11. August 2019

Bubenfeindliche Schule


Tausende Kinder betreten am Montag eine neue Welt: In mehreren Kantonen findet der erste Schultag statt. Wie gut die Buben und Mädchen in der Schule abschneiden werden, liegt allerdings nicht nur an ihrem Engagement, Können oder ihrer Intelligenz. Nein, auch das Geschlecht spielt eine Rolle. Der Schulerfolg ist weiblich. 
Wie bubenfeindlich ist die Schule? Schweiz am Wochenende, 10.8. von Yannick Nock


«Buben sind die Bildungsverlierer des vergangenen Jahrzehnts», sagt Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. Die vielen Schulreformen und die Einführung des Lehrplans 21 hätten sich ganz nach Bedürfnisse der Mädchen gerichtet. Soziale und emotionale Kompetenzen wurden gestärkt, selbstgesteuertes Lernen hat an Bedeutung gewonnen und auch die Sprachen erhielten höheres Gewicht. Für Buben alles andere als eine ideale Basis. «Sie profitieren stärker von einer klaren Struktur und vom Frontalunterricht», sagt Guggenbühl. Doch der gelte je länger, je mehr als veraltet. 

Schon vor Jahren warnte der Jugendpsychologe in seinem Buch «Kleine Machos in der Krise» vor den Folgen der Feminisierung des Klassenzimmers. Ein Trend, der noch immer anhält. «Die Schule lässt Buben heute nicht mehr Buben sein», bilanziert Guggenbühl. Ihre Unruhe werde als Problem empfunden, ihre Provokationen gälten als soziale Inkompetenz. Mädchen hingegen würden schneller realisieren, was von ihnen verlangt werde. Ausserdem seien sie kommunikativer. Das komme ihnen zugute. «Buben wollen nicht gefallen, sondern in den Klassen etwas erleben.» Viele Knaben hätten in der Schule das Gefühl, sie seien auf fremdem Territorium. »Würden Mädchen so diskriminiert, gäbe es einen Aufschrei.» 

Neun von zehn Lehrerkräften sind auf der Primarstufe Frauen 
Ein Grund liegt in der gesellschaftlichen Entwicklung. «Geschlechtsunterschiede gelten heute als Konstrukt», sagt Guggenbühl. Das Dogma laute: Ob Bub oder Mädchen spielt keine Rolle. Doch das sei in der Praxis anders. «Es gibt unterschiedliche Interessen und Einstellungen.» Bereits in der Lehrerausbildung sollte man deshalb viel mehr thematisieren, was Buben und was Mädchen anspricht, fordert der Jugendpsychologe. 

Die Statistiken untermauern den Siegeszug der Mädchen. Während jedes Jahr ungefähr gleich viele Buben wie Mädchen eingeschult werden, ist der Erfolg ungleich verteilt. Nicht nur, dass Mädchen in der Regel bessere Noten erhalten, wie mehrere Studien belegen. Sie sind auch in der höheren Bildung erfolgreicher. Die gymnasiale Maturitätsquote von Frauen liegt bei 25 Prozent, jene der Männer bei 17 Prozent. Dabei besuchten vor 1990 noch mehr Buben als Mädchen ein Gymnasium. Auch bei den landesweit 153 000 Studierenden sind Frauen in der Mehrheit. So liegt das Verhältnis auf dem Campus der grössten Hochschule des Landes, der Universität Zürich, bei 58 zu 42 Prozent. Studentinnen dominieren die Bildungsstätten. 

Hinzu kommt, dass das Schulpersonal in der 1. bis 6. Klasse fast ausschliesslich weiblich ist. Knapp neun von zehn Lehrkräften auf der Primarstufe sind gemäss aktuellem Bildungsbericht Frauen (86 Prozent). Die Zahl wird oft angeführt, wenn von der «Knaben-Krise» und der «Feminisierung der Schulen» die Rede ist. Es gibt Kinder, die vom Kindergarten bis zur Oberstufe nie von einem Mann unterrichtet wurden. Eltern, Politiker und Bildungsexperten fordern deshalb mehr Männer in den Klassenzimmern. Die Kinder würden von Bezugspersonen beider Geschlechter profitieren, lautet das Hauptargument. Nur: Hilft das wirklich? 

