21. Januar 2019

St. Galler IT-Bildungsoffensive


Die Zukunft der St. Galler Volksschulen begann vor rund zwei Jahren an einem höchst ungewöhnlichen Ort. Frühmorgens, in einem Intercity zwischen St. Gallen und Bern. Ralph Kugler sollte einen standardisierten Fragebogen zu den Möglichkeiten der Digitalisierung für die Schule ausfüllen. Der Co-Leiter des Instituts ICT und Medien der Pädagogischen Hochschule St. Gallen fand die Aufgabe interessant.
Sie digitalisieren das Klassenzimmer, Basler Zeitung, 21.1. von Christoph Lenz


Kugler, IT-begeistert, seit er in den 80er-Jahren auf einem Atari ST Musik produzierte, nutzte den Teamausflug nach Bern zum Brainstorming. Die Ideen sprudelten: Warum soll der Kanton St. Gallen nicht selbst kostenlose und im Netz frei zugängliche Lehrmittel entwickeln? Wie wäre es, wenn einzelne Schulen im Kanton zu Pilotschulen der Digitalisierung würden, in denen neue Unterrichtsformen frühzeitig getestet werden? Und wie müsste man die rund 6000 Lehrer im Kanton St. Gallen weiterbilden, damit sie wirklich bereit sind für die digitale Transformation?

Heute stehen mehrere dieser Ideen kurz davor, Realität zu werden. Sie sind Teil der St. Galler IT-Bildungsoffensive. Es ist das wohl ambitionierteste Digitalisierungsprogramm auf Kantonsebene: 75 Millionen Franken will St. Gallen in den kommenden acht Jahren investieren, um seine Bildungslandschaft – von der Primarschule über die Berufsbildung bis zur Universität – flottzumachen für die Zukunft. St. Gallen, heisst es in offiziellen Unterlagen der Regierung, soll «zu einem führenden Standort bei der digitalen Transformation von Geschäftsmodellen und Unterrichtskonzepten» werden. Ein kleines Silicon Valley am Bodensee.

Interessanterweise haben die hochtrabenden Pläne in der Ostschweiz keine Abwehrreflexe ausgelöst. Eher Euphorie. Der St. Galler Kantonsrat bewilligte die 75-Millionen-Sonderinvestition im letzten September mit 110 zu 0 Stimmen. Weil es um so viel Geld geht, muss am 10. Februar auch das Volk seinen Segen geben. Von Opposition aber bisher: keine Spur. Weder bei der Wirtschaft, noch bei den Lehrern, noch bei den Eltern.

Inzwischen ist man auch in der Restschweiz auf den Pioniergeist in St. Gallen aufmerksam geworden. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation interessiert sich für die neuartige, digitale Berufsbildungsplattform, die der Kanton St. Gallen im Rahmen der IT-Offensive schaffen wird.

Auch in der Zürcher Economiesuisse-Zentrale gerät man ins Schwärmen. Er begrüsse die St. Galler IT-Offensive sehr, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom des Wirtschaftsdachverbandes. «Das ist eine tolle Geschichte. Niemand in der Schweiz hat das bisher so konsequent durchgedacht.» Vorbildlich sei insbesondere die angestrebte enge Vernetzung zwischen Bildung und Wirtschaft, so Minsch. «Das hilft, dass man die PS dieses Programms wirklich auf den Boden bringt.»

Durchdachte Argumente
Der Vater der IT-Bildungsoffensive schiebt an einem Morgen Mitte Januar einen schweren Rollkoffer durchs Schneegestöber am Berner Bahnhof. Stefan Kölliker, St. Galler Bildungsdirektor, befindet sich auf dem Weg an eine Konferenz in Interlaken, lässt aber gern einen Zug ausfallen, um sein Prestigeprojekt zu erklären.

