29. April 2019

Grenzen des selbstorganisierten Lernens


Beim sogenannten selbstorganisierten Lernen vermitteln nicht Lehrpersonen Bildungsinhalte, sondern die Schüler durchforsten das Internet und ihre Arbeitsblätter. So sollen Kompetenzen gefördert werden, sich selbsttätig Inhalte anzueignen und Lernziele zu definieren. Das hat auch Nachteile.
Schule - die Grenzen des selbsttätigen Unterrichts, NZZ, 26.4. von Allan Guggenbühl


«In Nordkorea leben die glücklicheren Bürger als in den USA!», so lautet die Schlussfolgerung eines Jugendlichen, der in einer selbständigen Arbeit die Auswirkung von Regierungssystemen auf die Bürger verglichen hat. Der Schüler belegt sein Urteil mit Material aus einer Internetrecherche. Das Argument: In kapitalistischen Ländern würden die Bürger durch raffgierige Manager ausgenützt, nicht jedoch in Nordkorea. Die Berichte über die hungernde nordkoreanische Bevölkerung seien Fake-News, «Ami»-Propaganda. Diese Gedanken präsentiert der Schüler seiner Lerngruppe im Rahmen des selbstorganisierten Lernens (SOL).

Vorbilder und Diskussionen
Die Schüler sind unter sich. Das SOL ist ein an Schulen verbreitetes Lernkonzept, bei dem die Schüler ihr Lernen selbstbestimmt planen, steuern und sich gegenseitig überprüfen. Der genannte Beitrag des Schülers erfüllt die Kriterien des SOL: Er hat das Thema ausgewählt, die Lernziele definiert und eigenständig Informationen eingeholt. Bei der konsequenten Anwendung des SOL rücken die Lehrperson und der Inhalt in den Hintergrund. Die Schüler geben sich die Antworten und die Feedbacks. Nicht die Lehrperson vermittelt Bildungsinhalte, sondern das Internet und Arbeitsblätter. Die Schüler sollen dadurch in ihren Kompetenzen gefördert werden, sich selbsttätig Inhalte anzueignen und Lernziele zu definieren.

Ausgangspunkt des Unterrichts soll die Neugier der Schüler sein und nicht institutionalisiertes Wissen. Gemäss dem Motto «From Teaching to Learning» erhofft man sich die Stärkung der Motivation für lebenslanges, internalisiertes Lernen. Die Kompetenzausrichtung und das SOL werden als pädagogische Revolution gehandelt, die einen Paradigmenwechsel auslösen soll: Das SOL gilt als Antwort auf die Heterogenität der Klassen und als bestmögliche Vorbereitung auf zukünftige Herausforderungen im Berufsalltag.

Zu wenig beachtet wird jedoch die Psychologie der Kinder und Jugendlichen. Beim Lernen in der Schule geht es nicht nur um Wissen und Kompetenzen, sondern auch um einen Anbindungsakt an – mitunter kulturell verhandeltes und tatsachengestütztes – Allgemeinwissen. Bildung ist auch Initiation im Sinne der Anbindung an den Wissenspool der Gesellschaft. Für diese Initiation braucht es Vorbilder und Diskussionen. Lerninhalte haben für Kinder und Jugendliche auch eine Funktion in der Beziehung zu Erwachsenen. Die wenigsten Schüler antworten auf die Frage «Was hast du heute gelernt?» mit SOL-Zielsätzen, sondern sie berichten von Interaktionen mit ihren Lehrpersonen. Einem Schüler bleibt die Schilderung seiner Lehrerin der Schlacht bei Sempach im Gedächtnis und einem anderen die Darlegung einer persönlichen Eselsbrücke zur Einsicht in ein mathematisches Gesetz. Die ausgewählten Lerninhalte, die die Lehrperson präsentiert, können inspirieren oder langweilen.

Die Integration ins System Schule und die Aneignung der Bildungsinhalte geschehen jedoch nicht nur im Konsens, sondern auch über die Auseinandersetzung mit den Alten. Spätestens ab der Vorpubertät realisieren die Schüler, dass das vermittelte Wissen oft auch ein Ablaufdatum hat. Die Infragestellung von kanonischen Inhalten und darauf bezogene Provokation sind legitim und ein Versuch der Abgrenzung und Autonomie. Mit diesem Schritt ist jedoch die Aufgabe der Lehre noch nicht erfüllt. Die Lehrpersonen vermitteln nicht nur die Inhalte, sondern sie haben auch die Aufgabe, sich auf Argumentationen einzulassen und Realitätsbezüge zu sichern.

Die Kompetenzen sind Nebenprodukte des sozialen Vermittlungsaktes der Bildungsinhalte. Teamfähigkeit, selbständiges Arbeiten oder Konzentrationsfähigkeit kommen mit dem geweckten Interesse.

Der Magie der Digitalisierung erlegen
Problematisch ist das SOL, wenn der Prozess des Lernens die Auseinandersetzung mit dem Ergebnis ersetzt. Viele Schüler fühlen sich sich selbst überlassen, verlieren sich in virtuellen Räumen oder vertrödeln die Zeit mit oberflächlichen Arbeitsblättern. Der Schüler im Eingangsbeispiel hätte gerne die Argumentation einer Lehrperson gehört, doch für das Feedback waren seine Mitschüler verantwortlich.

Im Schulzimmer mag beim SOL das emsige Treiben Besucher beeindrucken. Die Schüler laufen mit ihren Aufgabenblättern von Posten zu Posten, studieren Anleitungen, machen sich Notizen und gucken in Bildschirme. Lernen darf jedoch nicht mit Betriebsamkeit verwechselt werden. Entscheidend ist der über Beziehungen ausgelöste innere, mentale Prozess. Wenn das selbsttätige Lernen Resultate produziert, von denen die Schüler selber enttäuscht sind, oder Schlussfolgerungen unkommentiert stehen bleiben, dann wird dieses Bildungsziel nicht erreicht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Schule der Magie der Digitalisierung erlegen ist. Die Inszenierung des Lernprozesses verhindert die vertiefte Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten und erschwert Inspirationen. Die Schule verpasst es, ihre nobelste Aufgabe zu erfüllen: junge Menschen in die grossartigen, faszinierenden und ärgerlichen Inhalte unserer Kultur einzuführen.

Allan Guggenbühl, Psychologe und Pädagoge, leitet das Institut für Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich und Bern und lehrt an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich.


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