26. Mai 2019

Zürich rätselt


Auch in Zürich haben über 3200 Primarschülerinnen und Sekundarschüler am Computerbildschirm Multiple-Choice-Antworten zu kurzen Texten angeklickt oder mathematische Ergebnisse eingetippt. Die gute Nachricht: Ihre durchschnittlichen Ergebnisse unterscheiden sich in keinem Fach signifikant vom Schweizer Durchschnitt. Sie liegen demnach bezüglich ihrer Grundkompetenzen in Mathematik und Sprachen im Mittelfeld. Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner (cvp.) – die als Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) am Freitagmorgen noch zu den nationalen Ergebnissen in Bern referierte – sprach denn nachmittags in Zürich auch von einem guten Ergebnis.
Nationaler Schulvergleich: Zürich liegt im Mittelfeld und rätselt über gewisse Besonderheiten, NZZ, 24.5. von Lena Schenkel

«Kopfzerbrechen» bereiteten ihr national wie kantonal die Ergebnisse im Fach Mathematik, über die sie zunächst «erschrocken» sei. Vor allem, weil man in der früheren internationalen Pisa-Studie im Fach Mathematik zu den Spitzenreitern gehöre. Zürich weicht dort auch im Schlechten kaum vom Schweizer Durchschnitt ab: Bloss 59 Prozent verfügen nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit über die geforderten Grundkompetenzen, sogar leicht weniger als die schweizweiten 62. Ausserdem unterscheiden sich die Zürcher Werte beträchtlich nach Schultyp. Während an den Gymnasien 99 Prozent die in Mathematik geforderten nationalen Bildungsziele erreichen, sind es an den C-Abteilungen der Sekundarschule lediglich 4 Prozent. Auch auf der nächsthöheren Anforderungsstufe, der Abteilung B, verfügt nicht einmal ein Viertel (23%) über die nach Abschluss der Sekundarstufe geforderten Grundkompetenzen.

Schwierige Vergleichbarkeit

Das liege aber auch an der sehr kleinen Gruppe von Sek-C-Schülerinnen, die im Gegensatz zu der viel grösseren Gruppe von Gymnasiasten erhoben wurden, sagte die stellvertretende Chefin Bildungsplanung Sybille Bayard beschwichtigend vor den Medien und brachte damit gewisse Vorbehalte ein. Auch die Bildungsdirektorin sah deswegen das Schulsystem der Sekundarstufe noch nicht infrage gestellt. «Ein Sek-C-Schüler muss naturgemäss schlechter abschneiden als eine Gymnasiastin», sagte sie. Das schliesse überdies nicht aus, dass manche nach der obligatorischen Schulzeit noch aufholten, sagte Steiner und verwies auf das durchlässige Schweizer Bildungssystem. «Wir können nicht den Anspruch haben, dass alle zum gleichen Zeitpunkt gleich weit sind», stellte sie klar.

Silvia Steiner zeigte sich auch sehr zurückhaltend in Bezug auf zu ergreifende Massnahmen. Vieles sei schon auf den Weg gebracht, aber in den Erhebungen von 2016 und 2017 noch nicht abgebildet. So ist etwa der harmonisierte Lehrplan in Zürich erst im letzten Jahr eingeführt worden. Verbesserungen verspricht sich der Kanton auch vom Pilotprojekt Alle, kurz für aktive Lernzeit und Lernerfolg. Es ist mit einer Weiterbildung für das Lehrpersonal und Klassenassistenzen darauf ausgelegt, die Leistungsschwachen in den Fächern Deutsch und Mathematik zu fördern, ohne die Leistungsstarken zu vernachlässigen. Zudem will der Kanton die frühe Förderung stärken, um die Startvoraussetzungen beim Kindergarteneintritt für benachteiligte Kinder zu verbessern.

Ausländeranteil irrelevant

Im schweizerischen Mittel verfügten 30,6 Prozent der getesteten Schüler über einen Migrationshintergrund, in Zürich 39 Prozent der geprüften Primar- und 34 Prozent der Sekundarschülerinnen. Die Vermutung, dass Zürich deswegen je nach Blickwinkel «nur» oder «trotzdem» im nationalen Mittelfeld liegt, lässt sich dagegen nicht bestätigen. Die jeweilige Schülerzusammensetzung vermöge die Unterschiede zwischen den Kantonen kaum zu erklären, hält die EDK fest (vgl. Haupttext). Zudem sind in Zürich in den letzten Jahren im Gegensatz zu anderen Kantonen viele Hochqualifizierte eingewandert. So erklärt sich, dass die Schüler mit Migrationshintergrund der ersten Generation bei den Mathematikaufgaben in Zürich erstaunlicherweise sogar besser abschnitten als jene der zweiten. Das Beispiel zeigt, wie schnell man sowohl in der innerkantonalen als auch der interkantonalen Gegenüberstellung Äpfel mit Birnen vergleicht.

Der wissenschaftliche Bericht legt aber dar, inwiefern die individuellen Merkmale der Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse beeinflussen. Erhoben wurden die soziale Herkunft, der Migrationsstatus, die zu Hause gesprochene Sprache und das Geschlecht. Wenig erstaunlich erwies sich dabei die soziale Herkunft als Merkmal mit dem stärksten Einfluss. Erstaunlich ist allerdings, dass die Merkmale nicht überall gleich wirken. So war das Merkmal soziale Herkunft auffallend häufig «nur im Kanton Zürich statistisch signifikant», namentlich beim Lesen und bei der Orthographie der Schulsprache sowie dem Hörverstehen der ersten Fremdsprache, also Englisch.

Faktor urbanes Umfeld

Hat Zürich demnach ein grösseres Problem mit der Bildungsgerechtigkeit als bisher angenommen? Silvia Steiner warnt vor voreiligen Schlüssen: Dieser Effekt spiele in Zürich zwar offenbar stärker, aber noch sei völlig unklar, warum. «Wir müssen das sehr genau anschauen», sagte sie am Rande des Medienanlasses. Solche Faktoren dürften nie isoliert betrachtet werden, sondern spielten immer mit anderen zusammen. Denkbar sei sogar, dass die soziale Herkunft in einem städtischen Kanton stärker ins Gewicht falle als in einem ländlichen. Das seien jedoch bloss unqualifizierte Mutmassungen: «Das sind Fragen, die wir nun an die Wissenschaft stellen werden.»

Fragezeichen hat die Bildungsdirektion auch bei der statistischen Anlage der Erhebung, denn, anders als etwa im kleinen Appenzell Innerrhoden, wurde in Zürich nicht die gesamte Schülerschaft, sondern nur eine repräsentative Zahl geprüft. Der Kanton will die Zürcher Ergebnisse deshalb vertiefter analysieren und verifizieren. Er will sie etwa mit anderen Erhebungen wie den Pisa-Studien und eigenen Studien abgleichen, um aussagekräftigere Schlüsse ziehen zu können.


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