Beim
sogenannten selbstorganisierten Lernen vermitteln nicht Lehrpersonen
Bildungsinhalte, sondern die Schüler durchforsten das Internet und ihre
Arbeitsblätter. So sollen Kompetenzen gefördert werden, sich selbsttätig
Inhalte anzueignen und Lernziele zu definieren. Das hat auch Nachteile.
Schule - die Grenzen des selbsttätigen Unterrichts, NZZ, 26.4. von Allan Guggenbühl
«In Nordkorea leben die glücklicheren Bürger als in den USA!», so lautet
die Schlussfolgerung eines Jugendlichen, der in einer selbständigen Arbeit die
Auswirkung von Regierungssystemen auf die Bürger verglichen hat. Der Schüler
belegt sein Urteil mit Material aus einer Internetrecherche. Das Argument: In
kapitalistischen Ländern würden die Bürger durch raffgierige Manager
ausgenützt, nicht jedoch in Nordkorea. Die Berichte über die hungernde
nordkoreanische Bevölkerung seien Fake-News, «Ami»-Propaganda. Diese Gedanken
präsentiert der Schüler seiner Lerngruppe im Rahmen des selbstorganisierten
Lernens (SOL).
Vorbilder und Diskussionen
Die Schüler sind unter sich. Das SOL ist ein an Schulen verbreitetes
Lernkonzept, bei dem die Schüler ihr Lernen selbstbestimmt planen, steuern und
sich gegenseitig überprüfen. Der genannte Beitrag des Schülers erfüllt die
Kriterien des SOL: Er hat das Thema ausgewählt, die Lernziele definiert und
eigenständig Informationen eingeholt. Bei der konsequenten Anwendung des SOL
rücken die Lehrperson und der Inhalt in den Hintergrund. Die Schüler geben sich
die Antworten und die Feedbacks. Nicht die Lehrperson vermittelt Bildungsinhalte,
sondern das Internet und Arbeitsblätter. Die Schüler sollen dadurch in ihren
Kompetenzen gefördert werden, sich selbsttätig Inhalte anzueignen und Lernziele
zu definieren.
Ausgangspunkt des Unterrichts soll die Neugier der Schüler sein und
nicht institutionalisiertes Wissen. Gemäss dem Motto «From Teaching to
Learning» erhofft man sich die Stärkung der Motivation für lebenslanges,
internalisiertes Lernen. Die Kompetenzausrichtung und das SOL werden als
pädagogische Revolution gehandelt, die einen Paradigmenwechsel auslösen soll:
Das SOL gilt als Antwort auf die Heterogenität der Klassen und als bestmögliche
Vorbereitung auf zukünftige Herausforderungen im Berufsalltag.
Zu wenig beachtet wird jedoch die Psychologie der Kinder und
Jugendlichen. Beim Lernen in der Schule geht es nicht nur um Wissen und
Kompetenzen, sondern auch um einen Anbindungsakt an – mitunter kulturell
verhandeltes und tatsachengestütztes – Allgemeinwissen. Bildung ist auch
Initiation im Sinne der Anbindung an den Wissenspool der Gesellschaft. Für
diese Initiation braucht es Vorbilder und Diskussionen. Lerninhalte haben für
Kinder und Jugendliche auch eine Funktion in der Beziehung zu Erwachsenen. Die
wenigsten Schüler antworten auf die Frage «Was hast du heute gelernt?» mit
SOL-Zielsätzen, sondern sie berichten von Interaktionen mit ihren Lehrpersonen.
Einem Schüler bleibt die Schilderung seiner Lehrerin der Schlacht bei Sempach
im Gedächtnis und einem anderen die Darlegung einer persönlichen Eselsbrücke
zur Einsicht in ein mathematisches Gesetz. Die ausgewählten Lerninhalte, die
die Lehrperson präsentiert, können inspirieren oder langweilen.
Die Integration ins System Schule und die Aneignung der Bildungsinhalte
geschehen jedoch nicht nur im Konsens, sondern auch über die Auseinandersetzung
mit den Alten. Spätestens ab der Vorpubertät realisieren die Schüler, dass das
vermittelte Wissen oft auch ein Ablaufdatum hat. Die Infragestellung von
kanonischen Inhalten und darauf bezogene Provokation sind legitim und ein
Versuch der Abgrenzung und Autonomie. Mit diesem Schritt ist jedoch die Aufgabe
der Lehre noch nicht erfüllt. Die Lehrpersonen vermitteln nicht nur die
Inhalte, sondern sie haben auch die Aufgabe, sich auf Argumentationen
einzulassen und Realitätsbezüge zu sichern.
Die Kompetenzen sind Nebenprodukte des sozialen Vermittlungsaktes der
Bildungsinhalte. Teamfähigkeit, selbständiges Arbeiten oder
Konzentrationsfähigkeit kommen mit dem geweckten Interesse.
Der Magie der Digitalisierung erlegen
Problematisch ist das SOL, wenn der Prozess des Lernens die
Auseinandersetzung mit dem Ergebnis ersetzt. Viele Schüler fühlen sich sich
selbst überlassen, verlieren sich in virtuellen Räumen oder vertrödeln die Zeit
mit oberflächlichen Arbeitsblättern. Der Schüler im Eingangsbeispiel hätte gerne
die Argumentation einer Lehrperson gehört, doch für das Feedback waren seine
Mitschüler verantwortlich.
Im Schulzimmer mag beim SOL das emsige Treiben Besucher beeindrucken.
Die Schüler laufen mit ihren Aufgabenblättern von Posten zu Posten, studieren
Anleitungen, machen sich Notizen und gucken in Bildschirme. Lernen darf jedoch
nicht mit Betriebsamkeit verwechselt werden. Entscheidend ist der über
Beziehungen ausgelöste innere, mentale Prozess. Wenn das selbsttätige Lernen
Resultate produziert, von denen die Schüler selber enttäuscht sind, oder
Schlussfolgerungen unkommentiert stehen bleiben, dann wird dieses Bildungsziel
nicht erreicht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Schule der Magie der
Digitalisierung erlegen ist. Die Inszenierung des Lernprozesses verhindert die
vertiefte Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten und erschwert Inspirationen.
Die Schule verpasst es, ihre nobelste Aufgabe zu erfüllen: junge Menschen in
die grossartigen, faszinierenden und ärgerlichen Inhalte unserer Kultur einzuführen.
Allan Guggenbühl, Psychologe und Pädagoge, leitet das Institut für
Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich und Bern und lehrt an der
Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich.
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