Seit Jahrzehnten werden Alternativen zum
ungeliebten Frontalunterricht gesucht. Eine neue Technik, bei der auf
Lernvideos gesetzt wird, schlägt anderswo hohe Wellen – Luzern scheint aber
noch nicht bereit dafür.
Die Schule soll kopfstehen, Zentralschweiz am Sonntag, 31.3. von Ismail Osman
Vorne bei
der Wandtafel steht der Lehrer und redet. Und er redet und redet. Mit Glück und
Gabe hängt ihm die Schülerschaft gebannt an den Lippen. Öfters aber wird der
sogenannte Frontalunterricht weniger prickelnd empfunden – sowohl für die
Person vorne wie auch für deren Publikum. Seit Jahrzehnten wird deshalb schon
nach alternativen Modellen gesucht.
Eine von
zwei amerikanischen Lehrern mitentwickelte Technik lässt aufhorchen. Sie macht
sich die fortschreitende Digitalisierung zunutze und zeigt einen möglichen
neuen Weg auf, fordert aber einen radikalen Schritt: Die Schule muss auf den
Kopf gestellt werden.
Die
Grundidee hinter dem «Flipped Classroom» (zu Deutsch: auf den Kopf gewendetes
Klassenzimmer) ist bestechend einfach: Statt stundenlang bei der Wandtafel zu
monologisieren, erstellen die Lehrer Material für die Schüler – meist in Form
von Lernvideos oder Podcasts. Diese werden zu Hause rezipiert. Zurück in der
Schule, werden offene Fragen diskutiert und Übungen absolviert. Die Lehrer
stehen nicht mehr vorne, sondern ihren Schülern mit ihrem Fachwissen zur Seite.
Richtiges Tempo zu finden, ist kaum möglich
Die
potenziellen Vorteile sind unschwer zu erkennen: «Es erlaubt den Lernenden,
Stoff in ihrem eigenen Tempo aufnehmen zu können», sagt Urs Utzinger, Co-Leiter
des Zentrums Medienbildung (Zembi) der Pädagogischen Hochschule Luzern. «Im
Klassenzimmer ein Tempo zu finden, das allen Lernenden gerecht wird, ist
praktisch unmöglich.» Schon die banale Tatsache, dass sich ein Video
zurückspulen lässt, um einen Satz nochmals wiederholen zu können, eröffnet ganz
neue Perspektiven.
Der
Flipped Classroom bietet auch eine potenzielle Antwort auf die laufende
Streitfrage über Sinn und Unsinn von Hausaufgaben. Da die Vertiefung von
Schulstoff, welches ja der theoretische Zweck der Hausaufgaben ist, in der
Schule stattfindet, entfallen diese im traditionellen Sinn. «Natürlich bedingt
dies aber, dass die Lernenden die Videos auch anschauen – und zwar aufmerksam
anschauen, nicht bloss passiv konsumieren», gibt Urs Utzinger zu bedenken.
Es bedeutet
aber auch einen Aufwand für die Lehrperson, welche die Lernvideos erarbeiten
und ansprechend herstellen muss. Anleitungen, wie man das bewerkstelligt, sind
im Netz bereits vorhanden. So finden sich auf der Website der Uni Bern etwa
bereits Werkzeuge und Tipps, um ein solches Projekt umzusetzen. «Der Aufwand
lohnt sich aber», argumentiert Utzinger, «vor allem wenn Lehrpersonen vermehrt
zusammenarbeiten und nicht gleiche Lerninhalte von jeder Lehrperson wieder neu
hergestellt werden.»
In der Praxis eher Ergänzung als Revolution
Utzinger
selbst beschäftigt sich seit rund vier Jahren mit dem Konzept des Flipped
Classroom. Bei einem «Feldversuch» an der Kantonsschule Alpenquai konnten erste
Erfahrungen gesammelt werden. Die ersten Erkenntnisse: «Die Methode kommt den
Lernenden und ihren individuellen Lerntypen besser entgegen und nutzt die
technischen Geräte, die ihren Alltag dominieren, um Wissen zu vermitteln.» Ein
Wundermittel sei der Flipped Classroom aber nicht: «Es ist nicht so, dass diese
Methode bessere Resultate bringt», sagt Utzinger. «Es wäre falsch, alles
zugunsten des Flipped Classroom umzustellen. Es ist aber eine bereichernde
Erweiterung für Teile des Unterrichts», ist er überzeugt.
Utzinger
und sein Team im Zembi sind bestrebt, das Konzept in die Schulklassen zu
tragen. Eine erste Chance, mehr zu erfahren, hat die Luzerner Lehrerschaft an
diesem Wochenende verpasst: Die Frühlingstagung der Dienststelle
Volksschulbildung mit rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stand ganz im
Zeichen der Digitalisierung. Ein Workshop zum Thema Flipped Classroom musste
mangels Interessenten jedoch kurzfristig abgesagt werden. Zu viel Zukunftsmusik
für hiesige Pädagogenohren? Urs Utzinger gib sich optimistisch, auch weil die
Dienststelle selbst grosses Interesse bekundet habe. «Wir werden
voraussichtlich für das kommende Schuljahr etwas Grösseres zu diesem Thema
ausarbeiten, was ein breiteres Publikum erreichen dürfte.»
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