Hat der
Mensch das Schultergelenk erfunden? Natürlich nicht. Und genauso wenig wie sein
Knochengestell hat er sich die Grammatik seiner Sprachen ausgedacht. Verfechter
der gendergerechten Sprache, die heute ins System eingreifen, begehen aus
linguistischer Sicht ein paar fundamentale Denkfehler.
Sprachen wandeln sich immer – aber nie in Richtung Unfug, NZZ, 10.4. von Josef Bayer
Lange war die Linguistik ein in der Öffentlichkeit wenig beachtetes
Fach. Ihre Themen und Inhalte waren den meisten Menschen reichlich egal. Das
ändert sich seit einiger Zeit, allerdings nicht immer zum Wohle des Fachs. Ein
Höhepunkt ist jedes Jahr die Verkündigung des «Wortes des Jahres» und des
«Unwortes des Jahres», bei der immer auch mitgeteilt wird, welche
Sprachwissenschafter die Auswahl vorgenommen haben.
Inzwischen kommt es aber noch schlimmer. Sprachwissenschafter und vor
allem Sprachwissenschafterinnen werden für die Eingriffe in die Sprache
verantwortlich gemacht, die sich allenthalben im Rahmen der Forderung nach
sprachlicher Gleichstellung von Männern und Frauen zeigen. Es geht um die
sogenannte Gendersprache, die eigentlich gendergerechte Sprache heissen sollte.
Die Vorschläge für eine solche neue Sprache kommen ebenso wenig aus der
wissenschaftlich ernstzunehmenden Linguistik wie die Auswahl der (Un-)Wörter
des Jahres. Ganz im Gegenteil, die Linguistik könnte, wenn man ihr auch nur ein
bisschen Gehör schenkte, den Irrweg der vermeintlich gendergerechten Sprache
leichter ans Licht bringen als jede andere Disziplin.
Sieht man sich an, woher die Vorschläge für diese Sprachreform kommen,
stösst man zwar in erster Linie auf die Universitäten. Aber an den
Universitäten sind es in der Regel keine Linguisten, die das
Gendersprach-Projekt befördern. An meiner eigenen Universität, der Universität
Konstanz, kommen entsprechende Vorschläge aus dem «Referat für Gleichstellung».
Im Vorspann zu einem geschlechtergerechten Glossar heisst es, die
Universität habe sich auf die Verwendung einer gendergerechten Sprache und
einer gendersensiblen Gestaltung ihrer grundlegenden Dokumente, der
Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings sowie der internen Kommunikation verpflichtet.
Worum geht es konkret? Es gibt in diesem Glossar ziemlich autoritär
vorgetragene Anweisungen zu Personenbezeichnungen im universitären Kontext. Aus
Besuchern werden dort Besuchende oder Gäste, aus Preisträgern werden
Preistragende. Und aus Sprechern werden gar Sprechende. Dass hierbei völlig
andere und teilweise krass inadäquate Lesarten entstehen, scheint keine Rolle
zu spielen. Mit «Sprecher» meint man bekanntlich jemanden in einer
administrativen Funktion und keine Person, die gerade redet; bei «Sprechender»
ist es gerade umgekehrt.
Eine entscheidende Verwechslung
Fälle wie diese sind oft besprochen worden. Ihre Absurdität bleibt
bestehen, auch wenn sich viele schon unter das Joch begeben haben. Es kommt
aber noch dicker. Auf der Website der Uni Konstanz findet sich unter anderem
der folgende Vorschlag: Anstatt das maskuline Partizip Präsens im Singular zu
gebrauchen wie in «Jeder Studierende, der sich bis 1. 1. anmeldet, bekommt
Rabatt», sollte man bitte ausweichen auf «Wer sich bis 1. 1. anmeldet,
bekommt Rabatt». Dieser Schuss geht in die falsche Richtung.
Das Fragepronomen «wer» ist nämlich irreversibel maskulin Singular.
Erschwerend kommt hinzu, dass man mit diesem Pronomen trotz seiner Form immer
auch Frauen und Gruppen von Menschen mit erfasst. Das ist eine linguistische
Tatsache, an der nichts und niemand vorbeikommt. «Wer hat im Bad seinen
Lippenstift vergessen?» fragt mit hoher Wahrscheinlichkeit nach jemandem aus
einer Gruppe von Frauen. «Wer hat im Bad ihren Lippenstift vergessen?» bedeutet
etwas völlig anderes, nämlich dass der Lippenstift einer explizit anderen
Person gehört als derjenigen, nach der gefragt wird.
