Seit einem Jahr läuft die Einführung des Fachs
Medien und Informatik. Millionen werden investiert, Tausende Lehrer
ausgebildet. Lernen die Kinder das Richtige, oder wird bloss gespielt? Die
Meinungen gehen auseinander.
Die Mission Informatik an den Schulen ist gestartet, NZZaS, 7.4. von René Donzé
Beinahe wäre dem Fotografen die Drohne an den Kopf geflogen. Das
Fluggerät stoppt, fliegt rückwärts, landet. Ein Lehrer lacht. In einem kahlen
Zimmer der Pädagogischen Hochschule Zürich übt eine Gruppe von Lehrern den
Einsatz von Drohnen im Unterricht. Ein Sirren liegt in der Luft. Zwei Drohnen
stossen zusammen, eine andere macht eine Punktlandung auf der Hand.
Der Dozent fragt, wo und wie die Lehrer die Dinger im Unterricht
einsetzen könnten. «In der Begabtenförderung», sagt eine. «Als Spassfaktor»,
sagt ein anderer. «Es ist einfach ein Toy mehr, dass du programmieren kannst»,
meint ein Dritter.
Der Kurs ist kein reguläres Angebot der Hochschule, sondern findet im
Rahmen der Zürcher Informatiktage statt. Hier wird gezeigt, was alles möglich
wäre im Unterricht. Die Lehrer fügen auf dem Bildschirm farbige, puzzleartige
Teile zusammen – Befehle ans Fluggerät: Starten, steigen, drehen, vorwärts,
drehen, vorwärts, landen. Verwendet wird das Programm Scratch, eine visuelle
Programmiersprache, die am Massachusetts Institute of Technology entwickelt
wurde. Es hat sich zum Renner bei Schülern und Lehrern gemausert.
Mit solchen Programmiersprachen lässt sich allerhand steuern, nebst
Drohnen etwa auch Spielzeugroboter: Sie heissen «Ozobot», «Bee-Bot», «Thymio»
oder «Cubetto». Die Schüler lernen, Befehle zu formulieren, damit die Roboter
einen vorgeschriebenen Weg abfahren. Besonders lieblich ist «Cubetto» – ein
Holzwürfel mit aufgezeichnetem Gesicht, der da und dort schon im Kindergarten
eingesetzt wird.
Roboter und Drohnen sind die spielerische Seite der Medaille. Doch die
Einführung von Medien und Informatik als Fach an den Schulen ist alles andere
als eine Spielerei. Mit dem Lehrplan 21 haben sich die Deutschschweizer Kantone
dazu verpflichtet, die Kinder in die digitale Welt einzuführen und sie dort zu
begleiten. Und das schon ab dem Kindergarten. Ein grosses Ziel. Es bedingt,
dass Schulhäuser technisch aufgerüstet und Lehrerinnen fit gemacht werden für
das Thema.
Allein die Stadt Zürich investiert in einem ersten Schritt 12 Millionen
Franken. Sie hat schon 3500 Tablets in die Schulen verteilt, nächstes Jahr
sollen es nochmals so viele sein. Der Kanton Basel-Stadt hat 25 Millionen
Franken gesprochen. Tausende Lehrer müssen für das neue Fach weitergebildet
werden, das in den meisten Kantonen ab der fünften Klasse einen festen Platz
von einer Lektion im Stundenplan erhält.
Es geht auch ohne Computer
Der Kanton Zürich hat das Fach im letzten Sommer eingeführt. «Welche
Suchmaschinen kennt ihr?», fragt Lehrer Stefan Reichlin seine Fünftklässler im
Zürcher Schulhaus Allenmoos. Hände schiessen in die Höhe. «Google, Bing,
Yahoo», sagen sie und «Wikipedia». «Ist Wikipedia eine Suchmaschine?» «Nein. Es
ist eine Lexikon-Site», sagt eine Schülerin. Alle haben ein Tablet vor sich auf
dem Pult liegen. Sie diskutieren, was es braucht, um möglichst schnell und
exakt zu suchen.
