Jeden Frühling präsentiert das Volksschulamt des Kantons Zürich die Zahl
der offenen Lehrerstellen, jedes Mal geht sie in die Hunderte. Auch dieses Jahr
wird es nicht anderes sein. Und in vielen anderen Kantonen sieht die Situation ähnlich aus: Vor
allem der Mangel an Heilpädagogen ist eklatant – jenen Fachkräften also, die
sich um verhaltensauffällige, lernschwache, behinderte Kinder oder Hochbegabte
kümmern. Das liegt zum einen daran, dass zu wenig ausgebildet werden, es liegt
aber auch daran, dass die Zahl der integrierten Sonderschüler stetig wächst.
Lehrer sollen zu "Heilpädagogen light" werden, NZZaS, 27.1. von René Donzé
«Es gibt Schulen, in denen die Situation prekär ist, andere haben keine
Probleme», sagt die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner (cvp.), die auch
die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren präsidiert. «Für den Kanton
insgesamt ist der Mangel an Heilpädagogen eine grosse Herausforderung.» Bis im
Sommer werden zwar jeweils alle Stellen besetzt. Doch sind nur gerade 60 Prozent
dieser Heilpädagogen ausgebildet, 20 befinden sich in Ausbildung, 20 sind nicht
qualifiziert.
Weniger Spezialisten nötig
Letztere müssten nach drei Jahren im Dienst die Ausbildung in Angriff
nehmen. Oder aufhören. «Die Folge ist, dass wir eine grosse Fluktuation haben.
Die Teamarbeit leidet, gewisse Abklärungen bleiben einfach liegen», sagte eine
Heilpädagogin kürzlich an einem Podium der interkantonalen Hochschule für
Heilpädagogik in Zürich. Das Problem ist: Die Ausbildungsplätze sind
kontingentiert. Die Kantone finanzieren nur eine beschränkte Anzahl Plätze pro
Jahr.
Um diese Probleme zu lösen, lanciert die Hochschule nun ein neues
Angebot. Intern ist die Rede von einer «Heilpädagogin light»: Lehrer können
sich in Modulen in heilpädagogischen Themen weiterbilden. «Die Idee ist, dass
Lehrerinnen und Lehrer schrittweise ihre Kompetenzen ausbauen», sagt Rektorin
Barbara Fäh. «Unser Ziel ist weniger eine ‹Heilpädagogin light› als vielmehr
eine ‹Lehrperson forte›», sagt Fäh.
Gestartet wird im Herbst 2020. Am Ende kann die Ausbildung zu einem
Master-Abschluss als Heilpädagogin führen. «Das führt zu einer neuen Form der
Laufbahngestaltung für Lehrpersonen», sagt Fäh. Das Angebot entsteht in
Kooperation mit den Pädagogischen Hochschulen der Deutschschweiz. «Wir wollen
unseren Lehrpersonen ermöglichen, sich schrittweise heilpädagogisch
weiterzubilden», sagt Heinz Rhyn, Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Dahinter steht nicht zuletzt die Idee, dass es weniger voll ausgebildete
Heilpädagogen braucht. Das jedenfalls erhofft sich Bildungsdirektorin Silvia
Steiner: «Eine Stärkung der Lehrpersonen hat zum Ziel, einen weiteren Anstieg
des Bedarfs an Heilpädagogen zu vermeiden», sagt sie. Die Rechnung ist einfach:
Wenn Lehrer über sonderpädagogisches Fachwissen verfügen, brauchen sie weniger
externe Hilfe.
Heute ist ob all der Stütz- und Fördermassnahmen in gewissen Klassen ein
Kommen und Gehen von Spezialisten. Wie eine Auswertung dieser Zeitung von 2016
in einem Zürcher Schulhaus zeigte, gab es dort pro Klasse mit 22 Schülern im
Durchschnitt 19 besondere Massnahmen: Integrierte Förderung, Sonderschulung,
Logopädie, Deutsch als Zweitsprache und Begabtenförderung. Einzelne nahmen auch
mehreres in Anspruch. Dies führt zu Unruhe im Klassenzimmer und braucht viele
Absprachen.
Lehrer wehren sich
Die Lehrer sind nicht glücklich ob der Idee der Bildungsdirektion. Sie
befürchten, dass ihre Belastung weiter steigt: «Wir wehren uns vehement
dagegen, dass die Lehrpersonen zusätzlich noch heilpädagogische Verantwortung
übernehmen müssen», sagt Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerverbands.
Als vor zehn Jahren die Integration eingeführt wurde, sei den Lehrern
zusätzliche Unterstützung versprochen worden. Diese könne man jetzt nicht
einfach schleichend wieder abbauen. Auch aus Sicht der Schüler sei das
schlecht. «Die Kinder haben Anrecht auf eine gute und intensive Unterstützung.»
Grundsätzlich seien Weiterbildungen gut, sagt Hugi, doch müssten sich
diese beim Lohn auswirken. «Mit zunehmender Befähigung sollte der Lohn entsprechend
steigen.» Das bleibt Wunschdenken. Eine Abkehr vom heutigen Lohnsystem «ist
zurzeit nicht in Diskussion», sagt Silvia Steiner.
Das Ziel ist klar: Man will die Zahl der Sondermassnahmen begrenzen und
die Kosten im Griff halten. An der Veranstaltung an der Hochschule für
Heilpädagogik warnte Philippe Dietiker vom Zürcher Volksschulamt davor, nach
immer mehr Heilpädagogen zu rufen: «Die Frage ist, wie viele Schüler wollen wir
als Förderfälle bezeichnen und mit speziellen Massnahmen versehen, und wo wollen
wir die Mittel nicht lieber zur Stärkung der Regelklasse einsetzen?»
Denn nicht nur an Heilpädagogen wird es in Zukunft mangeln, sondern auch
an gewöhnlichen Lehrern. Die Zahl der Primarschüler steigt im Kanton Zürich bis
2033 um 18 Prozent. Jene der Sekundarschüler sogar um 27 Prozent.
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