Machten
sich Eltern früher nicht allzu viele Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, steht
heute Perfektionierung auf dem Programm. Optimierung hat das Schicksal
abgelöst, Mittelmass wird kaum mehr toleriert. Wer einem solchen
Erziehungsideal huldigt, tut seinen Kindern keinen Gefallen.
Das Beste ist nicht immer gut genug - verschonen wir die Kinder vom Optimierungswahn, NZZ, 1.12. von Margrit Stamm
Alle wollen ihn haben: den perfekten Körper. Um diesem Ideal zu
entsprechen, gehen immer mehr Menschen ins Fitnesscenter. Längst sind es nicht
mehr nur Frauen, sondern zunehmend auch Männer, die sich einem solchen
Schönheitsdiktat unterwerfen. Doch dieser vor allem medial aufbereitete Trend
wäre kaum der Rede wert, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass nun auch Kinder
zunehmend Teil dieses Perfektionswahns werden. «Teen Fitness» heisst ein
solches revolutionäres Trainingssystem, das es Eltern erlaubt, nicht nur sich
selbst, sondern auch den Nachwuchs zu optimieren und ihn zum neuen
Investitionsprojekt werden zu lassen. Optimierung hat das Schicksal abgelöst,
das nicht Perfekte wird kaum mehr toleriert.
Solche Mütter und Väter verkörpern die Prototypen des modernen
Individuums und tun deshalb gar nichts Besonderes. Sie folgen den unzähligen
Botschaften, die durch alle gesellschaftlichen Lager hallen und bei weitem
nicht nur die Fitness der Kinder betreffen, sondern genauso ihre
intellektuelle, musische, künstlerische und sportliche Optimierung. Der Tenor
ist immer derselbe: Liebe Eltern, macht das Beste aus euren Kindern. Bleibt am
Ball, sucht stets das Neue und strebt nach Erfolg. Vor allem aber müsst ihr in
eure Kinder investieren und ihr Potenzial entwickeln, damit sie ihre
Möglichkeiten austesten können. Die Kinder sind eure Zukunft!
Eltern-Determinismus
Solche Optimierungsbotschaften kommen gut an, und nicht wenige Eltern
schicken sich unhinterfragt in die ihnen zugedachte Rolle als Maximierer. Das
ist nicht erstaunlich, denn Mütter und Väter werden heute für alles
verantwortlich gemacht. Eltern-Determinismus ist der Begriff dafür, den die
amerikanische Soziologin Sharon Heys vor mehr als zwanzig Jahren geprägt hat.
Dieser Begriff bezeichnet den Glauben daran, dass die Art und Weise, wie Eltern
ihre Kinder grossziehen, eine direkte und determinierende Auswirkung auf das
zukünftige Leben der Kinder hat. Mit anderen Worten: Die Fähigkeiten des Kindes
und die Fähigkeiten seiner Eltern, gute Eltern zu sein, sind unmittelbar kausal
verknüpft.
Zeigen sich Probleme in der kindlichen Entwicklung, so haben die Eltern
nicht genug getan – in erster Linie die berufstätige Mutter. Hingegen gilt ein
frühreifes oder besonders leistungsfähiges Kind als Verdienst der Eltern und
damit als Ausweis ihrer erzieherischen Kompetenz. Daraus folgt, dass Eltern,
die das Risiko verpasster früher Chancen und jenes, dass sich der Schulerfolg
nicht so wie erwartet einstellt, in Kauf nehmen, die Schuld bei sich selbst
suchen müssen. Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans nimmermehr der Fall
sein!
Dieser gesellschaftliche Determinismus ist ein wichtiger Grund dafür,
weshalb viele Väter und Mütter bei Schwierigkeiten mit dem Sprössling von einer
Fachexpertin zur nächsten rennen mit dem Wunsch nach einer psychologischen
Diagnose, nur um sich vor Schuldgefühlen und weiteren
Optimierungsverpflichtungen zu schützen. Lieber die Diagnose Dyskalkulie als
eine schlechte Mathematiknote.
Lähmende Wirkung
Unzweifelhaft entwickelt unsere Gesellschaft einen neuen
Entwicklungsimperativ der beschleunigten Optimierungskultur, die auch Kinder
nicht verschont und der sich zu entziehen schwierig geworden ist. Optimierung
ist zwar an sich nichts Falsches, denn sie ist ein zentrales Thema der meisten
Kulturen der Welt. Aber mit Blick auf die kindliche Entwicklung hat das
Optimierungskonzept seine grundlegende Ethik verloren, weil es zu sehr auf die
Machbarkeit des Individuums zielt und zu wenig auf das, wozu es fähig ist und
was seine Neigungen und Eigenheiten ausmacht. Defizite haben in diesem Konzept
keinen Platz mehr, genauso nachdenkliche, schwerfällige oder langsame Kinder.
Der fast manische Fokus auf die Optimierungskultur entfaltet deshalb eine
lähmende Wirkung.
Dies gilt auch für den Leistungssport, der heute immer früher beginnt.
