14. Februar 2019

Schulleitungen bestimmen selbst über Sonderpädagogik-Lektionen


Seit Jahren wird im Baselbiet um neue Regeln für die Sonderpädagogik an der Volksschule gestritten. Eine erste, vom damaligen Bildungsdirektor Urs Wüthrich erarbeitete Vorlage wurde im Juni 2014 vom Landrat zurückgewiesen. Es war eine der bittersten Niederlagen für den SP-Regierungsrat, die ihn über einen vorzeitigen Rücktritt nachdenken liess. Wüthrichs Nachfolgerin Monica Gschwind (FDP) hat das schwierige Thema unter neuen Vorzeichen wieder aufgerollt. Nach jahrelanger Arbeit und umfassendem Vernehmlassungsprozess überweist die Regierung dem Parlament nun eine neue Vorlage. Die bz beantwortet zum komplexen Geschäft die sieben wichtigsten Fragen.
Förder-Kontingente für Schulen, Basellandschaftliche Zeitung, 14.2. von Hans-Martin Jermann


1. Was sind die wichtigsten Neuerungen in der Sonderpädagogik? 
Den Baselbieter Primar- und Sekundarschulen werden künftig LektionenPools zugewiesen, die nach der Anzahl Schüler berechnet werden. So erhält zum Beispiel eine Primarschule im Bereich der Speziellen Förderung 4,3 Lektionen pro 10 Schüler, eine Sekundarschule 4,7 Lektionen. Förderangebote für fremdsprachige Schüler werden in einem separaten Lektionen-Pool definiert, der sich an der Anzahl fremdsprachiger Schüler an der entsprechenden Schule orientiert. Ebenfalls einen separaten Pool gibt es für die Sonderschulung. Die Schulen können selbst entscheiden, ob sie die Kontingente für separative oder integrative Förderung im Rahmen der Regelklassen verwenden wollen.

2. Doch weshalb die Neuregelung mit den Lektionen-Pools? 
Integrative Schulungsformen haben in der Deutschschweiz in den letzten Jahren fast überall zu einem Anstieg der Kosten geführt. Die Regierung erhofft sich von der neuen Lösung einen effizienteren Einsatz der zur Verfügung gestellten Gelder, also eine Stabilisierung der Kosten. Neu entscheiden die Schulleitungen, wie sie Lektionen einsetzen – ob sie zum Beispiel eine Fremdsprachenintegrationsklasse einführen oder integrativ einzelnen Schülern Deutsch als Zweitsprache anbieten. «Bisher war der Förderapparat schwerfällig», sagt Marianne Stöckli, Leiterin der Abteilung Sonderpädagogik im Amt für Volksschulen (AVS). So seien die Ressourcen bisher meist für ein ganzes Schuljahr gesprochen worden. Künftig können die Schulleitungen flexibel entscheiden, wie viele Lektionen Unterstützung ein Schüler, für welche Dauer erhalten soll. Vermehrt sollen mit dem neuen Modell ganze Klassen unterstützt werden. Die Pools müssen nicht ausgeschöpft werden.

3. Ist das eine Sparmassnahme? 
Nein, sagen die Verantwortlichen des Kantons. In der Sonderpädagogik sollen gleichviel Mittel zur Verfügung stehen wie bisher, wobei die Kosten im Jahr 2017 als Berechnungsbasis dienen. Im Kantonsbudget 2020 sind 68,3 Millionen Franken vorgesehen. Der Gesamtbetrag wird jeweils an die Zahl der Schüler angepasst, also zumindest in den folgenden Jahren leicht ansteigen. Bei den Kostenträgern gibt es keine Änderungen: Alle Angebote an der Primarschule, die bereits bisher von den Gemeinden finanziert wurden, verbleiben in deren Zuständigkeit.

4. Die Lektionen-Pools sind umstritten. Weshalb? 
Die Baselbieter SP hält den Ressourcen-Pool für Förderlektionen für zu starr. Dieser orientiere sich nicht am tatsächlichen Bedarf in den einzelnen Gemeinden und Sekundarschulorten. Die SP fordert, zur Berechnung der Förderkontingente einen Sozialindex einzubeziehen, der die unterschiedliche Bevölkerungsstruktur der Gemeinden berücksichtigt. AVS-Leiter Beat Lüthy hält entgegen, dass ein solcher Sozialindex zu kompliziert sei. Zugleich betont er, dass durch die Schaffung eines separaten Pools für fremdsprachige Schüler der Tatsache Rechnung getragen werde, dass der Ausländeranteil stark variiere. Zudem betonen Lüthy und Stöckli, dass Kanton und Gemeinden Härtefallgesuche bewilligen können. Ein Härtefall liegt zum Beispiel vor, wenn eine fremdsprachige Familie mit vier Kindern in ein kleines Oberbaselbieter Dorf zieht, und die dortige Primarschule über Nacht mit einem stark erhöhten Förderbedarf konfrontiert wird.

5. Welche Einflussmöglichkeiten haben die Eltern auf Fördermassnahmen für ihre Kinder? 
Sie verfügen über ein Antrags- und Beschwerderecht. Allerdings haben die Eltern keinen Anspruch auf eine bestimmte Massnahme. Ebenfalls können sie die Abklärung ihres Kindes nicht verhindern, wenn die Schulleitung dies wünscht und das AVS grünes Licht gegeben hat. Die Eltern dürfen aber den Ort bestimmen und können ihre Kinder auch von sich aus beim Schulpsychologischen Dienst anmelden.

6. Unter das neue Gesetz fallen Sonderschulung und Spezielle Förderung. Was ist der Unterschied? 
Spezielle Förderung unterstützt Schüler, die im Regelunterricht nicht ausreichend gefördert werden können. Das sind Schüler mit Lernbeeinträchtigungen, mit besonderen Begabungen oder fremdsprachige Schüler. Die Sonderschulung unterstützt Schüler mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung sowie solche mit schweren Lernoder Verhaltensstörungen. In der Sonderschulung hat der Anteil der Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten gegenüber jenen mit einer Behinderung in den vergangenen Jahren zugenommen.

7. Bevorzugt das Gesetz die integrative oder separative Schulung? 
«Weder noch», sagt AVS-Leiter Beat Lüthy. Der Kanton gehe einen pragmatischen Mittelweg. Das Baselbieter Stimmvolk hat 2010 den Beitritt zum Sonderpädagogik-Konkordat gutgeheissen. Dieses verpflichtet den Kanton dazu, die Schüler «vorzugsweise» integrativ, also mit spezieller Förderung neben dem Regelunterricht, zu schulen. Dennoch will der Kanton an separativen Formen wie Einführungsoder Kleinklassen im neuen Gesetz ausdrücklich festhalten.

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