Angst vor Traumatisierung bremst den Unterricht 
Die Forschung zeichnet ein anderes Bild: Das Geschlecht des Lehrers wirkt sich nicht auf die Leistung der Buben und Mädchen aus. Entscheidend ist vielmehr die Unterrichtsmethode. Guggenbühl, der mehrere Schulen beraten hat, empfiehlt, die Kinder auch mal zu reizen. «Buben lernen gerne, wenn sie herausgefordert werden.» So könnten in der Mathematik besonders schwere Aufgaben gestellt werden mit der Frage: «Wer schaffte es?» Ein guter Ansatzpunkt sei auch das Aussergewöhnliche. «Buben interessieren sich für Extreme», sagt er, «zum Beispiel für Schlachten und Katastrophen.» Doch anstatt diese im Geschichtsunterricht zu thematisieren, würden sie heute abgeschwächt, aus Angst die Kinder zu traumatisieren. 

«Wer sich anpasst, ist erfolgreich, wer auffällt, der bekommt Probleme», sagt Guggenbühl, der mit vielen Buben zu tun hatte, die aus dem Bildungssystem gefallen sind. Doch Schulversagen bedeute nicht Misserfolg im Leben. «Wodurch sind denn ganz neue Industrien entstanden?», fragt Guggenbühl und gibt die Antwort gleich selbst: «Durch verrückte Ideen von Menschen wie Steve Jobs oder Bill Gates». Dabei galten beide in der Schule als schwierig. Gates machte nicht einmal den Schulabschluss. 

Die Schweiz, das Land der Ritalin-Kinder 
Auch Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm sieht Buben im Nachteil – manchmal bereits vor dem ersten Schultag. Lebhafte Knaben würden schnell als unreif gelten und deswegen oft erst später eingeschult. Dabei sei mit ihnen alles in Ordnung. «Nur weil ein Kind willensstark oder vorlaut ist, ist es noch lange nicht verhaltensauffällig», sagt sie. Doch für viele Schulen sind sie genau das. 

Die Zahl der Kinder, bei denen ein Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) diagnostiziert wurde, ist stark angestiegen. Meistens handelt es sich dabei um Buben. Die Folge: Sie müssen Ritalin schlucken und werden in Therapien geschickt. Für Stamm ein Fehler. «Dass Buben auf dem Pausenplatz mal miteinander raufen, sollte kein Problem sein.» Doch statt das Verhalten zu akzeptieren, landen die Kinder beim Psychologen oder es werden ihnen Medikamente verschrieben. Eine Entwicklung, die bereits die UNO auf den Plan rief. 

2015 kritisierte der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen die hiesige Verschreibungspraxis. Sie sei «exzessiv», hiess es im Bericht, der mehrere Länder miteinander verglich. «Die Schweiz, das Land der Ritalin-Kinder» titelten die Zeitungen, Politiker forderten Aufklärung. Gebrochen wurde der Trend bisher nicht. «Die Kinderpsychiatrischen Dienste platzen aus allen Nähten», sagt Stamm. 

Doch auch die Buben selbst tragen dazu bei, dass sie den Mädchen hinterherhinken. Sie verzichten manchmal bewusst auf mehr Engagement. «In einigen Knabengruppen gilt Schulerfolg als unmännlich», sagt Stamm. Besonders cool sei hingegen, wer den Unterricht störe und den Klassenkasper spiele. Bei Mädchen sei das anders. «Wenn sie im Unterricht mitarbeiten, machen sie sich keinesfalls unbeliebt, wohl aber, wenn sie negativ auffallen.»

Lediglich die Feminisierung der Schule anzuprangern, greife deshalb zu kurz, sagt Stamm. Es gehe darum, den Buben früh klarzumachen, dass schulkonformes Verhalten keine weibliche Tugend sei, von der sie sich abgrenzen müssten. «Am besten können das männliche Vorbilder vermitteln.» Das müsste keineswegs immer der Lehrer sein, sagt Stamm. Vor allem Väter und Grossväter könnten diese Rolle übernehmen, aber auch ein Trainer oder ein Idol mit einem guten Schulabschluss. Damit alle Kinder schon am ersten Schultag mit den besten Voraussetzungen starten.

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