«Lehrer haben am Vormittag recht und am Nachmittag frei.»
Es ist zwar nur ein Witz,aber er steht sinnbildlich für die weit verbreitete
Meinung, wonach Lehrpersonen zu viel Freizeit und Ferien haben. Heute möge er
nicht mehr darüber lachen – zu gross seien die Belastungen im Schulzimmer, sagt
Beat W.Zemp, der langjährige Präsident des Lehrerverbands LCH. Dieser hat
gestern die grösste Arbeitszeiterhebung für den Berufsstand präsentiert, die in
der Schweiz je durchgeführt wurde. Fast 11000 Deutschschweizer Teilnehmende
haben während einer Woche ihre Arbeitszeit genau protokolliert sowie generelle
Angaben zu ihrer Frei- und Ferienzeit gemacht. Die Befunde sind aus Sicht des
LCH alarmierend: Lehrerinnen aller Stufen leisten in der Deutschschweiz
durchschnittlich 13 Prozent unbezahlte Überzeit,ohne sie kompensieren zu können.
Lehrer arbeiten weniger und doch zu viel, Basler Zeitung, 9.5. von Raphaela Birrer
Je
nach Schulstufe arbeiten die Lehrpersonen auf ein 100-Prozent-Pensum gerechnet
zwischen 2086 und 2222 Jahresstunden statt der kantonal vorgegebenen
Referenzarbeitszeit von1916 Stunden.
Gesunkene Überstundenzahl
Auch der Mythos,
wonach Lehrer 13 Wochen Ferien hätten, lässt sich gemäss LCH mit der Studie nicht
aufrechterhalten: Die befragten Lehrpersonen beziehen
durchschnittlich 5,3 Wochen Ferien; in 7,7 Wochen arbeiten sie
18,8 Stunden, kompensieren also einen Teil der Überzeit aus den Unterrichtswochen.
Die repräsentative Studie zeigt allerdings auch auf, dass
die Zahl der Überstunden seit der letzten Erhebung vor zehn Jahren deutlich gesunken
ist – um 40 Prozent.
Das liegt gemäss der Umfrage an der Einführung der
Schulleitungen und der Schulsozialarbeit. Dadurch werden die administrativen
Arbeiten effizienter organisiert und die
Lehrpersonen im Umgang mit sozialen Schwierigkeiten in den Klassen entlastet.Gleichzeitig finden
heute weniger Weiterbildungen statt, weil die grossen Schulreformen zu Beginn
des Jahrtausends mittlerweile etabliert sind.
Für den Verband ist dieser Befund aber
trügerisch: Viele Lehrkräfte würden ihr Pensum reduzieren, um eine Überlastung
zu vermeiden, sagt Zentralsekretärin Franziska Peterhans.Nur rund ein Viertel der
Lehrpersonen arbeitet gemäss Studie Vollzeit.
Doch diese Strategie löse das Problem für die meisten Lehrerinnen
nicht. Demnach fallen proportional umso mehr Überstunden an, je tiefer das
Arbeitspensum ist.
Wer weniger als 50 Prozent angestellt ist, arbeitet 22 bis 25 Prozent
zu viel. Bei einem Vollzeitpensum
beträgt die Überzeit durchschnittlich nur 2 bis 3 Prozent.
Zuwenig Zeit für Unterricht
Das liege zum einen anTeamsitzungen oder Schulanlässen – Aufgaben, die sich nicht
an das Pensum angleichen lassen, so Peterhans. Zum anderen zeige
sich darin aber auch ein strukturelles Problem: Lehrpersonen mit weniger als 50
Stellenprozenten füllen ihre Sollarbeitszeit bereits mit dem Unterricht und
dessen Vor- und Nachbereitung aus. Mit der integrativen Schulung und der
Einführung des Lehrplans 21 seien zwar die Anforderungen an den Unterricht
gestiegen, doch die in den kantonalen Berufsaufträgen vorgesehene Zeit für die
unterrichtsbezogenenTätigkeitenseigleich geblieben. «Ein 100-Prozent
Pensum ist unter den heutigen Rahmenbedingungen kaum zu
leisten», sagt Peterhans.
Den Trend zur Teilzeitarbeit erachtet auch Beat W.
Zemp als problematisch, weil wegen der künftig steigenden Schülerzahlen
Tausende neue Lehrkräfte gefunden werden müssen. «Wird der Nachwuchs mehrheitlich
Teilzeit arbeiten, wird sich der Lehrermangel dramatisch
verschärfen.» Um die Lehrer zu entlasten, fordert der LCH weniger Pflichtlektionen,
mehr zeitliche Entlastung für Klassenlehrer, mehr Zeit für Elternarbeit und
generell keine unbezahlte Überzeit mehr.Via kantonale Verbände will er diese Anliegen
nun in die Politik tragen. Dort anerkennt man die Leistung der Lehrkräfte, wie
Silvia Steiner, Präsidentin der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz,
sagt. «Lehrpersonen sollten nicht mehr als das Verwaltungspersonal arbeiten müssen.»
Doch die Studie zeige auch,dass gerade Lehrerinnen mit hohen
Pensen mit ihrer Arbeitszeit auskämen. Zudem sei die Berufszufriedenheit in dieser
Gruppe am höchsten. «Deshalb müssen wir bemüht sein, dass wir weniger
Kleinstpensenhaben»,sagt Steiner.
Gemäss der Zürcher
Bildungsdirektorin nimmt in ihrem
Kanton der durchschnittliche Beschäftigungsgrad leicht, aber stetig zu.«Wir beobachten bei unseren
Auswertungen auch, dass Teilzeiteher eine Reaktion auf die familiäre Situation ist
als auf Überlastung.» Ihr Kanton lässt im Moment den Berufsauftrag untersuchen, um
festzustellen, wo es Verbesserungen braucht. Zemp hofft, dass andere Kantone
auch über die Bücher gehen werden. «Wir wollen unseren Kindern ja
nicht davon abraten müssen,diesen Beruf zu ergreifen.»
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