Kölliker ist derzeit ohnehin ständig auf Achse: Mit einer Werbetour quer durch seinen Kanton will er die Bürger persönlich vom 75-Millionen-Franken-Sonderkredit überzeugen. Entsprechend routiniert bewegt sich Kölliker durchs Gespräch. Jedes Argument sitzt: Die enorme Herausforderung der digitalen Transformation. Der massive Fachkräftemangel in der regionalen Industrie. Die verhältnismässig tiefen Löhne in der Ostschweiz. Die schwache Steuerkraft seines Kantons. Alle diese Herausforderungen, glaubt Kölliker, können mit der IT-Bildungsoffensive mittelfristig bewältigt werden. Köllikers Gleichung: Mehr Fachkräfte, mehr Ansiedlungen, höhere Löhne, höhere Steuereinnahmen.

Dennoch hat er Respekt vor der Volksabstimmung vom 10. Februar. «Was wir wollen, ist sehr umfangreich und sehr komplex», sagt Kölliker. «Es gibt keinen Kanton, der etwas auch nur ansatzweise Vergleichbares macht. Weder in der Grösse noch in der Breite. Das braucht Überzeugungsarbeit.»

Dass es ausgerechnet ein SVP-Regierungsrat ist, der das ambitionierteste (und teuerste) Digitalisierungsprojekt der Schweizer Kantone vertritt, ist überraschend. Viele von Köllikers Parteikollegen vertrauen bei der Standortpolitik eher auf Sparprogramme und tiefe Steuern. Kölliker kennt diese Logik. Der Kanton St. Gallen hat in den letzten Jahren ebenfalls mehrere Sparpakete geschnürt, auch die Bildung war jeweils betroffen. Eine Fortsetzung der Austerität wäre aber das falsche Rezept, glaubt er. «Wir haben gespart. Jetzt befinden wir uns in einer Gegenbewegung. Wir investieren in ein Set von gezielten Bildungsmassnahmen, weil wir wissen, dass das mehr bringt als blosse Steuersenkungen.»

Weiterbildung für Lehrer
Aber sind wirtschaftspolitische und fiskalische Argumente überhaupt sinnvoll, wenn Bildungsreformen entworfen werden? Wo bleiben da die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen? Kölliker glaubt nicht, dass ein Zielkonflikt zwischen den Wünschen der Wirtschaft und den Pflichten der Volksschule existiert. Ziel sei es, die Kinder und Jugendlichen bestmöglich auf die Digitalisierung vorzubereiten.

Wie dies gelingen soll, zeigt ein vertiefter Blick in die Finanzpläne der IT-Offensive. Die IT-Millionen werden demnach nicht zum Kauf der neusten Tablets und bahnbrechendsten Lernsoftwares verwendet. Rund 50 der 75 Millionen Franken fliessen gemäss dem Willen der Politik in die Weiterbildung der Lehrpersonen und in die Ausbildung der Fachkräfte. «Lange, wahrscheinlich zu lange, dachte man bei der Digitalisierung der Schule primär an Computerarbeitsplätze, an Internetanschlüsse und an den Kauf von Tablets», sagt Ralph Kugler von der Pädagogischen Hochschule dazu. Jetzt mache der Kanton St. Gallen den nächsten Schritt. «Nun liegt der Fokus auf der Schulorganisation, auf den Lehrern und auf dem Unterricht selbst.»

Blick in die Zukunft
Wie also werden die St. Galler Schüler in zehn Jahren unterrichtet werden? Ohne Klassenstruktur? Jeder für sich? Permanent am Bildschirm? Ein grundlegendes Verständnis der Informatik, beispielsweise der Funktionsweise eines Algorithmus, sei sicher unerlässlich, sagt Kugler. Darüber hinaus will er sich nicht festlegen. Vielleicht finde man in einer der St. Galler Pilotschulen ja heraus, dass Tablets und Computer bisher falsch und zu wenig lernwirksam verwendet worden seien. Vielleicht würden neue Wege des Lernens entwickelt.
Der Mensch bleibe analog, so Kugler. «Es scheint mir daher nicht ausgeschlossen zu sein, dass die Schule gerade durch die neuen technischen Möglichkeiten wieder mehr Zeit für die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer erhält. Wenn das der richtige Weg ist, warum nicht?»

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