Politisch
gibt es Handlungsdruck. Und viele Motionen: «ADHS ist keine Krankheit! Die
wirklichen Ursachen müssen angepackt werden.» Das forderte Nationalrätin Verena
Herzog, SVP. Letzten September wurde ihre Motion vom Ständerat abgelehnt.
Vorstösse zu Ritalin und Kindern mit
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gibt es jedes Jahr im
Parlament, aus allen Parteien. 2017 wurde eine Motion von Yvette Estermann,
SVP, abgeschrieben, die gefordert hatte, der Bundesrat solle Massnahmen
ergreifen um den Ritalin-Konsum einzuschränken. Yvonne Feri (SP), Oskar
Freysinger (SVP), Erich Siebenthal (SVP), Jacqueline Fehr (SP), Ruth Humbel
(CVP). Die besorgten Nationalräte sind zahlreich.
Ritalin fürs Klassenzimmer, Basellandschaftliche Zeitung, 16.1. von Sabine Kuster
Der Bundesrat lehnt die
Motionen meist ab, doch in der Beantwortung verweist er auf ein
Forschungsprojekt mit nichtmedikamentösen Behandlungsansätzen, die das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegeben habe. Bloss: Das Projekt mit
dem Namen «Fokus» ist weitgehend unbekannt. Durchgeführt hat es 2016 die
Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Nun wurde die
Weiterbildung für die Sek-IStufe ergänzt, die neue Ausbildung startet dieses
Jahr.
Es wird wenig geforscht
Der Co-Autor der Studie, Markus P.
Neuenschwander, sagt: «Pro Schulklasse gibt es in der Schweiz durchschnittlich
ein Kind mit ADHS, und dennoch widmen sich in der Schweiz nur wenige
Bildungsforscher dem Thema.» Konkret ist Neuenschwander momentan der Einzige,
der das Problem wissenschaftlich und nicht-medikamentös anpackt. Ratgeber zum Umgang
mit hyperaktiven Kindern in Schulklassen gibt es zwar viele, aber geprüft ist
wenig.
Markus Neuenschwander und Sara Benini erfanden keine neuen
Wunderinstrumente, sondern sammelten bewährte Strategien, um den Unterricht von
Kindern mit ADHS zu beruhigen – und prüften sie. 96 Lehrpersonen der 1. und 2.
Klasse setzten diese während eines Jahres in ihrer Klasse um, während eine
Kontrollgruppe mit 39 Lehrpersonen wie gewohnt unterrichtete. Die Lehrpersonen
und die Eltern wurden zur Evaluation vor und nach dem Programm befragt und die
Kinder in der Klasse davor und danach während einer Lektion beobachtet.
Zum
Beispiel gestalten die Lehrpersonen das Klassenzimmer so, dass die Kinder auf
häufig begangenen Wegen nicht abgelenkt werden. Oft benötigtes Material wird
gut zugänglich aufbewahrt. Verhaltensauffällige Kinder erhalten
Einzelarbeitsplätze. Dies alles, um Konfliktzonen im Raum zu entschärfen.
Und
die Lehrpersonen arbeiten bewusst mit Ritualen. Solche machen den
Unterrichtsablauf
für die Kinder vorhersehbar und geben ein Gefühl von Sicherheit. Ausserdem sind
sie gemeinschaftsbildend. Ein zweiminütiges Musikstück signalisiert
beispielsweise, dass nun Zeit zum Aufräumen ist. Oder ein Schild mit drei
Farbbereichen zeigt an, ob gerade ruhig gearbeitet wird, halb-laut oder freies
Spiel angesagt ist.
Allgemein wird stark auf klare Aufträge und Regeln
geachtet. Wichtig sind dabei die sogennanten Wenn-Dann-Pläne: Lehrpersonen
besprechen mit den Kindern schwierige Situationen und Verhaltensweisen dafür.
«Die Kinder üben so schrittweise, sich und ihr Verhalten zu steuern», sagt
Neuenschwander. «Dies hilft ihnen und entlastet den Unterricht.»
Signifikante
Wirkungen
Für viele Lehrpersonen sind solche Massnahmen nichts Neues und sie
werden auch in der Ausbildung gelehrt, doch Neuenschwander und Benini haben
bewiesen, dass sie kombiniert tatsächlich wirksam sind: Zwar wurde es in allen
1. Klassen während dieser Zeit ruhiger – die Schuleinsteiger gewöhnten sich
ein. Bei den Kindern der Experimentalgruppe nahm die Unaufmerksamkeit aber
signifikant stärker ab als bei der Kontrollgruppe. Bezüglich Hy
peraktivität
war der Effekt auch vorhanden, aber nur tendenziell.
