Vier Kinder stehen aufgereiht auf der Treppe
vor einem kleinen Lebensmittelladen in Emmenbrücke (LU). Sie strecken artig
auf, sie rechnen fleissig mit, sie helfen einander. 10 Franken haben sie zu
viert zur Verfügung, damit dürfen sie ein Dessert kaufen. Schoggi? Guetsli?
Kuchen? Die Kinder müssen Preise vergleichen und sich einigen. Die Frau, die
ihnen diese Aufgabe stellt, ist ihre Mutter. Es ist der einzige Moment im
Verlauf des ganzen Vormittags, in dem sie wie eine Lehrerin wirkt.
Weg von der Volksschule, Basler Zeitung, 18.3. von Raphaela Birrer und Markus Häfliger
Zu
Hause im Wohnzimmer der Familie ist das anders. Dort ist Janet Stücklin vor
allem Mutter. Daniel (5) spielt Klavier, Joseph (8) liest, Vivienne (7) übt
Gymnastik und Eleonora (3) machts ihr nach. Es gibt kein Sofa und keinen
Fernseher bei den Stücklins, aber Lese-, Musik-, Bastel- und Büroecken. Keines
der Kinder hat je eine Schule besucht. Mutter Janet, studierte Mathematikerin
und Musikerin, unterrichtet sie seit vier Jahren daheim.
Werte
im Promillebereich
Wie
die Kinder der Stücklins werden über 2000 Schüler in der Schweiz zu Hause
unterrichtet. Diese überraschend hohe Zahl ist das Ergebnis einer Umfrage
dieser Zeitung in allen Kantonen. Gemessen an der Gesamtschülerzahl liegen die
Werte zwar noch im Promillebereich. Doch die absoluten Zahlen sind in den
letzten Jahren explodiert.Besonders viele sogenannte Homeschooler gibt es in
der Waadt (650 Schüler), in Bern (576), im Aargau (246) und in Zürich (240). In
diesen Kantonen haben sich die Zahlen allein in den letzten fünf Jahren
verdoppelt bis verdreifacht. Unterrichtet werden diese Kinder meist von ihren
Eltern, die manchmal ausgebildete Lehrer sind, meistens aber nicht. Es gibt
aber auch zehn Kantone, in denen kein einziges Kind zu Hause unterrichtet wird
– meist weil die Behörden dies nicht wollen.
Diese
Entwicklung ruft jetzt die Politik auf den Plan: SP-Nationalrat Adrian Wüthrich
reicht diese Woche im Parlament eine Motion ein, in der er nationale Regeln
fordert. Der Berner Bildungspolitiker ist besorgt, weil sich in einigen
Kantonen Heimunterricht-Hochburgen bildeten: «Wegen der vergleichsweise laschen
Vorgaben findet zum Beispiel ein regelrechter Homeschooling-Tourismus in den
Kanton Bern statt. Der Bund muss jetzt eingreifen.»
Für
die Selbstbestimmung
Mitverantwortlich
für den Boom ist der Aargauer Willi Villiger, Präsident des Vereins Bildung zu
Hause. Als dieser vor 20 Jahren gegründet wurde, war Homeschooling eine
Randerscheinung. «Die wenigen Familien, die damals ihre Kinder zu Hause
unterrichtet haben, stammten primär aus evangelikalen Freikirchen», sagt
Villiger, selber Oberstufenlehrer in der Volksschule. Inzwischen seien die
Homeschooler aber so zahlreich geworden, dass fromme Christen nur noch eine
Minderheit darstellten.
Villiger
unterscheidet heute drei Motive: Eine erste Gruppe von Eltern ist mit dem
Leistungsniveau der örtlichen Schule nicht zufrieden. Eine zweite Gruppe wird
unfreiwillig zu Heimlehrern, weil ihr Kind in der Schule psychische oder gar
gesundheitliche Probleme entwickelt. Die dritte Gruppe seien junge Eltern, die
sich ihr Familienleben «nicht von aussen bestimmen lassen, sondern aktiv
gestalten und ihre Ideale verwirklichen möchten», sagt Viliger. Im Grunde sei
Homeschooling auch ein Symptom der Postmoderne, eine Konsequenz der
Individualisierung.
Bei
den Stücklins spielten mehrere Faktoren eine Rolle: Mutter Janet ist in den USA
aufgewachsen und wurde selber zu Hause unterrichtet. Zudem legt die Familie
Wert darauf, dass die Kinder zweisprachig aufwachsen. Und sie will eine eigene
Familienkultur pflegen, in der das Lernen fliessend und stressfrei in den
Alltag integriert ist. Zu dieser Kultur gehört auch eine Verbundenheit mit dem
christlichen Glauben. Für solche Argumente haben viele Kantone kein
Verständnis. Elf Bildungsdirektionen zeigen sich in der Umfrage besorgt wegen
der sozialen Integration. «Beim Privatunterricht bestehen klare Nachteile, da
die Volksschule neben den fachlichen auch soziale Kompetenzen vermitteln soll –
das geht in einer Gruppe besser als im Einzelunterricht», heisst es in Luzern,
Stücklins Wohnkanton. Für die Schwyzer Behörden ist die Integration in den
Klassenverband «oberste Prämisse, um den Sozialkompetenzen gerecht zu
werden».Mit der «Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit» argumentiert auch der
Kanton St. Gallen, wenn er gegen Homeschooler vorgeht. Eine Familie wurde
zunächst von ihrer Gemeinde mit 1 000 Franken gebüsst, weil sie ein Kind nicht
in den Kindergarten schickte. Dann wurden beide Elternteile im Juli 2017
gerichtlich zu je 2 500 Franken Busse verurteilt. Nach der Ankündigung der
Gemeinde, diese Sanktionen halbjährlich zu wiederholen, zog die Ehefrau mit den
zwei Kindern nach Österreich.
Wegzug
aus Basel
Andere
Familien ziehen um in Kantone, in denen die Regeln lascher sind. Ein Lehrerpaar
beantragte in Basel-Stadt, seine vier Kinder ein Jahr lang selber zu
unterrichten. Weil das nicht bewilligt wurde, zog die Familie in den Kanton
Bern, wo sie nun Homeschooling im dritten Jahr macht. «Wir haben einen neuen
Lebensstil entdeckt», erzählt die Mutter begeistert.
Die
Familie könne ihr Leben selbstbestimmter gestalten und mehr zusammen sein. Das
Basler Erziehungsdepartement bestätigt, dass es solche Erfahrungen «restriktiv»
bewilligt, das heisst: fast nie. Schüler müssten «Austausch mit Gleichaltrigen»
haben, so das Departement. Janet Stücklin kennt diese Argumente. «Wir achten
darauf, dass unsere Kinder ausreichend mit den Nachbarskindern spielen und
Hobbys pflegen», sagt sie. Dass das Leben nicht aus Zuckerwatte bestehe,
lernten die Kinder zum Beispiel in Auseinandersetzungen auf dem Spielplatz.
Gemäss
Carsten Quesel, Professor für Bildungssoziologie an der Fachhochschule
Nordwestschweiz, gibt es keine Belege für eine «soziale Verarmung» der Kinder –
allerdings sei das Thema in der Schweiz bislang kaum erforscht. Die Gefahr der
radikalen Abschottung sei «eher klein», auch der Verein Bildung zu Hause
unterstütze die Vernetzung mit der Umwelt, sagt Quesel. Es könne aber Eltern
geben, die diesem nicht beiträten und sich dem Dialog verweigerten.
Wegen
des Bildungsniveaus äussern die Kantone hingegen kaum Bedenken. Die Zürcher
Bildungsdirektion hält fest, die grosse Mehrheit der privat unterrichteten
Kinder erbringe «gute schulische Leistungen». Auch Willi Villigers eigenen
Kindern scheint der Anschluss an die Bildungswelt ausserhalb des Elternhauses
keine Mühe zu bereiten: Sieben haben eine akademische Laufbahn eingeschlagen,
einer macht eine Lehre, zwei werden noch zu Hause unterrichtet.
Trotzdem:
Die rasante Zunahme des Homeschoolings alarmiert nun auch einzelne Kantone.
Jüngst hat der Aargau seine Anforderungen leicht verschärft: Unterrichtende
Eltern müssen neu im Minimum eine Berufslehre oder eine Matur vorweisen. Die
Waadt will die Kontrolle über die Homeschooler erhöhen, auch Neuenburg erwägt
strengere Regeln. Umgekehrt überprüfen auch restriktive Kantone ihre Regeln –
etwa Schaffhausen. Nationalrat Wüthrich will die Bildungshoheit der Kantone nun
beschneiden. Das hält er für gerechtfertigt, weil die sehr unterschiedlichen
Anforderungen «für Verwirrung sorgen». Zudem könnten die Vorgaben durch einen Kantonswechsel
leicht umgangen werden. Nationale Mindestanforderungen, sagt Wüthrich, seien
einfach nötig – etwa ein Lehrerdiplom oder regelmässige Kontrollen durch das
Schulinspektorat.
Bei
den Stücklins stiess die Inspektorin auf eine Lernatmosphäre, die mit
klassischer Schule wenig gemein hat. Mutter Janet setzt weder auf Lektionen
noch Prüfungen. Vielmehr integriert sie das Lernen in den Alltag. Die beiden
Älteren lösen zudem zweimal pro Tag kurze Aufgaben und Arbeitsblätter. «Bei uns
gibt es wenig Zwang. Wir geben den Kindern viel Zeit für ihre Interessen,
setzen aber Mithilfe im Haushalt voraus», sagt sie. Die Kinder der Stücklins
wissen nicht, wie es sich anfühlt, vier Lektionen am Pult zu sitzen. Aber sie
wissen, wie man einen Teig auswallt oder sich selber zum Klavierspielen
motiviert.
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