Das Beispiel des Fragepronomens «wer» verweist schlaglichtartig auf ein
gravierendes Missverständnis, das die gesamte Idee einer gendergerechten
Sprache für das Deutsche durchzieht. Es ist die Verwechslung von Form und
Inhalt, und das, obwohl dieser Unterschied eigentlich schon jedem Schulkind
klar ist. Jeder sollte sich dessen bewusst sein, dass Substantive wie «Garten»,
«Regen», «Nebel», «Steinbruch», «Siegeszug» usw. zwar formal maskulin sind,
aber inhaltlich nichts Männliches bezeichnen.
Dass beim grammatischen Geschlecht die maskuline Form dominiert, ist
eine Eigengesetzlichkeit der Sprache, die mit Männern, Frauen, Herrschaft und
Dominanz nichts zu tun hat. Akzeptiert man das nicht und regt sich darüber auf,
sollte man sich ebenso darüber aufregen, dass der Singular gegenüber dem Plural
bevorzugt ist. «Wer nehmen an der Kreuzfahrt teil?» ist völlig ungrammatisch,
obwohl man fast sicher sein kann, dass das Kreuzfahrtschiff kaum für eine
Einzelperson auslaufen wird. Von Empörung wegen einer Diskriminierung des
Plurals hat man bisher wenig vernommen, aber dagegen viel von der Empörung
wegen der grammatischen Festlegung auf die maskuline Form.
Von Jakobson lernen
Der weit über seine Zeit hinaus bedeutende Linguist Roman Jakobson
(1896–1982) hat sich explizit zu dem Thema geäussert. Jakobson gebraucht, wie
schon Peter Eisenberg in einem luziden Artikel in der «Süddeutschen Zeitung»
dargelegt hat, in seiner Theorie wesentlich den Begriff der «Markiertheit».
Ein Beispiel: Das russische Wort «osel» bedeutet Esel. Es kann einem
anderen Wort, nämlich «oslica», gegenübergestellt werden, welches die weibliche
Spezies von Esel bezeichnet. Das Wort «osel» ist jedoch, wie Jakobson ausführt,
deshalb nicht explizit auf männliche Esel festgelegt. Das Substantiv ist vielmehr
eine allgemeine Gattungsbezeichnung; «osel» ist nach Jakobson die «unmarkierte»
Form. Mit dieser grammatisch, aber nicht inhaltlich maskulinen Form wird also
die weibliche Spezies automatisch mit erfasst. «Osel» und «oslica» jedes Mal
zusammen zu nennen, wenn man sich auf Esel welcher Art auch immer beziehen
will, wäre völlig unökonomisch und kontraproduktiv. Es würde die Sprache
belasten, ohne auch nur den geringsten inhaltlichen Beitrag zu leisten.
Jakobsons Argument überträgt sich ohne Einschränkungen auf das Deutsche.
«Student» und «Studenten» bedeuten keine Festlegung auf das natürliche
Geschlecht und somit auf männliche Wesen. Diese Substantive sind «unmarkierte»
Formen, die den Bezug auf weibliche Wesen, die studieren, automatisch mit
einschliessen. Erst wenn man betonen will, dass man sich ausschliesslich auf
die weibliche Spezies beziehen möchte, kommen «Studentin» und «Studentinnen»
zum Einsatz. Es gibt demnach, folgt man der unbestrittenen linguistischen
Argumentation von Roman Jakobson, keinen Grund, das gute alte Studentenwerk in
ein Studierendenwerk umzutaufen.
Im Übrigen wird in der Genderdebatte übersehen, dass es sich bei
Nominalkomposita wie «Studentenwerk» oder «Brillengestell» meistens gar nicht
um Festlegungen von Genus und Numerus handeln kann. Das Studentenwerk ist
bekanntlich für alle Personen da, die an einer Universität eingeschrieben sind.
Wieso aber, so mag man sich dann fragen, Student-en-werk? Die korrekte
Antwort ist, dass das -en ein sogenanntes «Fugenmorphem» ist. Ein solches Wortteil
(Morphem) wird eingeschoben, weil «Studentwerk» nicht möglich ist und schlicht
und ergreifend ungut und kakofonisch klingt. Ein Brille-n-gestell ist in erster
Linie kein Gestell, in dem mehrere Brillen aufbewahrt werden, sondern der
Rahmen, der die Gläser einer Brille hält und eine Fixierung an den Ohren
erlaubt.
Kein natürlicher Wandel
Die Belege sind erdrückend. Und da kommen jetzt auf einmal missionarisch
getriebene Sprachklempnerinnen daher und wollen uns erzählen, dass bei
«Studentenwerk» ein frauendiskriminierendes Morphem auftaucht, das
ungerechterweise nur Männer im Plural bezeichnet und Frauen ausschliesst. Man
kann sich über so viel Ignoranz nur an den Kopf fassen. Dass diese Ignoranz
ausgerechnet in den Universitäten zu Hause ist, wo man alle Chancen der Welt
hätte, es besser zu wissen, ist eine beachtliche bildungspolitische und
kulturelle Schande.