Der Gemeinspruch «Jeder ist seines Glückes Schmied» ist die Kurzfassung für die
Überzeugung, dass man alles erreichen kann, wenn man nur will. Deshalb muss die
Förderung noch vor dem Kindergarten beginnen. Obwohl diese Aussage an sich
richtig ist, wird sie von vielen Eltern häufig so interpretiert, dass sie die
Macht hätten, das Leben ihres Nachwuchses zu bestimmen, und sein Erfolg das
Ergebnis ihrer Bemühungen sei. Nur so lässt sich erklären, weshalb derart viele
Mütter und Väter im Leistungssport aus ihrem durchschnittlichen Kind ein
aussergewöhnliches Kind machen möchten. Besonders krass zeigt sich dies im
Fussball, dem Einstiegssport Nummer eins. Die Nachfrage ist in den letzten Jahren
grösser geworden, als die Infrastrukturen und die personellen Ressourcen der
Vereine tragen. Allein im Kanton Aargau sind derzeit tausend Kinder auf den
Wartelisten der Klubs.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Leistungssport hat seine guten
Seiten, aber es kommt auf das Wie und das Ob an: wie Kinder begleitet,
unterstützt und herausgefordert werden und ob auf ihre tatsächlichen Interessen
und Begabungen Rücksicht genommen wird. Trifft dies zu, entwickeln sich
sportlich begabte Kinder oft sehr gut, haben in der Schule kaum Probleme und
sind organisierter, durchsetzungsfähiger und frustrationstoleranter. Eine
zunehmende Problematik ist allerdings der Ehrgeiz der Eltern. Zwar gilt, dass
Ehrgeiz und ein gewisser Druck bei weitem nichts Schlechtes sind. Trotzdem
haben viele Kinder enorme Mühe damit und brechen unter den hohen Erwartungen
zusammen.
Auf der Bank sitzen
bleiben
Hier zeigt sich eine dunkle Seite des Leistungssports, über die im
Allgemeinen wenig gesprochen wird: Was geschieht eigentlich mit den Kindern,
die den Erwartungen nicht genügen und die in die zweite oder die dritte Reihe
versetzt werden? Für diese Kinder tönt das nicht nur brutal, sondern es ist es
auch. Im Fussball beginnt eine solche Rückversetzung meist damit, dass die
besseren von ihnen auf einen Match vorbereitet werden und deshalb spielen
dürfen, die schlechteren jedoch immer auf der Bank sitzen bleiben müssen.
Obwohl sie vielleicht jahrelang mehr trainiert haben, als es ihren Fähigkeiten
entsprach, verschwinden sie in der Versenkung und müssen damit klarkommen. Für
ihre Eltern ist es oft eine herbe Enttäuschung, wenn der Traum vom
Spitzenfussballer platzt.
Kann diesem Trend überhaupt etwas entgegengesetzt werden? Ist es
möglich, auf die Seelen der Kinder Rücksicht zu nehmen, statt blinde
Optimierung zu verfolgen, und sie ihre Wurzeln schlagen zu lassen, statt den
kindlichen Erfolg als den eigenen zu zelebrieren? Geht es nach dem
Wissenschafter Svend Brinkmann, gibt es auf solche Fragen eine provokative
Antwort: Standfestigkeit. Wir sollten nicht andauernd nach dem Besten für
unseren Nachwuchs streben, sondern lernen, realistischere Werte zu entwickeln,
überfordernde Erziehungsmuster abzubauen, dann aber auch zu diesen Werten zu
stehen.
Das Recht auf
Durchschnittlichkeit
Das tönt reichlich konservativ. Doch in einer Welt der permanenten
Optimierung und Weiterentwicklung werden bestimmte Formen des Konservativismus
direkt progressiv. Der wichtigste Schritt, um Standhaftigkeit zu lernen, ist
die Entwicklung einer Antihaltung, und zwar gegenüber dem Bild des immer
tolleren Kindes, das früher, besser und schneller als alle anderen Kinder ist,
aber auch gegenüber vielen Ratgebern. Zu oft bieten sie sich als Checklisten
an, mit denen Eltern aus ihren Kindern erfolgreiche Menschen machen können.
Deshalb wirken Ratgeber wie eine Einstiegsdroge, weil der Rausch die Besinnung
darauf verunmöglicht, dass Kinder nicht wie Diamanten so lange geschliffen
werden können, bis sie den eigenen Vorstellungen entsprechen. Und dies führt
mitten in den Teufelskreis, immer auf der Suche nach dem nächsten
Optimierungsziel zu sein, ohne dass sich Glück und Zufriedenheit einstellen und
das Kind erfolgreicher wird.
Standfestigkeit entwickeln – eine konservativ tönende Botschaft, die zum
Wohl der Kinder das neue Progressive werden könnte. Anstatt treu der
Optimierungsdiktatur zu folgen, fragen sich standfeste Väter und Mütter vor
allem, was ihre Kinder brauchen. Janusz Korczak, einer der Grossen der
Pädagogik, forderte das Recht des Kindes auf den heutigen Tag und dass wir uns
hüten, ständig auf seine Zukunft zu schauen. Er formulierte auch das Recht des
Kindes, so zu sein, wie es ist, also auch normal zu sein. Eltern, die diese
Kunst beherrschen, wissen vor allem intuitiv, wann Optimierung beflügelt und
wann sie lähmt. Kinder, die dank standfesten Eltern auf stabilem Boden stehen,
Wurzeln entwickeln und im Hier und Jetzt leben dürfen, sind am besten für die
ungewisse Zukunft gerüstet.
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für
Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü. Zuletzt ist bei
Piper erschienen: «Neue Väter brauchen neue Mütter: Warum Familie nur gemeinsam
gelingt».
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen