Ein Vorschlag: Reden wir weniger von «Latein», lieber von
«Lateinunterricht». Latein ist eine Sprache wie jede andere, nur ohne «native
speakers», aber mit Abertausenden von modernen und alten Büchern, von Lehrbüchern
bis zu Werken der Weltliteratur, die etwa einen Shakespeare faszinierten und
auch heute ungezählte Menschen anregen.
Warum wir auf den Lateinunterricht nicht verzichten sollten, NZZ, 4.12. von Theo Wirth
Es geht hier aber um das Unterrichten dieser Sprache und der antiken
Kultur an den Zürcher Gymnasien. Wieder wird das Fach infrage gestellt, wegen
der gesunkenen Zahl der Schüler, die nach den ersten beiden Jahren (mit
Lateinobligatorium) ab der dritten Klasse das Fach weiter belegen; deshalb
solle man den Lateinunterricht ganz abschaffen.
Unhaltbare
Argumente
Hauptgrund für den Rückgang ist die Einführung des
Maturitätsanerkennungsreglements (MAR) in der Schweiz ab 1995. Im Kanton Zürich
wurden auf dieser Grundlage fünf Maturitätswege, sogenannte Profile,
geschaffen. Diese unterscheiden sich vor allem durch das «Schwerpunktfach», das
in der Bezeichnung des jeweiligen Profils zum Ausdruck kommt. Die Profile
gelten für die vier Jahre vor der Maturitätsprüfung, in den sechsjährigen
Langgymnasien also ab der dritten Klasse. Würden nun die Zweitklässler schön
gleichmässig wählen, ergäbe dies 20 Prozent pro Profil – mit 14,2 Prozent
(Latein 12,4 plus Griechisch 1,8 Prozent) im Jahr 2018 steht das altsprachliche
Profil gar nicht so schlecht da, auch nicht im Vergleich: 17,2 Prozent im
mathematisch-naturwissenschaftlichen Profil, 16,7 in Wirtschaft und Recht und
10,4 im musischen Profil (neusprachliches Profil 39,3, andere Ausbildungswege
2,2 Prozent). Wenn man also das altsprachliche Profil wegen der «geringen»
Wählerzahl abschaffen wollte, müsste man doch gerade alle vier «kleinen»
Profile abschaffen.
Es wird aber noch mit einem anderen Argument gegen den Lateinunterricht
geschossen: Er bringe keinen Nutzen, man brauche heute vielmehr einen Ausbau
des Informatikunterrichts.
Ein solches Denken beweist mangelnde Sachkenntnis. Erstens bringt der Lateinunterricht
einen sehr grossen Nutzen, zweitens argumentieren kundige Informatiker ganz
anders. So stellte etwa J. Hromkovic, Professor an der ETH für
Informationstechnologie und einer der Promotoren des geplanten Fachs
Informatik, in den «ETH-News» fest: «Wir wissen, dass Latein unsere Fähigkeit
zum exakten Denken, unser Verständnis für Sprache positiv beeinflusst: Der
Lateinunterricht bietet also viele Möglichkeiten, der Informatikunterricht
ebenso!»
Drei Bereiche
Den wahren Nutzen des Lateinunterrichts kann man in drei Bereichen
festmachen: im Denken, im Allgemeinsprachlichen und im Kulturellen. Überall
lebt und wirkt Latein auf intensivste Weise weiter, meistens ohne dass es uns
bewusst ist.
Drei der vier Landessprachen in der Schweiz sind Töchter des Lateins.
Dazu kommen viele Lehnwörter, zum Beispiel «Muur» (von murus),
«Bire» (pirum), auch unsere Sprachstruktur ist also lateinisch
geprägt. Im Schweizerdeutschen gibt es nur noch eine einzige
Vergangenheitsform, den Typ «ich han gmacht» oder «ich bin choo» – solche
Formen, die wir täglich hundertmal verwenden, sind Latinismen. Im Spätlatein
kamen die zusammengesetzten Formen auf (habeo factum statt feci),
die etwa auch im Französischen nach lateinischem Vorbild entstanden sind (j’ai
fait).
Von hier aus kommen wir zum Kern: In der ersten und zweiten
Gymnasiumsklasse führt ein guter, moderner Lateinunterricht die jungen Menschen
auf grundsätzliche Weise in Sprache ein, zum Nutzen aller Fächer, auch der
naturwissenschaftlichen und des Informatikunterrichts.
Wer im Lateinunterricht eine klare Grundstruktur von Sprache erlernt hat
oder die so nützlichen Grundelemente der Zeichen- und Kommunikationstheorie und
deren sprachliche Konsequenzen kennt und als Kompetenzen anwenden kann
(beispielsweise eben die den Sprachen inhärente Metaphorik), hat unglaublich
viel gewonnen.
Theo Wirth war Lehrbeauftragter für die Fachdidaktik der Alten
Sprachen an der Universität Zürich.
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