22. Februar 2019

Mehr Gerechtigkeit an der Sekundarstufe


Der Übertritt von der Primar- auf die Sekundarstufe ist eine Zäsur. Erstmals werden die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Leistung selektioniert. Wer in Zürich nicht ans Langgymnasium oder an eine Privatschule wechselt, tritt in die öffentliche Sekundarschule über, eingestuft in ein Anforderungsprofil und allenfalls in zusätzliche Leistungsniveaus. Für die meisten Jugendlichen finden hier die wichtigsten Weichenstellungen ihrer Bildungslaufbahn statt. Drei Viertel werden danach direkt eine berufliche Ausbildung beginnen. Die Übrigen wechseln ins Kurzgymnasium oder absolvieren ein Brückenangebot.
Sekundarlehrerinnen haben die anspruchsvolle Aufgabe, pubertierende 12- bis 15-Jährige, die aus allen Schichten und Milieus kommen und oft genug gerade andere Dinge im Kopf haben, auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Sie sollen Leistungsschwache motivieren, Leistungsstarke fördern und seit einigen Jahren Jugendliche mit speziellen Bedürfnissen in die Regelklassen integrieren. Sie müssen sowohl künftigen Lehrlingen – von der Automechanikerin bis zum KV-Absolventen – als auch Gymnasiastinnen eine solide Grundbildung ermöglichen. Dabei sind sie mit den sehr unterschiedlichen Erwartungen von Schülern, Eltern, höheren Schulen und Lehrbetrieben konfrontiert.
Das Schulmodell allein macht die Sek nicht fair, NZZ, 22.2. von Lena Schenkel


Integrierend oder separierend

Alle Ansprüche kann die Sek nicht erfüllen. Doch wie wird die Sekundarstufe diesen am besten gerecht? Seit bald fünfzig Jahren streiten sich Bildungswissenschafter, Lehrerinnen und Politiker über genau diese Frage. Ist ein eher integratives Modell (möglichst leistungsdurchmischt) oder ein eher separierendes (stärker niveaugetrennt) vorzuziehen? Die Lehrerschaft zeigt sich in dieser Frage ebenso gespalten wie die Politik und die Wissenschaft.

Die eigentliche Crux der Modellfrage liegt aber im sogenannten Schereneffekt: Begabte und schnell lernende Schülerinnen und Schüler profitieren von einer Zuteilung in eine leistungsstarke, homogene Lerngruppe, während die Leistungsschwachen in heterogenen mehr profitieren, da sie sich naturgemäss nach oben orientieren. Sie zeigen in separierenden Modellen schlechtere Leistungen.

Die Schweiz gleicht in der Modellfrage denn auch einem Flickenteppich. Lediglich acht Kantone kennen ein einheitliches Modell. Zürcher Schulgemeinden haben die Wahl zwischen zwei oder drei Abteilungen (Sek A, B und allenfalls C). Zudem können sie in höchstens drei Fächern in verschiedenen Niveaustufen unterrichten. Ein mathematisch begabter B-Schüler kann in diesen Schulen beispielsweise das Fach Mathematik auf höherem Niveau A besuchen. Ein rein integratives Modell ohne Abteilungen, aber mit Niveaustufen in einzelnen Fächern – wie es etwa Luzern vor drei Jahren einführte – gibt es in Zürich nicht. Hingegen sind altersdurchmischte Abteilungen oder abteilungsdurchmischte Jahrgangsklassen erlaubt.

Uneinheitlich und ungerecht

Doch die Modellfrage ist sowieso nicht die entscheidende. Besonders im Schulbereich ist es nie zielführend, Lösungen von oben zu diktieren oder lokal erfolgreiche Modelle exportieren zu wollen. Hier hängen Erfolge wesentlich von der Motivation der einzelnen Lehrkräfte und Schulleitenden ab. Die Modellfrage ist auch nicht allein entscheidend für den Lernerfolg, wie ein Schulsystemvergleich offenbarte. Wichtiger ist die Qualität der Lernförderung und des Unterrichts. 

Statt einer Schulreform braucht es also punktuelle Verbesserungen an der Basis und eine inhaltliche statt einer strukturellen Harmonisierung. Der Lehrplan 21, der in Zürich nach den Sommerferien auf der Sekundarstufe eingeführt wird, bietet die Möglichkeit dafür, alte Probleme neu anzupacken. Das ist umso dringender, als das heutige System uneinheitlich und ungerecht ist.

In Zürich mangelt es zum einen an Vergleichbarkeit: Zählt ein B-Schüler in Bauma zur mittleren Leistungsgruppe, gehört er in der Nachbargemeinde Fischenthal möglicherweise zur schwächsten. Auch die Zeugnisse sind bei acht Sekundarschulmodellen wenig aussagekräftig. Zum andern leidet die Chancengerechtigkeit: Trotz Separation zeigen die Schülerinnen und Schüler nämlich erhebliche Leistungsüberschneidungen. Fast die Hälfte von ihnen könnte etwa gemessen an ihren Deutsch- und Mathematikleistungen auch eine höhere oder niedrigere Abteilung besuchen.

