«Als Aarauerin verstehe ich die ganze Aufregung in
Buchs nicht», sagte Kreisschulrätin Regula Haag Wessling (CVP) an der
Ratssitzung vergangene Woche. Diskutiert wurde die Strategie der
Kreisschulpflege Aarau-Buchs, künftig eine integrative Schule sein zu wollen.
Die Kleinklassen, die es an der alten Kreisschule Buchs-Rohr gegeben hatte und
deren Fortbestand in den Fusions-Abstimmungsunterlagen in Aussicht gestellt
wurde, werden verschwinden. Der Entscheid darüber obliegt der Schulpflege, was
diese an der Kreisschulratssitzung nochmals ausführte. Gestützt wurde sie von
Stadträtin Franziska Graf sowie Gemeinderat Anton Kleiber, die beide betonten,
dass vor der Abstimmung lediglich empfohlen wurde, sowohl eine integrative
Sonderpädagogik als auch Kleinklassen zu führen, aber die Kreisschulpflege in
ihrem Entscheid frei sei.
Schulpflegerin Franziska Zimmerli betonte, man habe
den Entscheid nicht rasch und nicht aus dem Bauch heraus gefällt, die
Schulpflege habe «diskutiert und gestritten», Fachliteratur und Ähnliches
konsultiert. Man werde ausserdem nicht einfach das an der Schule Aarau geführte
integrative Modell eins zu eins weiterführen: «Es wird auch in Aarau
Veränderungen geben.»
Sind Kleinklassen ein Auslaufmodell? "Im integrativen Kontext lernen alle mehr", Aargauer Zeitung, 18.4. von Nadja Rohner
«Nonchalance im Elfenbeinturm»
Hinter vorgehaltener Hand sagen aber selbst Buchser
Kreisschulratsmitglieder, dass die Schulfusion in ihrer Gemeinde wohl abgelehnt
worden wäre, hätten die Stimmbürger gewusst, dass die Kleinklassen abgeschafft
würden (die Vorlage wurde in Buchs mit nur 21 Ja-Stimmen mehr angenommen).
Nicole Burger (SVP, Aarau) hat dazu bereits eine Motion eingereicht und betonte
an der Ratssitzung erneut, dass sie sehr enttäuscht sei über den Entscheid, da
seien die Stimmbürger «gelinggt» worden. «Ich hätte mir ein bisschen mehr
politische Sensibilität gewünscht.» Philippe Kühni (GLP, Aarau) sprach von
einer «Nonchalance», mit dem die Kreisschulpflege den Entscheid «im
Elfenbeinturm» gefällt habe, ohne die Betroffenen im Sinne einer Vernehmlassung
zu konsultieren.
Nicole Lehmann (FDP, Aarau) äusserte grundsätzliche
Bedenken zur integrativen Schule, die «in der Praxis nicht gut funktioniere».
Ganz anders sieht es Regula Haag Wessling (CVP, Aarau): «Die integrative Schule
ist das Grundprinzip im 21. Jahrhundert, separative Beschulung gehört ins
letzte Jahrhundert.»
Ist das tatsächlich so? Die AZ hat bei Prof. Dr.
Jan Weisser nachgefragt. Er ist Leiter des Instituts Spezielle Pädagogik und
Psychologie an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Angenommen, Sie müssten für eine Schule die
Sonderpädagogik aufgleisen. In welche Richtung ginge es?
Jan Weisser: Die
Weichenstellung in der Diskussion ist gemacht: In der Schweiz wird das
integrative respektive inklusive Modell klar bevorzugt. Das ergibt sich auch
aus den Rahmenbedingungen. Zu diesen gehören etwa das Konkordat
Sonderpädagogik, das Gleichstellungsgesetz, die aktuelle Rechtsprechung und die
in vielen Kantonen entsprechend revidierten Schulgesetze. Es geht auf der
normativen Ebene also klar in Richtung Integration.
Und auf der praktischen Ebene?
