Tanja
Keller (Name geändert) aus Zürich hatte kein gutes Gefühl dabei, ihre Tochter
in den Kindergarten zu schicken: Alina feierte nur wenige Tage vor dem Stichtag
für die Einschulung ihren vierten Geburtstag. Sie war anhänglich, verspielt und
schüchtern und wollte noch immer bei den Eltern im Bett schlafen. Alina besuchte
zwar bereits zwei Tage pro Woche die Kita, ass dort aber mit ihren Gspänli
zusammen Zmittag. Die Aussicht, den Mittag mit fremden Kindern im Hort zu
verbringen zu müssen, versetzte sie in Schrecken. Doch die Krippen-Leiterin
redete die Bedenken der Eltern weg und weitere Abklärungen mochten diese nicht
machen. Alina wurde eingeschult.
Reif für den Chindsgi? Basellandschaftliche Zeitung, 22.1. von Manuela von Ah
Die ersten Monate im Kindergarten weinte Alina
fast jeden Morgen, klammerte sich an die Hand der Mutter und klagte über
Bauchschmerzen. Obwohl die Überforderung anhielt, empfahl die Kindergärtnerin,
Alina nach zwei Jahren regulär in die Schule zu schicken. Die Eltern hätten
sich ein drittes Kindergartenjahr gewünscht. In der Stadt Zürich wäre dafür
eine Abklärung nötig gewesen. «Irgendwie hatten wir das Gefühl, es würden uns
Hürden in den Weg gestellt», sagt Tanja Keller.
Unterstützung durch Erzieherin
Brendon (6 Jahre) aus Küssnacht SZ wäre ebenfalls bereits mit knapp vier Jahren
in den Kindergarten gekommen. Seine Mutter Adelina Tunaj empfand das als zu
früh: «Brendon begann erst spät zu sprechen und körperlich war er noch so
klein.» Deshalb entschieden die Eltern, ihr Kind ein Jahr später in den
Chindsgi zu schicken. Im Kanton Schwyz ist das erste Kindergartenjahr
freiwillig, eine Abmeldung genügte. Weil Brendon auch im Jahr darauf noch sehr
kindlich war, unterstützte und stärkte ihn eine Früherzieherin, eine Logopädin
feilte mit ihm an der Sprache. Auf Wunsch der Eltern und in Absprache mit der
Kindergärtnerin besucht Brendon nun ein zweites Jahr den Kindergarten. Auf den
Schulbeginn im Sommer freut sich der Junge nun riesig.
Im Unterschied zum
Kanton Schwyz entscheiden in Zürich die Behörden, ob ein Kind ein Jahr später
in den Kindergarten eintreten darf. Eltern können bei der Schulverwaltung ein
Rückstellungsgesuch einreichen. Grundlage für den Entscheid ist der
Entwicklungsstand des Kindes, der von einem Kinderarzt oder Schulpsychologen,
einer Logopädin oder der Krippenleitung abgeklärt wird. Attestieren ihm diese
einen Entwicklungsrückstand, dem bei einer regulären Einschulung nicht mit
sonderpädagogischen Massnahmen begegnet werden kann, darf es ein Jahr später
mit dem Kindergarten beginnen.
Mit der interkantonalen Harmonisierung des
Schulsystems haben die meisten Kantone den Stichtag für die Einschulung auf den
31. Juli vorverschoben: Wer an diesem Datum vier Jahre alt ist, kommt im August
in den Kindergarten. Das ist wohl einer der Gründe, weshalb die Rückstellungen
zugenommen haben. Laut der Schweizerischen Koordinationsstelle für
Bildungsfragen beträgt der Anteil der verzögerten
Einschulung im Kanton Solothurn mittlerweile 10 Prozent, im Kanton Thurgau 20
Prozent und in Luzern sogar 40 Prozent.
Eine Zunahme beobachtet auch Matthias
Obrist, Leiter des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich. Er setzt ein
Fragezeichen hinter diesen Trend: «Wenn Eltern ihr Kind einfach länger bei sich
zu Hause behalten möchten und Mühe mit der Ablösung haben, ist das ein
schlechter Grund für ein Rückstellungsgesuch.»
