung im
Schulwesen. Noch harrt die Motion ihrer Behandlung im Rat, doch ist abzusehen,
dass Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, auch künftig
notfalls den Kanton wechseln müssen.
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