Die IT-Bildungsoffensive
soll den Kanton St.Gallen in die digitale Zukunft katapultieren. Mit einem
Sonderkredit von 75 Millionen Franken will die Regierung sicherstellen, dass
die jungen St.Gallerinnen und St.Galler zu den «Gewinnern der Digitalisierung»
gehören werden. Inzwischen ist sogar Bundesbern auf das Projekt aufmerksam
geworden, der Wirtschaftsverband Economiesuisse ist begeistert und der
«Tages-Anzeiger» orakelte diese Woche sogar von einem künftigen «Silicon Valley
am Bodensee».
Die Debatte über das digitale Klassenzimmer steht am Anfang, Ostschweiz, 27.1. von Michael Genova
Im Kanton ist die Bildungsreform kurz vor der Abstimmung am 10.
Februar nahezu unbestritten. Im Kantonsrat gab es keine Gegenstimmen zur
Vorlage, und auch der kantonale Lehrerinnenund Lehrerverband gab die Ja-Parole
aus. Die Basis scheint diese Haltung zu stützen. Marc König, Rektor der
Kantonsschule am Burggraben St.Gallen, spricht von einer «grossen Chance» für
die IT-Entwicklung an den Schulen. Vor allem begrüsst er, dass die Offensive
ihren Schwerpunkt bei der Aus- und Weiterbildung der Lehrer setzt, und nicht
bei der technischen Infrastruktur.
Mit dem Tablet in der Hand zum Feldversuch
Seit zwei Jahren sind an der Kantonsschule am Burgraben Tablets obligatorisch.
Die Schülerinnen und Schüler bringen ihr eigenes Gerät mit, zusätzlich dazu
stehen ein Informatikzimmer und ein Informatiklabor zur Verfügung. König schätzt, dass
mittlerweile in rund 80 Prozent der Lektionen Tablets zum Einsatz kommen.
Allerdings nicht ausschliesslich. «Die Kombination von traditionellen und
digitalen Lernformen ist die Zukunft», sagt er. Zum Beispiel im
Biologieunterricht, wo Schulklassen zur Feldarbeit nach wie vor in die freie
Natur gehen. Die Messdaten hingegen werden gleich mit dem Computer erfasst.
Auch CVP-Kantonsrat Sandro Hess sieht in der Digitalisierung die Chance, den
Unterricht noch abwechslungsreicher zu gestalten. «Die Schwierigkeit besteht
darin, den richtigen Mix zu finden», sagt er. Hess ist Schulleiter der
Oberstufe Altstätten und bezeichnet die IT-Bildungsoffensive als eine
«notwendige Massnahme». So würden viele Schülerinnen und Schüler nach ihrem
Abschluss eine Lehre in einem digitalisierten Unternehmen antreten. «Die
Berufswelt ist noch weit mehr im Wandel, als den meisten von uns bewusst ist»,
sagt Bildungspolitiker Hess.
Qualitätskontrolle für Lernapps
Bislang ging es in
den Diskussionen zur IT-Bildungsoffensive vor allem um die Bedürfnisse der
Wirtschaft, die Konkurrenzfähigkeit des Standorts St.Gallen oder um die
Verteilung der Fördergelder. Eine öffentliche Grundsatzdebatte über Nutzen und
Nachteile digitaler Lernmethoden kam bislang nicht in Gange. So plädiert zum
Beispiel der deutsche Pädagoge Wolfgang Schimpf in einem Gastbeitrag in der
«Süddeutschen Zeitung» für eine «digitalkritische Pädagogik». Schimpf fordert
unter anderem, dass Bildungsbehörden neuartige Lernapps zuerst auf ihren
didaktischen Mehrwert untersuchen und anschliessend mit einem Qualitätssiegel
kennzeichnen.
Widerstand leisten im Kanton St.Gallen lediglich die Kleinpartei
EDU und der Verein Starke Volksschule, der einen Austritt des Kantons aus dem
Harmos-Konkordat gefordert hatte. Am Freitag hielt der St.Galler Pädagoge Mario
Andreotti in Wil auf Einladung des Vereins einen Vortrag zur aktuellen
Bildungspolitik. Der Buchautor war früher Lehrer an der Kantonsschule am
Burggraben und Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der
Universität St.Gallen. Andreotti kritisiert vor allem, dass die
IT-Bildungsoffensive flächendeckend eingeführt werden soll, also auch
Kindergärtner und Primarschüler Zugang zum Computer haben sollen. «Doch eine
allzu frühe Digitalisierung schadet der kindlichen Entwicklung nachweisbar»,
sagt er.
Kinder müssten laut Andreotti zuerst eine gewisse intellektuelle
Entwicklung durchlaufen, bevor sie sinnvoll an Computer arbeiten und mit
Tablets umgehen können. «Das dürfte realistischerweise nicht vor dem zwölften
Lebensjahr, in dem auch das abstrakte Denken einsetzt, der Fall sein», sagt er.
In der Oberstufe der Volksschule und in Mittel- und Hochschulen hingegen kann
sich Andreotti den Einsatz digitaler Lernmedien grundsätzlich in allen Fächern
vorstellen. «Entscheidend ist dabei, dass sie nicht zum Selbstzweck, sondern
als Hilfsmittel dienen.»
Ähnlich argumentiert Oswald Hasselmann, leitender Arzt
für Neuropädiatrie am Kinderspital St.Gallen. Denkbar sei der Gebrauch
digitaler Lernmedien in höheren Klassen in allen gesellschaftlich orientierten
Fächern. In naturwissenschaftlichen und technisch-orientierten Fächern könne
der Zugang zu aktualisiertem Wissen den Schülern helfen, sich auf den
Arbeitsmarkt vorzubereiten, sagt Hasselmann. Im Kleinkindalter sollten primär
die unmittelbaren Sinneserfahrungen angesprochen werden, wie das Erleben von
unterschiedlichen Oberflächen, Eigengewicht oder Geruch. Dadurch könnten die
heranwachsenden Kinder zu einem späteren Zeitpunkt die virtuellen Informationen
besser einordnen. «Aus medizinischer Sicht erlebe ich zunehmend eine Sogwirkung
durch elektronische Medien», sagt Hasselmann. In Abhängigkeitssituationen habe
sich das Lesen von Büchern und Schreiben auf Papier bei gleichzeitiger
Medienpause als wirksam erwiesen.
Schüler sind gestresst durch ständige
Erreichbarkeit
Für Rektor Marc König ist klar, dass es nun mediendidaktische
Konzepte für den Einsatz digitaler Lernmedien in der Schule brauche. Allerdings
glaubt er nicht, dass diese Frage im Zentrum des politischen Prozesses stehen könne. Er sei überzeugt,
dass die Schule auf diese Herausforderungen sinnvolle Antworten finden werde.
Sorgen bereite ihm hingegen eine andere Entwicklung. «Die jungen Menschen sind
durch ihren privaten Mediengebrauch zunehmend gestresst», sagt er. Wer zu einer
Gruppe dazugehören wolle, müsse über sein Smartphone permanent erreichbar sein.
Dazu komme der Druck, sich in sozialen Medien positiv präsentieren zu müssen.
König sieht es deshalb auch als Aufgabe der Volksschule, im Unterricht kritisch
über die Grenzen und Gefahren neuer Medien nachzudenken.
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