Ich möchte mich hier nicht in die Reihe der Empörten stellen, die einen
Sprachverfall beklagen. Ich gehöre zu denjenigen, die eine unaufhaltsame
historische Änderung der Sprache als quasi naturgegeben anerkennen. Das Problem
ist, dass die Gendersprache keine aus der Sprache selbst hervorgehende
Evolution darstellt, sondern ein von aussen aufgesetztes Reförmchen.
Mir sind immer wieder Kommentare unter die Augen gekommen, die die
Innovation der Gendersprache mit den historischen Prozessen verwechseln, die
uns aus der Entwicklung vom Alt- zum Mittel- und von dort zum Neuhochdeutschen
bekannt sind. Nichts könnte falscher sein. Mit natürlichem Sprachwandel hat
Gendersprache nicht das Geringste zu tun, denn Sprachen wandeln sich niemals in
Richtung Unfug.
Wenn sich Sprachen wandeln – kann der Mensch diesen Wandel denn nicht
auch beeinflussen? Sicher: Die Menschen können neue Begriffe für neue Dinge
einführen und neue Namen für alte Dinge ersinnen, aber sie konnten nie die
Grammatik oder ihr phonologisches System erfinden. Das wäre etwa so absurd, wie
zu sagen, dass der Mensch das Schultergelenk oder den Haarwuchs erfunden habe.
Wieso sollte sich jemand einfallen lassen, dass Subjekt und Verb
hinsichtlich Person und Numerus übereinstimmen sollten? Und wieso sollten
andere Völker diese Erfindung nicht gemacht haben? Und wieso haben viele
Sprachen eine Grammatik, in der Genus/Gender überhaupt keine Rolle spielt? In
Bengali – das ist immerhin die derzeit siebtgrösste Sprache der Welt – gibt es
keinen Genus/Gender-Unterschied. Waren die Bengalen zu dumm, um daran zu
denken? Oder war ihnen der Unterschied nicht so wichtig, weil Männer und Frauen
in Indien und Bangladesh sowieso schon seit Jahrhunderten gleichberechtigt
leben?
Umbenennung ohne Wirkung
Hier kracht es ordentlich im Gebälk der Gender-Baracke. Die
Gendersprache folgt einem kruden Funktionalismus, der in allem, was die Sprache
bietet, einen für den Menschen wesentlichen «Sinn» sucht. Das ist extrem naiv.
Ein Gendersystem ist nicht dazu da, etwas über Männer und Frauen in einer
Gesellschaft zu sagen, sondern allenfalls, um eine Beziehung zwischen Wörtern
zu stiften, die man «Kongruenz» nennt. Hat sich das ein Komitee ausgedacht?
Natürlich nicht. Die einzige wissenschaftlich haltbare Theorie ist diejenige
von Noam Chomsky, die lautet, dass Sprache ein Teil der biologischen Welt ist
und sich somit im Rahmen der Evolution herausgebildet hat.
Dass im Deutschen das Verb im Nebensatz am Satzende, aber im Hauptsatz
an der zweiten Stelle steht, ist von niemandem «erfunden» worden. Das
Pronominalsystem einer Sprache, in dem man drei Geschlechter unterscheidet,
obwohl man nachweislich auch ohne Geschlechterunterscheidung gut auskommt, kann
ebenfalls von niemandem erfunden worden sein. Wir können also sicher sein, dass
unsere Sprache nicht menschengemacht, sondern ein Teil der Evolution ist und
damit für Eingriffe von unserer Seite gar nicht zur Verfügung steht.
Nun könnte man einwenden, dass das doch alles irrelevant sei angesichts
der politischen Schlagkraft, die eine gendergerechte Sprache in der
Gesellschaft entfaltet. Auch wenn alles auf einer Fehlanalyse aufgebaut ist, so
hat es doch eine irgendwie progressive politische Wirkung, durch die die Frauen
über das bisher Erreichte hinaus ihren Weg zur Gleichstellung unumkehrbar
machen könnten. Ich fürchte allerdings sehr, dass auch dieses Programm
scheitert.
Man weiss, dass Umbenennungen noch nie etwas an den wirklichen
Sachverhalten bewirkt haben. Ein Altenheim, das in Seniorenstift umbenannt
worden ist, bleibt für die Insassen weiterhin ein reichlich tristes Ambiente.
Und da die gendergerechte Sprache nichts anderes ist als eine fehlmotivierte
Umbenennung von bestimmten Bezeichnungen, wird sie ausser einer Menge
stilistischer und ästhetischer Entgleisungen nichts Positives und schon gar
nichts Fortschrittliches hervorbringen.
Josef Bayer ist emeritierter Professor für allgemeine und
germanistische Linguistik an der Universität Konstanz.
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