Dann gibt ihnen der Lehrer eine Textpassage, die die Kinder einem
Märchen zuordnen müssen. Finger wischen über Tablets, geben Stichworte ein. Die
einen sind nach Sekunden am Ziel – «Die kleine Seejungfrau» –, andere knobeln
vergebens. Als Hausaufgabe müssen die Kinder alles über das Monster von Loch
Ness herausfinden.«Das gibt es wirklich», sagt Reichlin. «Schliesslich kann man
es im Internet sehen.» Fake-News wird das Thema in der nächsten Lektion sein.
Das Feld, das die Lehrer mit den Kindern beackern müssen, ist weit. Wie
weit, zeigt ein Blick ins Lehrmittel «Connected», das an der Pädagogischen
Hochschule empfohlen wird. Die Kinder reflektieren ihre Mediennutzung, lernen
Gefahren kennen, die im Internet lauern. Sie üben den Umgang mit Computern, die
Suche im Netz, das Aufbereiten und Präsentieren von Daten, werden in die
Codierung eingeführt und in den Aufbau digitaler Bilder. Und das allein in der
fünften Klasse.
In einem Schulungsraum der Pädagogischen Hochschule Zürich haben rund
zwanzig Lehrerinnen und Lehrer an den v-förmig angeordneten Tischreihen Platz
genommen – immer zwei vis-a-vis, jeder einen aufgeklappten Laptop vor sich. Es
ist der Abschlusstag dieser Weiterbildungsklasse. An insgesamt sieben Halbtagen
haben sie sich ins neue Fach eingearbeitet. Dazu gehört auch eine Projektarbeit
mit der eigenen Klasse. Nun präsentieren sie ihrem Gegenüber, was sie geleistet
haben.
Dabei zeigt sich: Medien und Informatik geht auch unplugged – ohne
Elektronik. Eine Lehrerin hat mit ihren Schülern ein Sortiersystem aufgebaut,
um Puzzleteilchen möglichst effizient zu finden. Eine andere inszeniert mit
ihrer Klasse ein Theater: Was passiert, wenn ein Computer aufstartet? In der
Hauptrolle: der Zentralprozessor, der allen anderen befehlen kann. Aber auch
«Ozobot» kommt zum Einsatz: Die Schüler zeichnen möglichst lange Wege auf ein
Papier, denen der Roboter dann folgen muss. Ein Lehrer lässt die Kinder sogar
ein einfaches Spiel programmieren.
«Die meisten Lehrer freuen sich auf das neue Fach», sagt Rahel Tschopp.
Sie leitet das Weiterbildungszentrum für Medienbildung und Informatik an der
Pädagogischen Hochschule Zürich. Hier haben seit Sommer 2017 bereits gegen 900
Primarlehrerinnen und -lehrer die Weiterbildung absolviert. Das
Durchschnittsalter der Teilnehmer liegt bei 40 Jahren, 60 Prozent sind
weiblich. Natürlich gebe es Berührungsängste, doch würden diese schnell
verschwinden.
«Nicht das Fach ist die Herausforderung, auch nicht die Ausbildung,
sondern die Ausstattung der Schule», sagt Tschopp. Diese reicht von
«mangelhaft» bis «luxuriös», wie Kursteilnehmer erzählen. Einige können
jederzeit auf Tablets oder Laptops zugreifen, andere müssen sich Tage im Voraus
dafür einschreiben. Die 1:1- Ausstattung in der Stadt Zürich ist ein Luxus.
Laut Tschopp ginge es in der Mittelstufe auch mit weniger Geräten. «Es
gibt viele Übungen, die man ohne Computer machen kann.» Roboter spielen zum
Beispiel: Einer tippt dem anderen links oder rechts auf die Schulter, wenn er
sich drehen muss, und an den Rücken, wenn es einen Schritt nach vorne braucht.
Für Lehrer Reichlin ist es wichtig, dass jedes Kind sein eigenes Tablet
hat – nicht nur für das Fach Medien und Informatik. Im Moment etwa recherchieren
sie über die Weltreligionen. «Ich lasse die Kinder auch oft überprüfen, ob es
stimmt, was ich gerade gesagt habe», sagt er. «Das fördert den kritischen
Umgang mit Informationen.»
Gross sind die Unterschiede im Vorwissen, das die Kinder mitbringen: Ein
Schüler programmiert bereits, ein anderer findet nicht einmal das @ auf der
Tastatur. Eine Schülerin liest Wikipedia-Artikel, andere schauen Filme an. Zwei
haben ihren eigenen Youtube-Channel. Das Mädchen gibt Schmink- und Frisurtipps.
Der Bub zeigt Sequenzen aus dem Online-Game «Fortnite».
«Die Digitalisierung bringt nicht nur neue Impulse, sondern auch ganz
neue Fragen», sagt Rahel Tschopp. Wer hätte sich vor zwanzig Jahren vorstellen
können, dass ein Primarlehrer von seinen Schülern auf Filme angesprochen wird,
die Attentate in Echtzeit zeigen? Der Dialog auch über solche Dinge wird
wichtig. Ebenso das Formulieren und Einhalten klarer Regeln.
In der Stadt Zürich schliessen die Lehrer mit den Schülern und ihren
Eltern Nutzungsverträge für die Tablets ab. Darin gibt es auch Regeln für die
Eltern: Sie verpflichten sich unter anderem zu regelmässigen gemeinsamen
Aktivitäten ohne Bildschirm und dazu den Kindern im Umgang mit den Geräten «ein
gutes Vorbild» zu sein.
Über kurz oder lang werden wir nicht umhinkommen, dem Thema mehr Raum an
den Schulen zu geben.
«Alles gut und recht, doch mit Informatik hat das alles herzlich wenig
zu tun», sagt Juraj Hromkovic. Im Regal hinter dem Informatik-Professor stapeln
sich die Papiere. Zuoberst steht eine Voltaire-Büste aus Ton. Der gebürtige
Slowake setzt sich, seit er vor 15 Jahren an die ETH gekommen ist, dafür ein,
dass die Informatik ihren festen Platz in der Volksschule erhält.
Er ist enttäuscht von der Umsetzung des Lehrplans 21. «Da wird nur alles
oberflächlich berührt», kritisiert er. So würden die festgelegten Kompetenzen
nicht erreicht. «Die Schüler lernen zwar, etwas durchzuführen, doch sie
verstehen nicht, warum es funktioniert.» Ihm fehlt die systematische Einführung
ins Programmieren, der klare Aufbau des Unterrichts. «Nur so werden die Kinder
später zu Experten in diesem für die Zukunft so wichtigen Gebiet.»
Eine Fehlinvestition?
Der Sündenfall geschah für ihn bei der Vermischung von Medienkunde und
Informatik im gleichen Fach. Das habe nichts miteinander zu tun. Und weil die
wirklich guten Informatiker lieber entweder forschten oder in der
Privatwirtschaft arbeiteten, hätten im Bildungswesen die Medienleute das Sagen,
so seine Kritik. «In ein paar Jahren werden wir feststellen, dass die Schweiz
in der Digitaltechnologie weit hinter anderen Ländern zurückliegt.»
Bis dann aber würden Millionen von Franken falsch investiert und
Tausende Lehrkräfte falsch ausgebildet, warnt Hromkovic. Dazu muss man sagen:
Er selber hat auch ein Lehrmittel entwickelt, das in Zürich stiefmütterlich
behandelt wird. Die Pädagogische Hochschule Zürich lehnte eine Zusammenarbeit
mit ihm ab, während die Berner und Churer eine Kooperation eingegangen sind.
«Es würde den Mut brauchen, die Informatik in den Vordergrund zu
stellen», sagt aber auch Matthias Ammann. Er befasst sich beim Think-Tank
Avenir Suisse mit den Themen Bildung und Digitalisierung. Auf einem Podium des
Pestalozzianums im Saal des Zürcher Kinos Kosmos diskutiert er mit einer
Lehrerin, einem Lehrer und Rahel Tschopp über dieses Thema. Es werde zu viel in
ein einziges Fach gestopft, kritisiert er.
«Über kurz oder lang werden wir nicht umhinkommen, dem Thema noch mehr
Raum an den Schulen zu geben.» Nur so würden die Schüler fit für die Zukunft.
Doch Tschopp hält dagegen: «Medien und Informatik beschränkt sich nicht nur auf
die eine Lektion.» Vielmehr könnten die Themen in allen möglichen Fächern
aufgegriffen werden: etwa in Deutsch, Mathematik, Mensch und Umwelt.
Digitalisierung betreffe die ganze Schule. Da sind sich die beiden einig. «Es
ist wie der Umbau eines Schiffs unter Fahrt», sagt Ammann. «Und gleichzeitig
muss auch noch die Besatzung geschult werden.»
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