4. April 2019

Flipped Classroom soll Frontalunterricht ablösen


Seit Jahrzehnten werden Alternativen zum ungeliebten Frontalunterricht gesucht. Eine neue Technik, bei der auf Lernvideos gesetzt wird, schlägt anderswo hohe Wellen – Luzern scheint aber noch nicht bereit dafür.
Die Schule soll kopfstehen, Zentralschweiz am Sonntag, 31.3. von Ismail Osman


Vorne bei der Wandtafel steht der Lehrer und redet. Und er redet und redet. Mit Glück und Gabe hängt ihm die Schülerschaft gebannt an den Lippen. Öfters aber wird der sogenannte Frontalunterricht weniger prickelnd empfunden – sowohl für die Person vorne wie auch für deren Publikum. Seit Jahrzehnten wird deshalb schon nach alternativen Modellen gesucht.
Eine von zwei amerikanischen Lehrern mitentwickelte Technik lässt aufhorchen. Sie macht sich die fortschreitende Digitalisierung zunutze und zeigt einen möglichen neuen Weg auf, fordert aber einen radikalen Schritt: Die Schule muss auf den Kopf gestellt werden.
Die Grundidee hinter dem «Flipped Classroom» (zu Deutsch: auf den Kopf gewendetes Klassenzimmer) ist bestechend einfach: Statt stundenlang bei der Wandtafel zu monologisieren, erstellen die Lehrer Material für die Schüler – meist in Form von Lernvideos oder Podcasts. Diese werden zu Hause rezipiert. Zurück in der Schule, werden offene Fragen diskutiert und Übungen absolviert. Die Lehrer stehen nicht mehr vorne, sondern ihren Schülern mit ihrem Fachwissen zur Seite.

Richtiges Tempo zu finden, ist kaum möglich
Die potenziellen Vorteile sind unschwer zu erkennen: «Es erlaubt den Lernenden, Stoff in ihrem eigenen Tempo aufnehmen zu können», sagt Urs Utzinger, Co-Leiter des Zentrums Medienbildung (Zembi) der Pädagogischen Hochschule Luzern. «Im Klassenzimmer ein Tempo zu finden, das allen Lernenden gerecht wird, ist praktisch unmöglich.» Schon die banale Tatsache, dass sich ein Video zurückspulen lässt, um einen Satz nochmals wiederholen zu können, eröffnet ganz neue Perspektiven.

Der Flipped Classroom bietet auch eine potenzielle Antwort auf die laufende Streitfrage über Sinn und Unsinn von Hausaufgaben. Da die Vertiefung von Schulstoff, welches ja der theoretische Zweck der Hausaufgaben ist, in der Schule stattfindet, entfallen diese im traditionellen Sinn. «Natürlich bedingt dies aber, dass die Lernenden die Videos auch anschauen – und zwar aufmerksam anschauen, nicht bloss passiv konsumieren», gibt Urs Utzinger zu bedenken.

Es bedeutet aber auch einen Aufwand für die Lehrperson, welche die Lernvideos erarbeiten und ansprechend herstellen muss. Anleitungen, wie man das bewerkstelligt, sind im Netz bereits vorhanden. So finden sich auf der Website der Uni Bern etwa bereits Werkzeuge und Tipps, um ein solches Projekt umzusetzen. «Der Aufwand lohnt sich aber», argumentiert Utzinger, «vor allem wenn Lehrpersonen vermehrt zusammenarbeiten und nicht gleiche Lerninhalte von jeder Lehrperson wieder neu hergestellt werden.»

In der Praxis eher Ergänzung als Revolution
Utzinger selbst beschäftigt sich seit rund vier Jahren mit dem Konzept des Flipped Classroom. Bei einem «Feldversuch» an der Kantonsschule Alpenquai konnten erste Erfahrungen gesammelt werden. Die ersten Erkenntnisse: «Die Methode kommt den Lernenden und ihren individuellen Lerntypen besser entgegen und nutzt die technischen Geräte, die ihren Alltag dominieren, um Wissen zu vermitteln.» Ein Wundermittel sei der Flipped Classroom aber nicht: «Es ist nicht so, dass diese Methode bessere Resultate bringt», sagt Utzinger. «Es wäre falsch, alles zugunsten des Flipped Classroom umzustellen. Es ist aber eine bereichernde Erweiterung für Teile des Unterrichts», ist er überzeugt.

Utzinger und sein Team im Zembi sind bestrebt, das Konzept in die Schulklassen zu tragen. Eine erste Chance, mehr zu erfahren, hat die Luzerner Lehrerschaft an diesem Wochenende verpasst: Die Frühlingstagung der Dienststelle Volksschulbildung mit rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stand ganz im Zeichen der Digitalisierung. Ein Workshop zum Thema Flipped Classroom musste mangels Interessenten jedoch kurzfristig abgesagt werden. Zu viel Zukunftsmusik für hiesige Pädagogenohren? Urs Utzinger gib sich optimistisch, auch weil die Dienststelle selbst grosses Interesse bekundet habe. «Wir werden voraussichtlich für das kommende Schuljahr etwas Grösseres zu diesem Thema ausarbeiten, was ein breiteres Publikum erreichen dürfte.»

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