Die Möglichkeiten der Ausgestaltung und
Interpretation sind vielfältig. Es gibt Schulen, die auf konsequente gemeinsame
Beschulung setzen, also ganz ohne Klein- oder Einführungsklassen fahren. Eine
Schule muss sich fragen, inwiefern alle Kinder gemeinsam lernen können, und
wann oder für welche Lerninhalte es allenfalls sinnvoll ist, individualisierte
Lerngefässe zu schaffen.
Sie haben die aktuelle Rechtsprechung erwähnt.
Heisst das, dass Eltern die Inklusion ihrer Kinder in eine Regelklasse
gerichtlich durchsetzen können?
Ja. Wobei die Schulbehörde ihrerseits durch das
Verhältnismässigkeitsprinzip geschützt wird.
Gibt es Kinder, die wirklich nicht in eine
Regelklasse gehören?
A priori gibt es die nicht. Früher hat man zum
Beispiel, Kinder mit Trisomie 21 immer sofort in einer Heilpädagogischen
Schule unterrichtet. Heute wird individuell abgewogen, was in der konkreten
Situation sinnvoll ist und was die Eltern für ihr Kind möchten. Generell gilt:
Die Regelklasse ist die Norm, und wenn für ein Kind eine Sonderschule bevorzugt
wird, muss das begründet werden.
Wie viele Kleinklassen gibt es eigentlich noch?
Das ändert laufend, aber man kann sagen, dass sie
schweizweit sehr zurückgegangen sind. Es gibt kaum noch Kantone, die voll auf
dieses Modell setzen - eben weil die Teilnahme der betroffenen Kinder am
Regelunterricht und deren Gleichstellung eingeschränkt wird.
Eltern haben oft Vorbehalte gegenüber integrativen
Klassen. Sie fürchten, dass Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf zu viele
Ressourcen binden und für ihre eigenen Kinder dann nicht genug übrig bleibt.
Was sagen Sie diesen Eltern?
Die Forschung zeigt: Im integrativen Kontext lernen
alle mehr! Kinder mit Lernschwierigkeiten profitieren von einem spannenden
Umfeld. Und Kinder, die sowieso gut mitkommen, sind schwierig zu bremsen – es
ist also nicht so, dass sie weniger lernen.
Warum?
Weil integrative Schulen gelernt haben, sich auf
zentrale Aspekte von Schulqualität wie zum Beispiel gute Klassenführung und
gutes Feedback zu fokussieren. Es gibt mehr individuelle Lernmöglichkeiten –
für die schwächeren, aber auch für die stärkeren Schüler. Die Lehrpersonen sind
besser darauf sensibilisiert, wer was bereits kann und was nicht. Die stärkeren
Schüler profitieren ausserdem davon, wenn sie anderen etwas erklären können –
das stärkt die meta-kognitiven Fähigkeiten und ist ein zusätzlicher
Lernbooster. Es ist wichtig, dass dies den Eltern auch so kommuniziert wird.
Was braucht es, damit eine integrative Klasse
funktioniert?
Unverzichtbar ist spezifisches Fachpersonal: Logopäden
und Heilpädagoginnen zum Beispiel. Sie müssen Knowhow mitbringen, es aber vor
allem auch mit den anderen Lehrpersonen teilen. Etwa im Team-Teaching oder als
individuelle Beratung. Lehrperson zu sein, ist heute generell eine
anspruchsvolle Aufgabe, für die es angemessene Rahmenbedingungen braucht.
Sie würden also auch bei einer grossen Schule nicht
empfehlen, Kleinklassen und integrative Sonderpädagogik nebeneinander
anzubieten.
Der Nachteil zweier Modelle ist, dass Kräfte nicht
gebündelt werden können. Die Schulbehörden müssen sich deshalb die Frage
stellen, ob sie ein Spezialangebot mit entsprechend viel Fachpersonal möchten,
oder doch ein Modell, das viel durchlässiger ist. Für die Tragfähigkeit der
Schule ist es aber auch wichtig, dass alle am gleichen Strick ziehen und sich
niemand über den Tisch gezogen fühlt.
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