Die Zukunft der St. Galler Volksschulen begann
vor rund zwei Jahren an einem höchst ungewöhnlichen Ort. Frühmorgens, in einem
Intercity zwischen St. Gallen und Bern. Ralph Kugler sollte einen
standardisierten Fragebogen zu den Möglichkeiten der Digitalisierung für die
Schule ausfüllen. Der Co-Leiter des Instituts ICT und Medien der Pädagogischen
Hochschule St. Gallen fand die Aufgabe interessant.
Sie digitalisieren das Klassenzimmer, Basler Zeitung, 21.1. von Christoph Lenz
Kugler,
IT-begeistert, seit er in den 80er-Jahren auf einem Atari ST Musik produzierte,
nutzte den Teamausflug nach Bern zum Brainstorming. Die Ideen sprudelten: Warum
soll der Kanton St. Gallen nicht selbst kostenlose und im Netz frei zugängliche
Lehrmittel entwickeln? Wie wäre es, wenn einzelne Schulen im Kanton zu
Pilotschulen der Digitalisierung würden, in denen neue Unterrichtsformen
frühzeitig getestet werden? Und wie müsste man die rund 6000 Lehrer im Kanton
St. Gallen weiterbilden, damit sie wirklich bereit sind für die digitale
Transformation?
Heute
stehen mehrere dieser Ideen kurz davor, Realität zu werden. Sie sind Teil der
St. Galler IT-Bildungsoffensive. Es ist das wohl ambitionierteste
Digitalisierungsprogramm auf Kantonsebene: 75 Millionen Franken will St. Gallen
in den kommenden acht Jahren investieren, um seine Bildungslandschaft – von der
Primarschule über die Berufsbildung bis zur Universität – flottzumachen für die
Zukunft. St. Gallen, heisst es in offiziellen Unterlagen der Regierung, soll
«zu einem führenden Standort bei der digitalen Transformation von
Geschäftsmodellen und Unterrichtskonzepten» werden. Ein kleines Silicon Valley
am Bodensee.
Interessanterweise
haben die hochtrabenden Pläne in der Ostschweiz keine Abwehrreflexe ausgelöst.
Eher Euphorie. Der St. Galler Kantonsrat bewilligte die
75-Millionen-Sonderinvestition im letzten September mit 110 zu 0 Stimmen. Weil
es um so viel Geld geht, muss am 10. Februar auch das Volk seinen Segen geben.
Von Opposition aber bisher: keine Spur. Weder bei der Wirtschaft, noch bei den
Lehrern, noch bei den Eltern.
Inzwischen
ist man auch in der Restschweiz auf den Pioniergeist in St. Gallen aufmerksam
geworden. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation
interessiert sich für die neuartige, digitale Berufsbildungsplattform, die der
Kanton St. Gallen im Rahmen der IT-Offensive schaffen wird.
Auch
in der Zürcher Economiesuisse-Zentrale gerät man ins Schwärmen. Er begrüsse die
St. Galler IT-Offensive sehr, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom des
Wirtschaftsdachverbandes. «Das ist eine tolle Geschichte. Niemand in der
Schweiz hat das bisher so konsequent durchgedacht.» Vorbildlich sei
insbesondere die angestrebte enge Vernetzung zwischen Bildung und Wirtschaft,
so Minsch. «Das hilft, dass man die PS dieses Programms wirklich auf den Boden
bringt.»
Durchdachte
Argumente
Der
Vater der IT-Bildungsoffensive schiebt an einem Morgen Mitte Januar einen
schweren Rollkoffer durchs Schneegestöber am Berner Bahnhof. Stefan Kölliker,
St. Galler Bildungsdirektor, befindet sich auf dem Weg an eine Konferenz in
Interlaken, lässt aber gern einen Zug ausfallen, um sein Prestigeprojekt zu erklären.
