10. Mai 2019

Alarmierende Befunde zur Arbeitsbelastung


«Lehrer haben am Vormittag recht und am Nachmittag frei.» Es ist zwar nur ein Witz,aber er steht sinnbildlich für die weit verbreitete Meinung, wonach Lehrpersonen zu viel Freizeit und Ferien haben. Heute möge er nicht mehr darüber lachen – zu gross seien die Belastungen im Schulzimmer, sagt Beat W.Zemp, der langjährige Präsident des Lehrerverbands LCH. Dieser hat gestern die grösste Arbeitszeiterhebung für den Berufsstand präsentiert, die in der Schweiz je durchgeführt wurde. Fast 11000 Deutschschweizer Teilnehmende haben während einer Woche ihre Arbeitszeit genau protokolliert sowie generelle Angaben zu ihrer Frei- und Ferienzeit gemacht. Die Befunde sind aus Sicht des LCH alarmierend: Lehrerinnen aller Stufen leisten in der Deutschschweiz durchschnittlich 13 Prozent unbezahlte Überzeit,ohne sie kompensieren zu können.

Lehrer arbeiten weniger und doch zu viel, Basler Zeitung, 9.5. von Raphaela Birrer


Je nach Schulstufe arbeiten die Lehrpersonen auf ein 100-Prozent-Pensum gerechnet zwischen 2086 und 2222 Jahresstunden statt der kantonal vorgegebenen Referenzarbeitszeit von1916 Stunden. 

Gesunkene Überstundenzahl 
Auch der Mythos, wonach Lehrer 13 Wochen Ferien hätten, lässt sich gemäss LCH mit der Studie nicht aufrechterhalten: Die befragten Lehrpersonen beziehen durchschnittlich 5,3 Wochen Ferien; in 7,7 Wochen arbeiten sie 18,8 Stunden, kompensieren also einen Teil der Überzeit aus den Unterrichtswochen. Die repräsentative Studie zeigt allerdings auch auf, dass die Zahl der Überstunden seit der letzten Erhebung vor zehn Jahren deutlich gesunken ist – um 40 Prozent. 

Das liegt gemäss der Umfrage an der Einführung der Schulleitungen und der Schulsozialarbeit. Dadurch werden die administrativen Arbeiten effizienter organisiert und die Lehrpersonen im Umgang mit sozialen Schwierigkeiten in den Klassen entlastet.Gleichzeitig finden heute weniger Weiterbildungen statt, weil die grossen Schulreformen zu Beginn des Jahrtausends mittlerweile etabliert sind. 

Für den Verband ist dieser Befund aber trügerisch: Viele Lehrkräfte würden ihr Pensum reduzieren, um eine Überlastung zu vermeiden, sagt Zentralsekretärin Franziska Peterhans.Nur rund ein Viertel der Lehrpersonen arbeitet gemäss Studie Vollzeit. Doch diese Strategie löse das Problem für die meisten Lehrerinnen nicht. Demnach fallen proportional umso mehr Überstunden an, je tiefer das Arbeitspensum ist. 

Wer weniger als 50 Prozent angestellt ist, arbeitet 22 bis 25 Prozent zu viel. Bei einem Vollzeitpensum beträgt die Überzeit durchschnittlich nur 2 bis 3 Prozent. 

Zuwenig Zeit für Unterricht 
Das liege zum einen anTeamsitzungen oder Schulanlässen – Aufgaben, die sich nicht an das Pensum angleichen lassen, so Peterhans. Zum anderen zeige sich darin aber auch ein strukturelles Problem: Lehrpersonen mit weniger als 50 Stellenprozenten füllen ihre Sollarbeitszeit bereits mit dem Unterricht und dessen Vor- und Nachbereitung aus. Mit der integrativen Schulung und der Einführung des Lehrplans 21 seien zwar die Anforderungen an den Unterricht gestiegen, doch die in den kantonalen Berufsaufträgen vorgesehene Zeit für die unterrichtsbezogenenTätigkeitenseigleich geblieben. «Ein 100-Prozent
Pensum ist unter den heutigen Rahmenbedingungen kaum zu leisten», sagt Peterhans. 

Den Trend zur Teilzeitarbeit erachtet auch Beat W. Zemp als problematisch, weil wegen der künftig steigenden Schülerzahlen Tausende neue Lehrkräfte gefunden werden müssen. «Wird der Nachwuchs mehrheitlich Teilzeit arbeiten, wird sich der Lehrermangel dramatisch verschärfen.» Um die Lehrer zu entlasten, fordert der LCH weniger Pflichtlektionen, mehr zeitliche Entlastung für Klassenlehrer, mehr Zeit für Elternarbeit und generell keine unbezahlte Überzeit mehr.Via kantonale Verbände will er diese Anliegen nun in die Politik tragen. Dort anerkennt man die Leistung der Lehrkräfte, wie Silvia Steiner, Präsidentin der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, sagt. «Lehrpersonen sollten nicht mehr als das Verwaltungspersonal arbeiten müssen.» Doch die Studie zeige auch,dass gerade Lehrerinnen mit hohen Pensen mit ihrer Arbeitszeit auskämen. Zudem sei die Berufszufriedenheit in dieser Gruppe am höchsten. «Deshalb müssen wir bemüht sein, dass wir weniger Kleinstpensenhaben»,sagt Steiner. 

Gemäss der Zürcher Bildungsdirektorin nimmt in ihrem Kanton der durchschnittliche Beschäftigungsgrad leicht, aber stetig zu.«Wir beobachten bei unseren Auswertungen auch, dass Teilzeiteher eine Reaktion auf die familiäre Situation ist als auf Überlastung.» Ihr Kanton lässt im Moment den Berufsauftrag untersuchen, um festzustellen, wo es Verbesserungen braucht. Zemp hofft, dass andere Kantone auch über die Bücher gehen werden. «Wir wollen unseren Kindern ja nicht davon abraten müssen,diesen Beruf zu ergreifen.»

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen