27. Januar 2019

IT-Initiative will St. Galler Schüler zu Gewinnern machen


Die IT-Bildungsoffensive soll den Kanton St.Gallen in die digitale Zukunft katapultieren. Mit einem Sonderkredit von 75 Millionen Franken will die Regierung sicherstellen, dass die jungen St.Gallerinnen und St.Galler zu den «Gewinnern der Digitalisierung» gehören werden. Inzwischen ist sogar Bundesbern auf das Projekt aufmerksam geworden, der Wirtschaftsverband Economiesuisse ist begeistert und der «Tages-Anzeiger» orakelte diese Woche sogar von einem künftigen «Silicon Valley am Bodensee». 
Die Debatte über das digitale Klassenzimmer steht am Anfang, Ostschweiz, 27.1. von Michael Genova


Im Kanton ist die Bildungsreform kurz vor der Abstimmung am 10. Februar nahezu unbestritten. Im Kantonsrat gab es keine Gegenstimmen zur Vorlage, und auch der kantonale Lehrerinnenund Lehrerverband gab die Ja-Parole aus. Die Basis scheint diese Haltung zu stützen. Marc König, Rektor der Kantonsschule am Burggraben St.Gallen, spricht von einer «grossen Chance» für die IT-Entwicklung an den Schulen. Vor allem begrüsst er, dass die Offensive ihren Schwerpunkt bei der Aus- und Weiterbildung der Lehrer setzt, und nicht bei der technischen Infrastruktur. 

Mit dem Tablet in der Hand zum Feldversuch 
Seit zwei Jahren sind an der Kantonsschule am Burgraben Tablets obligatorisch. Die Schülerinnen und Schüler bringen ihr eigenes Gerät mit, zusätzlich dazu stehen ein Informatikzimmer und ein Informatiklabor zur Verfügung. König schätzt, dass mittlerweile in rund 80 Prozent der Lektionen Tablets zum Einsatz kommen. Allerdings nicht ausschliesslich. «Die Kombination von traditionellen und digitalen Lernformen ist die Zukunft», sagt er. Zum Beispiel im Biologieunterricht, wo Schulklassen zur Feldarbeit nach wie vor in die freie Natur gehen. Die Messdaten hingegen werden gleich mit dem Computer erfasst. 

Auch CVP-Kantonsrat Sandro Hess sieht in der Digitalisierung die Chance, den Unterricht noch abwechslungsreicher zu gestalten. «Die Schwierigkeit besteht darin, den richtigen Mix zu finden», sagt er. Hess ist Schulleiter der Oberstufe Altstätten und bezeichnet die IT-Bildungsoffensive als eine «notwendige Massnahme». So würden viele Schülerinnen und Schüler nach ihrem Abschluss eine Lehre in einem digitalisierten Unternehmen antreten. «Die Berufswelt ist noch weit mehr im Wandel, als den meisten von uns bewusst ist», sagt Bildungspolitiker Hess. 

Qualitätskontrolle für Lernapps 
Bislang ging es in den Diskussionen zur IT-Bildungsoffensive vor allem um die Bedürfnisse der Wirtschaft, die Konkurrenzfähigkeit des Standorts St.Gallen oder um die Verteilung der Fördergelder. Eine öffentliche Grundsatzdebatte über Nutzen und Nachteile digitaler Lernmethoden kam bislang nicht in Gange. So plädiert zum Beispiel der deutsche Pädagoge Wolfgang Schimpf in einem Gastbeitrag in der «Süddeutschen Zeitung» für eine «digitalkritische Pädagogik». Schimpf fordert unter anderem, dass Bildungsbehörden neuartige Lernapps zuerst auf ihren didaktischen Mehrwert untersuchen und anschliessend mit einem Qualitätssiegel kennzeichnen. 

Widerstand leisten im Kanton St.Gallen lediglich die Kleinpartei EDU und der Verein Starke Volksschule, der einen Austritt des Kantons aus dem Harmos-Konkordat gefordert hatte. Am Freitag hielt der St.Galler Pädagoge Mario Andreotti in Wil auf Einladung des Vereins einen Vortrag zur aktuellen Bildungspolitik. Der Buchautor war früher Lehrer an der Kantonsschule am Burggraben und Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St.Gallen. Andreotti kritisiert vor allem, dass die IT-Bildungsoffensive flächendeckend eingeführt werden soll, also auch Kindergärtner und Primarschüler Zugang zum Computer haben sollen. «Doch eine allzu frühe Digitalisierung schadet der kindlichen Entwicklung nachweisbar», sagt er. 

Kinder müssten laut Andreotti zuerst eine gewisse intellektuelle Entwicklung durchlaufen, bevor sie sinnvoll an Computer arbeiten und mit Tablets umgehen können. «Das dürfte realistischerweise nicht vor dem zwölften Lebensjahr, in dem auch das abstrakte Denken einsetzt, der Fall sein», sagt er. In der Oberstufe der Volksschule und in Mittel- und Hochschulen hingegen kann sich Andreotti den Einsatz digitaler Lernmedien grundsätzlich in allen Fächern vorstellen. «Entscheidend ist dabei, dass sie nicht zum Selbstzweck, sondern als Hilfsmittel dienen.» 

Ähnlich argumentiert Oswald Hasselmann, leitender Arzt für Neuropädiatrie am Kinderspital St.Gallen. Denkbar sei der Gebrauch digitaler Lernmedien in höheren Klassen in allen gesellschaftlich orientierten Fächern. In naturwissenschaftlichen und technisch-orientierten Fächern könne der Zugang zu aktualisiertem Wissen den Schülern helfen, sich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten, sagt Hasselmann. Im Kleinkindalter sollten primär die unmittelbaren Sinneserfahrungen angesprochen werden, wie das Erleben von unterschiedlichen Oberflächen, Eigengewicht oder Geruch. Dadurch könnten die heranwachsenden Kinder zu einem späteren Zeitpunkt die virtuellen Informationen besser einordnen. «Aus medizinischer Sicht erlebe ich zunehmend eine Sogwirkung durch elektronische Medien», sagt Hasselmann. In Abhängigkeitssituationen habe sich das Lesen von Büchern und Schreiben auf Papier bei gleichzeitiger Medienpause als wirksam erwiesen. 

Schüler sind gestresst durch ständige Erreichbarkeit 
Für Rektor Marc König ist klar, dass es nun mediendidaktische Konzepte für den Einsatz digitaler Lernmedien in der Schule brauche. Allerdings glaubt er nicht, dass diese Frage im Zentrum des politischen Prozesses stehen könne. Er sei überzeugt, dass die Schule auf diese Herausforderungen sinnvolle Antworten finden werde. Sorgen bereite ihm hingegen eine andere Entwicklung. «Die jungen Menschen sind durch ihren privaten Mediengebrauch zunehmend gestresst», sagt er. Wer zu einer Gruppe dazugehören wolle, müsse über sein Smartphone permanent erreichbar sein. Dazu komme der Druck, sich in sozialen Medien positiv präsentieren zu müssen. König sieht es deshalb auch als Aufgabe der Volksschule, im Unterricht kritisch über die Grenzen und Gefahren neuer Medien nachzudenken. 

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