Der
Übertritt von der Primar- auf die Sekundarstufe ist eine Zäsur. Erstmals werden
die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Leistung selektioniert. Wer in
Zürich nicht ans Langgymnasium oder an eine Privatschule wechselt, tritt in die
öffentliche Sekundarschule über, eingestuft in ein Anforderungsprofil und
allenfalls in zusätzliche Leistungsniveaus. Für die meisten Jugendlichen finden
hier die wichtigsten Weichenstellungen ihrer Bildungslaufbahn statt. Drei
Viertel werden danach direkt eine berufliche Ausbildung beginnen. Die Übrigen
wechseln ins Kurzgymnasium oder absolvieren ein Brückenangebot.
Sekundarlehrerinnen
haben die anspruchsvolle Aufgabe, pubertierende 12- bis 15-Jährige, die aus
allen Schichten und Milieus kommen und oft genug gerade andere Dinge im Kopf
haben, auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Sie sollen Leistungsschwache
motivieren, Leistungsstarke fördern und seit einigen Jahren Jugendliche mit
speziellen Bedürfnissen in die Regelklassen integrieren. Sie müssen sowohl
künftigen Lehrlingen – von der Automechanikerin bis zum KV-Absolventen – als
auch Gymnasiastinnen eine solide Grundbildung ermöglichen. Dabei sind sie mit
den sehr unterschiedlichen Erwartungen von Schülern, Eltern, höheren Schulen
und Lehrbetrieben konfrontiert.
Das Schulmodell allein macht die Sek nicht fair, NZZ, 22.2. von Lena Schenkel
Integrierend oder separierend
Alle
Ansprüche kann die Sek nicht erfüllen. Doch wie wird die Sekundarstufe diesen
am besten gerecht? Seit bald fünfzig Jahren streiten sich
Bildungswissenschafter, Lehrerinnen und Politiker über genau diese Frage. Ist
ein eher integratives Modell (möglichst leistungsdurchmischt) oder ein eher
separierendes (stärker niveaugetrennt) vorzuziehen? Die Lehrerschaft zeigt sich
in dieser Frage ebenso gespalten wie die Politik und die Wissenschaft.
Die
eigentliche Crux der Modellfrage liegt aber im sogenannten Schereneffekt:
Begabte und schnell lernende Schülerinnen und Schüler profitieren von einer
Zuteilung in eine leistungsstarke, homogene Lerngruppe, während die
Leistungsschwachen in heterogenen mehr profitieren, da sie sich naturgemäss
nach oben orientieren. Sie zeigen in separierenden Modellen schlechtere
Leistungen.
Die
Schweiz gleicht in der Modellfrage denn auch einem Flickenteppich. Lediglich
acht Kantone kennen ein einheitliches Modell. Zürcher Schulgemeinden haben die
Wahl zwischen zwei oder drei Abteilungen (Sek A, B und allenfalls C). Zudem
können sie in höchstens drei Fächern in verschiedenen Niveaustufen
unterrichten. Ein mathematisch begabter B-Schüler kann in diesen Schulen
beispielsweise das Fach Mathematik auf höherem Niveau A besuchen. Ein rein
integratives Modell ohne Abteilungen, aber mit Niveaustufen in einzelnen
Fächern – wie es etwa Luzern vor drei Jahren einführte – gibt es in Zürich
nicht. Hingegen sind altersdurchmischte Abteilungen oder abteilungsdurchmischte
Jahrgangsklassen erlaubt.
Uneinheitlich und ungerecht
Doch
die Modellfrage ist sowieso nicht die entscheidende. Besonders im Schulbereich
ist es nie zielführend, Lösungen von oben zu diktieren oder lokal erfolgreiche
Modelle exportieren zu wollen. Hier hängen Erfolge wesentlich von der
Motivation der einzelnen Lehrkräfte und Schulleitenden ab. Die Modellfrage ist
auch nicht allein entscheidend für den Lernerfolg, wie ein Schulsystemvergleich
offenbarte. Wichtiger ist die Qualität der Lernförderung und des Unterrichts.
Statt
einer Schulreform braucht es also punktuelle Verbesserungen an der Basis und
eine inhaltliche statt einer strukturellen Harmonisierung. Der Lehrplan 21, der
in Zürich nach den Sommerferien auf der Sekundarstufe eingeführt wird, bietet
die Möglichkeit dafür, alte Probleme neu anzupacken. Das ist umso dringender,
als das heutige System uneinheitlich und ungerecht ist.
In
Zürich mangelt es zum einen an Vergleichbarkeit: Zählt ein B-Schüler in Bauma
zur mittleren Leistungsgruppe, gehört er in der Nachbargemeinde Fischenthal
möglicherweise zur schwächsten. Auch die Zeugnisse sind bei acht
Sekundarschulmodellen wenig aussagekräftig. Zum andern leidet die
Chancengerechtigkeit: Trotz Separation zeigen die Schülerinnen und Schüler
nämlich erhebliche Leistungsüberschneidungen. Fast die Hälfte von ihnen könnte
etwa gemessen an ihren Deutsch- und Mathematikleistungen auch eine höhere oder
niedrigere Abteilung besuchen.