Das C-Stigma

Gleichwohl sind Um- und vor allem Aufstufungen selten; das System ist in der Praxis weit weniger durchlässig als in der Theorie. Dies ist umso ungerechter, als der Leistungszug den weiteren Bildungsverlauf und die Chancen auf dem Lehrstellenmarkt massgeblich beeinflusst. Insbesondere C-Schülerinnen und -Schüler tragen ein Stigma, das sie andernorts im Kanton – in Schulgemeinden ohne C-Klassen – nicht hätten. Für sie ist es besonders schwierig, nach der Sekundarschule eine Anschlusslösung zu finden.
Was ist angesichts des Modelldilemmas zu tun? Die Probleme müssen zunächst inhaltlich und nicht strukturell angegangen werden. Statt zu bedauern, dass leistungsschwache Schülerinnen und Schüler bei der Zuteilung benachteiligt sind, und ein ebenso ungerechtes Modell zu fordern, müsste der Fokus auf eine stärkere individuelle Förderung gelegt werden. Das kommt überdies auch jenen Leistungsstarken zugute, die aufgrund ihres sozialen Hintergrunds benachteiligt sind.

Chancengerechtigkeit heisst, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft jene Kompetenzen entwickeln kann, zu denen er fähig ist; alle Lernenden sollen ihr Bildungspotenzial ausschöpfen können. Der Lehrplan 21 trägt dazu bei, indem er sich an Kompetenzen statt an Zielen für die Schulstufen orientiert. Statt Stufe um Stufe eine Leiter zu erklimmen, bewegen sich die Schülerinnen eher durch eine Landkarte des Lernens. Das erleichtert es ihren Lehrern, sie dort abzuholen, wo sie stehen, und individuell zu fördern. Denn die Annahme, dass alle gleich sind und dieselben Chancen haben, wäre eben gerade nicht fair.

Individualisierter Unterricht bedeutet freilich weder, dass gemeinschaftsbildende Elemente fehlen sollen, noch, dass eine Lehrerin auf jeden Schüler einzeln eingehen muss. Drei Niveaustufen reichen völlig. Lehrer müssen jedoch befähigt werden, ihr Sensorium für die richtige Verortung ihrer Schülerinnen zu stärken. Weiter benötigen sie Lehrmittel, welche diese Bandbreite an Lernständen abdecken. Bei den Leistungsschwachen gilt es den Lernstoff auf die Grundkompetenzen zu konzentrieren. Das beschert ihnen Erfolgserlebnisse und motiviert sie.

Während höhere Schulen, künftige Arbeitgeber und Eltern eine aussagekräftige summarische Beurteilung erwarten dürfen, sollte zwischen Schüler und Lehrerin im Sinne der individuellen Förderung die Bewertung des Lernfortschritts im Vordergrund stehen. Wertvoll wäre dafür eine Feedback-Kultur, wie sie etwa der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie als einen der wichtigsten Einflussfaktoren für den Lernerfolg nennt. Zudem sollten die überfachlichen Kompetenzen mehr Gewicht erhalten. Sie werden in zunehmend digitalisierten Berufen an Bedeutung gewinnen.

Lehrer sinnvoll entlasten

Selbstredend müssen auch die Rahmenbedingungen an den Schulen stimmen, damit sich die Sekundarlehrerinnen und -lehrer auf ihr Kerngeschäft, das Unterrichten, konzentrieren können. Das beginnt bei der Ausbildung, die passgenau auf die Anforderungen dieser anspruchsvollen Stufe ausgerichtet sein muss. Sie müssen von Administrativem entlastet werden, damit die wichtigen pädagogischen Diskussionen nicht unter Papierbergen versinken.

Assistenzen können helfen – aber nur dann, wenn sie effektiv Unterstützung bieten und nicht etwa durch allerlei Absprachen zusätzlichen Aufwand generieren. Ausserdem sollte die Rolle der Heilpädagogen gefestigt werden – weg vom faktischen Nachhilfelehrer zur effektiven Fachkraft für Integration. Dafür bringen diese idealerweise einen auf die Sekundarschule zugeschnittenen Ausbildungshintergrund mit.

Ob Jugendliche ihr Bildungspotenzial optimal ausschöpfen können, hängt freilich nicht nur von dem ab, was auf der Sekundarstufe passiert. Mindestens genauso wichtig sind die Übergänge. Es sind die Primarschullehrer und die Eltern, welche gemeinsam über die Einstufung beim Übertritt entscheiden. Und es sind die Gymnasien, die Berufsfachschulen sowie die Wirtschaft, welche sie weiter ausbilden. Es wird auch nötig sein, deren Sensorium für die richtige Verortung von Individuen zu schärfen.

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