Bis vor wenigen Jahren waren
Rückstellungswünsche kaum ein Thema. Im Gegenteil: Viele Eltern stellten
Gesuche für eine vorzeitige Einschulung – aus Angst, der Bildungszug würde
sonst ohne ihr Kind abfahren, oder mangels anderer Betreuungsmöglichkeiten.
Dank neuer Kitas fällt Letzteres als Grund für eine vorgezogene Einschulung
weg.
Ältere Kinder im Vorteil
Nun schlägt das Pendel auf die andere Seite aus.
«Viele Eltern sind der Ansicht, dass ihr Kind beim Kindergarteneintritt schon
gewisse Kompetenzen mitbringen sollte, und möchten, dass das Kind sprachlich,
motorisch und punkto Selbstsicherheit noch etwas nachreift», sagt Matthias
Obrist. Tatsächlich ist es wissenschaftlich untermauert, dass die ältesten
Kinder in einer Klasse über die ganze Schullaufbahn hinweg erfolgreicher sind
als ihre jüngsten Klassenkameraden. Gerade im Vorschulalter können wenige Mo
nate
einen grossen Unterschied punkto Entwicklungsstand ausmachen. Ist ein Kind am
31. Juli 2015 geboren, kommt es Mitte August 2019 – knapp nach seinem vierten
Geburtstag – in den Kindergarten. Das am 1. August 2014 geborene Kind ist bei
der Einschulung dagegen bereits fünf Jahre alt – also um einen Viertel
lebenserfahrener. Dieser Vorsprung scheint sich in den folgenden Jahren zu
verfestigen.
Die Krux: Egal, wann der Stichtag festgelegt wird – in einem
Klassenzug gibt es immer ein jüngstes und ein ältestes Kind. Die Schulbehörden
versuchen, das latente Ungleichgewicht mit Unterstützung und Förderung der
betroffenen Mädchen und Jungen bereits im Kindergarten auszugleichen. Um
gefördert zu werden, müssen die Kinder aber tatsächlich in den Kindergarten
eintreten.
Allerdings gibt es beim Eintritt in den Kindergarten grosse
kantonale Unterschiede: In 17 Kantonen besuchen alle Kinder den Kindergarten
zwei Jahre lang, so in den Kantonen Zürich, Bern, Basel, St. Gallen, Aargau und
Solothurn. In acht Kantonen dauert der Kindergarten mindestens ein Jahr,
beispielsweise in Luzern, Obwalden, Schwyz und Zug. Die meisten Kantone mit
einjährigem Obligatorium bieten ein zweites, freiwilliges Kindergartenjahr an.
In einigen Kantonen dürfen die Eltern nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie
ihr Kind um ein Jahr zurückstellen wollen, so in Bern und im Aargau. Die
Arbeitsgruppe Bildung der CVP Schweiz
fordert sogar, dass diese Freiheit allen Eltern in der Schweiz zugestanden
wird. Matthias Obrist ist skeptisch: «Wenn es nicht wirklich besondere Gründe
für eine Rückstellung gibt, sollte man das Kind regulär in den Kindergarten
schicken.» Es sei besser, die Kinder bei einem allfälligen
Entwicklungsrückstand zu fördern, sagt er. Haben die Eltern das Gefühl, ihr
Kind sei noch nicht so weit, sollten sie die Schulpflege kontaktieren.
Für
Alina ist die Suche nach dem richtigen Platz im Schulbetrieb noch nicht zu
Ende. Die heutige Drittklässlerin ist die Jüngste in der Klasse, einen Kopf
kleiner als manches Gspänli und sie gehört schulisch zu den Schlusslichtern.
Während ihre Mitschüler über Games diskutieren, versteht Alina nicht, weshalb
die anderen Kinder über sie lachen, wenn sie vom Christkind erzählt.
Mittlerweile haben sich die Eltern durchgerungen, Alina schulpsychologisch
abklären zu lassen. Tanja Keller möchte nicht länger zuschauen, wie ihr Kind
«schulisch unter die Räder kommt». Die Ergebnisse sind noch nicht eingetroffen.
Voraussichtlich aber wird Alina eine Klasse wiederholen oder in die
Steinerschule wechseln.
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