Eigentlich weiss man es
schon lange, wahrhaben will es fast niemand: Viele Primarschülerinnen und
-schüler sind mit zwei Fremdsprachen überfordert. Doch die Verantwortlichen
stört kein Zweifel; sie sind gegen das Offenkundige immun.
So schrieb die «NZZ
am Sonntag» vor einiger Zeit: «Bildungspolitiker kämpfen mit
allen möglichen Mitteln für das Frühfranzösisch. Wissenschafter, die den Nutzen
anzweifeln, werden unter Druck gesetzt und diskreditiert.» Das erinnert an
Christian Morgensterns messerscharfen Schluss, dass «nicht sein kann, was nicht
sein darf».
Für viele Primarschulkinder sind zwei Fremdsprachen zu viel, NZZaS, 23.6. von Carl Bossard
Misere
im Französisch
Drastische Defizite
beklagen auch die Basler Sekundar- und Gymnasiallehrer. Das gegenwärtige
Fremdsprachenkonzept führe unweigerlich zu einer Misere beim Französisch. Ein
Zuviel erdrückt; man tut nichts mehr richtig.
Wichtiger wäre, so der
ehemalige Mittelschullehrer und SP-Grossrat Daniel Goepfert, das Gewicht auf
«sattelfestes Erlernen der deutschen Sprache zu legen» und Französisch
zugunsten des Grundlagenfachs Deutsch aufzuschieben. Das stärkt auch
leistungsschwächere Kinder, ohne die starken zu schwächen.
Wer in der globalisierten
Welt modernitätsfähig sein will, braucht eine Fremdsprachenqualifikation. In
der Schweiz gehört dazu eine zweite Landessprache. Und da Englisch ohnehin zur
Lingua franca geworden ist, sollten die Kinder – zusätzlich zur
Deutschkompetenz – mindestens doppelsprachig sein. Hier herrscht Konsens.
Doch wann soll mit dem
Fremdsprachenlernen begonnen werden? Und wie steht es um die Standardsprache
Deutsch? Für viele ist sie ja auch eine Art Fremdsprache, zumal man weiss: Fast
jeder fünfte Schüler verlässt unsere Schulen, ohne dass er richtig lesen und
schreiben kann. Eine offene Wunde unserer Gesellschaft!
English
first
Frühfranzösisch lässt sich
nicht isoliert betrachten. Zu viele Positionen stehen sich hier diametral
gegenüber. Zwei Fremdsprachen bereits in der Primarschule, das fordern die
Kosmopoliten. Und ohne Frühfranzösisch bröckle der Kitt der föderalen Schweiz,
bekräftigen die offizielle Schulpolitik und der Lehrplan 21. Das sei zu viel,
argumentieren erfahrene Pädagogen. Sie verweisen auf die Fächerfülle, die
begrenzte Übungszeit und den Sprachverlust in der Muttersprache.
Fremdsprachen in der
Volksschule waren lange Zeit Domäne der Sekundarstufe I, die vom 7. bis zum
9. Schuljahr dauert. Die Primarschule beschränkte sich auf wenige Kernfächer.
Ab den neunziger Jahren führten dann fast alle Deutschschweizer Kantone
Primarschulfranzösisch ein, während die welschen Stände den Deutschunterricht
vorverlegten.
2000 überraschte der
Zürcher Bildungsdirektor und Reformturbo Ernst Buschor mit seinem
Brachialentscheid: English first. Frühenglisch vor Frühfranzösisch hiess seine
Devise. Darum haben wir heute in den ersten sechs Volksschuljahren zwei
zusätzliche Sprachen. Einzig Appenzell Innerrhoden verzichtet in der
Primarstufe auf eine zweite Fremdsprache.
Je
früher, desto besser?
Die Alternative
Französisch oder Englisch ist verquer. Denn beides ist wichtig – und was
wichtig ist, muss richtig getan werden. Doch über den richtigen Zeitpunkt und
die Intensität scheiden sich die Geister. Lange Zeit war der Grundsatz
unbestritten: je früher, desto besser. Das ist nicht prinzipiell falsch.
Fraglos lernen Kinder vieles leichter als Erwachsene. Das zeigt sich bei
Jugendlichen, die zweisprachig aufwachsen.
Ganz anders aber verhält
sich die Situation im Klassenverband mit wenigen Wochenlektionen. Eine Zentralschweizer
Studie von 2016schockierte: Nur jeder 30. Achtklässler spricht
lehrplangerecht Französisch; nicht einmal jeder Zehnte erreicht die Lernziele
im Hörverstehen.
Unbefriedigend sehen die
Resultate auch beim Lesen und Schreiben aus. Da wird klar: Wenn Bildungsidee
und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Manchen
jungen Menschen verleidet darum Französisch.
Zuerst
scharfzüngig Deutsch
Die Appenzell Innerrhödler
machen das Gleiche anders – und mit Erfolg: Sie verlegten den
Französischunterricht von der Primar- in die Sekundarstufe und unterrichten
hier mit hoher Kadenz. Sie befreiten die Primarschule von Französisch und
gewannen Zeit fürs Kernfach Deutsch. Weniger ist mehr. Denn fürs Erlernen einer
Fremdsprache braucht es präzise Kenntnisse und automatisierte
Ausdrucksfähigkeiten der Muttersprache.
Anders gesagt: besser
zuerst scharfzüngig Deutsch als vielzüngig, aber ungenau! Viele erfahrene
Lehrpersonen wissen das. Doch die Bildungspolitik hörte nicht auf sie.
Vielleicht nimmt sie dafür die Basler Professoren ernst - und mit ihnen auch
viele Kinder. Die Appenzeller machen es vor.
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