Einfache Massnahmen können
in Problemklassen eine starke Wirkung entfalten, folgerten die Studienautoren.
Eine weitere Strategie des Fokus-Projekts war aber vermutlich noch
effektvoller: die persönliche Einstellung der Lehrpersonen. Aus verschiedenen
Studien ist bekannt, dass Schüler bessere Leistungen bringen, wenn die Lehrpersonen
an sie glauben und sie mögen. Dorothée Pudewell, Primarlehrerin in Dornach SO,
sagt: «Es ist wichtig, Störungen von Kindern mit ADHS nicht persönlich zu
nehmen.» Pudewell gehört zu den ersten Anwenderinnen von «Fokus» und bildet
inzwischen selbst Lehrpersonen aus. «Als Lehrerin muss man sich bewusst werden,
dass die Kinder einen Grund haben, sich so zu verhalten.» Oft seien
Unklarheiten und Unsicherheiten Gründe für die Störung. Sie spricht von einem
«Erleuchtungsmoment», wenn es gelinge, die Störung in die richtige Bahn zu
lenken, statt selber wütend zu werden.
Für andere Therapieansätze hat
Neuenschwander keine nachweisbaren Effekte gefunden. Zum Beispiel für gewisse
gezielte Bewegungsspiele wie das Ausführen von einer liegenden Acht mit den
Armen, was die Koordination beider
Hirnhälften fördern soll. Auch dass phosphatfreie Ernährung oder der Verzicht
auf E-Stoffe im Essen hyperaktive Kinder beruhige, sei durch keine Studien
erwiesen.
Grosses Interesse seitens Lehrer
Der Bund will «Fokus» nun bekannter
machen. Patrick Vuillème, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BAG, sagt:
«Ritalin ist ein Betäubungsmittel, und auf Bundesebene haben wir deshalb die
Verantwortung dafür. Wenn es zusätzlich zur Medikation verhaltenstherapeutische
Ansätze gibt, dann wollen wir diese unterstützen.» Zwei Weiterbildungen im
November in Luzern und Zürich waren ausgebucht mit 400 respektive 330
Teilnehmern. So war es auch vor einem Jahr in Basel. Jene gestern in Brugg war
mit 130 Personen immerhin gut besucht.
Die Lehrpersonen erhoffen sich
zusätzliche Hilfestellungen für unaufmerksame und hyperaktive Schüler. Derweil
reisst die Kritik am medikamentöse Hilfsmittel Ritalin nicht ab. Die Haltung
ist bekannt. CVP-Nationalrätin Ruth Humbel schrieb in einer älteren Motion:
«Die Vermutung liegt nahe, dass Kinder mit einer grossen Vitalität schnell die
Diagnose ADHS erhalten und medikamentös ruhiggestellt werden,
statt dass sie ihren Bewegungsdrang ausleben können und von ihrer Umgebung mit
Zuwendung und Geduld in ihrer Konzentrationsfähigkeit gestärkt werden.»
Ritalin
wollen aber weder die Studienautoren noch der Dachverband Lehrerinnen und
Lehrer Schweiz verteufeln. Franziska Peterhans, die Zentralsekretärin des
Dachverbandes, sagt: «Aus der Schule wissen wir, dass eine ärztlich indizierte,
befristete, sorgfältig dosierte und überwachte Medikamentenabgabe bei vielen
Kindern und auch für deren Umgebung positiv wirkt.» Sie seien ausgeglichener,
könnten sich besser konzentrieren und würden sozial weniger ausgegrenzt.
Peterhans findet aber Weiterbildungen zum Umgang mit hyperaktiven Kindern für
Lehrpersonen sinnvoll. Bloss sei das jährliche Kontingent derzeit in vielen
Kantonen wegen der Einführung des Lehrplans 21 und schulinternen
Weiterbildungen praktisch ausgeschöpft. Und Fortbildung hin oder her, Peterhans
gibt zu bedenken: «Grosse Klassen mit bis zu 28 Kindern verunmöglichen einen
guten Umgang mit ADHS-Kindern.» Zudem seien die Schulzimmer oft zu klein und
die Belastung der Lehrpersonen allgemein zu hoch, was den ADHS-Kindern schade.
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