Das C-Stigma
Gleichwohl
sind Um- und vor allem Aufstufungen selten; das System ist in der Praxis weit
weniger durchlässig als in der Theorie. Dies ist umso ungerechter, als der
Leistungszug den weiteren Bildungsverlauf und die Chancen auf dem
Lehrstellenmarkt massgeblich beeinflusst. Insbesondere C-Schülerinnen und
-Schüler tragen ein Stigma, das sie andernorts im Kanton – in Schulgemeinden
ohne C-Klassen – nicht hätten. Für sie ist es besonders schwierig, nach der
Sekundarschule eine Anschlusslösung zu finden.
Was
ist angesichts des Modelldilemmas zu tun? Die Probleme müssen zunächst
inhaltlich und nicht strukturell angegangen werden. Statt zu bedauern, dass
leistungsschwache Schülerinnen und Schüler bei der Zuteilung benachteiligt
sind, und ein ebenso ungerechtes Modell zu fordern, müsste der Fokus auf eine
stärkere individuelle Förderung gelegt werden. Das kommt überdies auch jenen
Leistungsstarken zugute, die aufgrund ihres sozialen Hintergrunds benachteiligt
sind.
Chancengerechtigkeit
heisst, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft jene Kompetenzen
entwickeln kann, zu denen er fähig ist; alle Lernenden sollen ihr
Bildungspotenzial ausschöpfen können. Der Lehrplan 21 trägt dazu bei, indem er
sich an Kompetenzen statt an Zielen für die Schulstufen orientiert. Statt Stufe
um Stufe eine Leiter zu erklimmen, bewegen sich die Schülerinnen eher durch
eine Landkarte des Lernens. Das erleichtert es ihren Lehrern, sie dort
abzuholen, wo sie stehen, und individuell zu fördern. Denn die Annahme, dass
alle gleich sind und dieselben Chancen haben, wäre eben gerade nicht fair.
Individualisierter
Unterricht bedeutet freilich weder, dass gemeinschaftsbildende Elemente fehlen
sollen, noch, dass eine Lehrerin auf jeden Schüler einzeln eingehen muss. Drei
Niveaustufen reichen völlig. Lehrer müssen jedoch befähigt werden, ihr
Sensorium für die richtige Verortung ihrer Schülerinnen zu stärken. Weiter
benötigen sie Lehrmittel, welche diese Bandbreite an Lernständen abdecken. Bei
den Leistungsschwachen gilt es den Lernstoff auf die Grundkompetenzen zu
konzentrieren. Das beschert ihnen Erfolgserlebnisse und motiviert sie.
Während
höhere Schulen, künftige Arbeitgeber und Eltern eine aussagekräftige
summarische Beurteilung erwarten dürfen, sollte zwischen Schüler und Lehrerin
im Sinne der individuellen Förderung die Bewertung des Lernfortschritts im
Vordergrund stehen. Wertvoll wäre dafür eine Feedback-Kultur, wie sie etwa der
neuseeländische Bildungsforscher John Hattie als einen der wichtigsten
Einflussfaktoren für den Lernerfolg nennt. Zudem sollten die überfachlichen
Kompetenzen mehr Gewicht erhalten. Sie werden in zunehmend digitalisierten
Berufen an Bedeutung gewinnen.
Lehrer sinnvoll entlasten
Selbstredend
müssen auch die Rahmenbedingungen an den Schulen stimmen, damit sich die
Sekundarlehrerinnen und -lehrer auf ihr Kerngeschäft, das Unterrichten,
konzentrieren können. Das beginnt bei der Ausbildung, die passgenau auf die
Anforderungen dieser anspruchsvollen Stufe ausgerichtet sein muss. Sie müssen
von Administrativem entlastet werden, damit die wichtigen pädagogischen
Diskussionen nicht unter Papierbergen versinken.
Assistenzen
können helfen – aber nur dann, wenn sie effektiv Unterstützung bieten und nicht
etwa durch allerlei Absprachen zusätzlichen Aufwand generieren. Ausserdem
sollte die Rolle der Heilpädagogen gefestigt werden – weg vom faktischen
Nachhilfelehrer zur effektiven Fachkraft für Integration. Dafür bringen diese
idealerweise einen auf die Sekundarschule zugeschnittenen
Ausbildungshintergrund mit.
Ob
Jugendliche ihr Bildungspotenzial optimal ausschöpfen können, hängt freilich
nicht nur von dem ab, was auf der Sekundarstufe passiert. Mindestens genauso
wichtig sind die Übergänge. Es sind die Primarschullehrer und die Eltern,
welche gemeinsam über die Einstufung beim Übertritt entscheiden. Und es sind
die Gymnasien, die Berufsfachschulen sowie die Wirtschaft, welche sie weiter
ausbilden. Es wird auch nötig sein, deren Sensorium für die richtige Verortung
von Individuen zu schärfen.
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