Ungewohnt einstimmig äussern sich die Kantonsräte
zur neuen Leistungsbeurteilung in der Schule. Die Regierung müsse ein Machtwort
sprechen, damit die Noten einheitlich und aussagekräftig daherkommen.
Grosser Rat kritisiert Zeugnis, Thurgauer Zeitung, 24.1. von Larissa Flammer
Karin
Bétrisey hat ihr altes Schulzeugnis in die Grossratssitzung mitgenommen: ein
kleines Heftchen. In der anderen Hand hält sie das Zeugnis ihrer Tochter. Die
GP-Kantonsrätin (Kesswil) sagt: «Das heutige Zeugnis ist doppelt so gross,
dafür steht nur halb so viel drin.» Dass das aktuelle Thurgauer
Volksschulzeugnis seine Schwächen hat, darin sind sich die Kantonsräte am
Mittwoch in Weinfelden einig. «Chaotisch» und «überstürzt» seien die Änderungen
im Sommer 2017 eingeführt worden. Angestossen haben die Diskussion sechs
Kantonsräte mit ihrer Interpellation «Thurgauer Schulzeugnisse 2017/2018 –
aussagekräftig und vergleichbar?»
Der
wichtigste Punkt sei, dass die Zeugnisse innerhalb des Kantons gleich aussehen,
sagt Erstunterzeichner Urs Schrepfer (SVP, Busswil). Im Moment können Lehrer
selber entscheiden, ob sie gewisse Fächer zusammenfassend mit einer Note
bewerten wollen. Schrepfers Parteikollege Daniel Vetterli (Rheinklingen) findet
deutliche Worte: «Wir fordern die Regierung auf, klar Stellung zu beziehen.»
Viele Kantonsräte sprechen sich für einzelne Noten aus. «Sie entsprechen der
zunehmenden Spezialisierung in unserer Welt», sagt etwa Karin Bétrisey.
Handreichung zur Interpretation gefordert
Lehrmeister
und weiterführende Schulen kritisieren zudem die Aussagekraft der
Schulzeugnisse. «Das Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten sagt mir oft mehr als
die Noten», sagt Viktor Gschwend (FDP, Neukirch). Marianne Sax (SP, Frauenfeld)
ruft sogar oft die Lehrperson an, weil sie dem Zeugnis nicht entnehmen kann,
was sie wissen will. Neben Einzelnoten und einheitlichen Formularen fordert sie
deshalb auch eine Handreichung zur Interpretation der Beurteilungen – auch für
Ausbildner.
Reto
Ammann (GLP, Kreuzlingen) bringt eine neue Idee ein: «Warum stärken wir nicht
die subjektive Beurteilung der Lehrer?» Sie könnten einschätzen, ob ein
Jugendlicher zum Beispiel Erfindergeist oder Ausdauer zeigt, und einschätzen,
ob eine Person für eine Bäckerlehre taugt.
Ein
dritter Kritikpunkt ist die Vergabe des Auftrags für ein Software-Programm zur
Zeugniserfassung. «Jetzt hätte die Möglichkeit bestanden, ein ideales Tool zu
finden», sagt Andreas Wirth (SVP, Frauenfeld). Alternativen zu Lehrer-Office,
dem heutigen Tool, seien vorhanden. Wirth ist der Meinung, dass die freihändige
Vergabe des Auftrags die Finanzkompetenz der Regierung überschritten hat.
Ob dem so
ist, kann Regierungsrätin Knill nicht sagen. Die Frage werde an die
Geschäftsprüfungskommission weitergegeben. Das Volksschulamt habe aber vier
Alternativen zu Lehrer-Office geprüft, vielleicht gebe es eine Wahlfreiheit.
Die anderen Kritikpunkte werden in die Erarbeitung der definitiven
Beurteilungsgrundlage einfliessen. Es sei ein Vorteil für den Thurgau, dass
jetzt genau geprüft werden könne, welche Ansprüche bestehen. Knill bestätigt:
«Ja, wir brauchen ein einheitliches, aussagekräftiges und gut lesbares
Zeugnis.»
Kommentar
Die Kritik ist angekommen
Dass
Ausbildner bei Lehrern nachfragen müssen, was ein Schulabgänger kann, darf
nicht sein. Es bedeutet nicht nur Mehraufwand, sondern macht Schulnoten
fragwürdig. Auch dass einzelne Branchen Testverfahren für künftige Lehrlinge
entwickeln, ist ein schlechtes Zeichen für die Aussagekraft von Zeugnissen.
Der mit
Kompetenzen arbeitende neue Lehrplan müsste es möglich machen, die Schüler
differenzierter zu beurteilen. Denn Fachnoten erfassen die Persönlichkeit nicht
und überlassen vieles der Interpretation. Werden dem Zeugnis Kompetenzprofile
beigelegt und diese sinnvoll umgesetzt, könnten Lehrer ihre Schüler
individueller beurteilen. Vielleicht liesse sich sogar die Idee von Kantonsrat
Reto Ammann umsetzen, die Eignung der Jugendlichen für konkrete Berufe
einzuschätzen.
Es ist
offensichtlich, dass der Kanton die kritisierten Punkte verbessern will. Schon
vor einem Jahr sagte der Chef des Volksschulamts gegenüber dieser Zeitung, dass
die Interpellation eine Chance sei, um eine politisch tragfähige Lösung zu
finden.
Larissa
Flammer
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