Kölliker
ist derzeit ohnehin ständig auf Achse: Mit einer Werbetour quer durch seinen
Kanton will er die Bürger persönlich vom 75-Millionen-Franken-Sonderkredit
überzeugen. Entsprechend routiniert bewegt sich Kölliker durchs Gespräch. Jedes
Argument sitzt: Die enorme Herausforderung der digitalen Transformation. Der
massive Fachkräftemangel in der regionalen Industrie. Die verhältnismässig
tiefen Löhne in der Ostschweiz. Die schwache Steuerkraft seines Kantons. Alle
diese Herausforderungen, glaubt Kölliker, können mit der IT-Bildungsoffensive
mittelfristig bewältigt werden. Köllikers Gleichung: Mehr Fachkräfte, mehr
Ansiedlungen, höhere Löhne, höhere Steuereinnahmen.
Dennoch
hat er Respekt vor der Volksabstimmung vom 10. Februar. «Was wir wollen, ist sehr
umfangreich und sehr komplex», sagt Kölliker. «Es gibt keinen Kanton, der etwas
auch nur ansatzweise Vergleichbares macht. Weder in der Grösse noch in der
Breite. Das braucht Überzeugungsarbeit.»
Dass
es ausgerechnet ein SVP-Regierungsrat ist, der das ambitionierteste (und
teuerste) Digitalisierungsprojekt der Schweizer Kantone vertritt, ist
überraschend. Viele von Köllikers Parteikollegen vertrauen bei der
Standortpolitik eher auf Sparprogramme und tiefe Steuern. Kölliker kennt diese
Logik. Der Kanton St. Gallen hat in den letzten Jahren ebenfalls mehrere
Sparpakete geschnürt, auch die Bildung war jeweils betroffen. Eine Fortsetzung
der Austerität wäre aber das falsche Rezept, glaubt er. «Wir haben gespart.
Jetzt befinden wir uns in einer Gegenbewegung. Wir investieren in ein Set von
gezielten Bildungsmassnahmen, weil wir wissen, dass das mehr bringt als blosse
Steuersenkungen.»
Weiterbildung
für Lehrer
Aber
sind wirtschaftspolitische und fiskalische Argumente überhaupt sinnvoll, wenn
Bildungsreformen entworfen werden? Wo bleiben da die Bedürfnisse der Kinder und
Jugendlichen? Kölliker glaubt nicht, dass ein Zielkonflikt zwischen den
Wünschen der Wirtschaft und den Pflichten der Volksschule existiert. Ziel sei
es, die Kinder und Jugendlichen bestmöglich auf die Digitalisierung
vorzubereiten.
Wie
dies gelingen soll, zeigt ein vertiefter Blick in die Finanzpläne der
IT-Offensive. Die IT-Millionen werden demnach nicht zum Kauf der neusten
Tablets und bahnbrechendsten Lernsoftwares verwendet. Rund 50 der 75 Millionen
Franken fliessen gemäss dem Willen der Politik in die Weiterbildung der
Lehrpersonen und in die Ausbildung der Fachkräfte. «Lange, wahrscheinlich zu
lange, dachte man bei der Digitalisierung der Schule primär an
Computerarbeitsplätze, an Internetanschlüsse und an den Kauf von Tablets», sagt
Ralph Kugler von der Pädagogischen Hochschule dazu. Jetzt mache der Kanton St.
Gallen den nächsten Schritt. «Nun liegt der Fokus auf der Schulorganisation,
auf den Lehrern und auf dem Unterricht selbst.»
Blick
in die Zukunft
Wie
also werden die St. Galler Schüler in zehn Jahren unterrichtet werden? Ohne
Klassenstruktur? Jeder für sich? Permanent am Bildschirm? Ein grundlegendes
Verständnis der Informatik, beispielsweise der Funktionsweise eines
Algorithmus, sei sicher unerlässlich, sagt Kugler. Darüber hinaus will er sich
nicht festlegen. Vielleicht finde man in einer der St. Galler Pilotschulen ja
heraus, dass Tablets und Computer bisher falsch und zu wenig lernwirksam
verwendet worden seien. Vielleicht würden neue Wege des Lernens entwickelt.
Der
Mensch bleibe analog, so Kugler. «Es scheint mir daher nicht ausgeschlossen zu
sein, dass die Schule gerade durch die neuen technischen Möglichkeiten wieder
mehr Zeit für die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer erhält. Wenn das der
richtige Weg ist, warum nicht?»
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