«Hier musst du allen
Zweifelmut ertöten», heisst es bei Dante über die Hölle, «hier ziemt sich keine
Zagheit fürderhin» ..., denn nun werde man das «Volk des Elends sehn». Für
Homer dagegen war die Schattenwelt der Unort, an dem man Sisyphos und Tantalos
beim ewigen Unglücklichsein zusehen konnte.
Die Hölle, das ist der Elternabend, Tages Anzeiger, 1.10. von Gerhard Matzig
Die Kulturgeschichte steckt voller wilder
Spekulationen darüber, wo und was die Hölle sein könnte. Zumeist gerät das
völlig weltfremd. Um nämlich wirklich zu begreifen, womit das Volk des Elends
beschäftigt ist, muss man sich über Jahrzehnte eine Expertise ganz anderer Art
angeeignet haben – zur grossen Freude der örtlichen Orthopäden auf zu kleinen
Stühlchen sitzend, wobei sich die Beine unter zu niedrige Tischchen falten.
Spätestens wenn dann das Champions-League-Spiel angepfiffen wird, das man so
gerne schauen würde, während im Plenum die Frage nach der Legalität von
Tintenkillern aufgrund der diffizilen Interessenlage und spontan geäusserter
rechts- sowie erziehungswissenschaftlicher Debattenbeiträge noch nicht abschliessend
bewertet werden kann, weiss man es endlich: Die Hölle, das ist der Elternabend.
Und Sisyphos soll mal wieder Elternsprecher
werden. Mit Tantalos als Vize, der den Schulausflug ins Museum organisieren
wird. Selbstverständlich an einem sonnigen Tag. Würde die Klasse am sogenannten
Wandertag tatsächlich wandern gehen, so würde es regnen. Die Frage, was mit dem
Wandertag passiert, wenn es regnet, gehört daher auch zur Verdammnis. Auf dem
Elternabend liegt nun mal ein Fluch satanischer Bosheit.
Dazu gehört, dass die immer gleichen Fragen
von den immer gleichen Menschen in der immer gleichen Sehnsucht nach
schulischer Selbstoptimierung zu stellen sind. Warum ist der Schulthek so
schwer? Oder: Ist das schon für die Matura relevant? Ach, und die Gestaltung
des Pausenhofs ist auch so ein Thema. Warum gibt es so wenige
Sitzgelegenheiten? Könnte man nicht ein Klettergerüst anschaffen? Und was ist,
wenn ein Kind die 15-Minuten-Pause vor lauter Langeweile kaum durchsteht? Darf
man ihm zum Spielen Pferdezügel mitgeben?
Der Darwinist überprüft die Sitzposition
Wäre man ein Titan wie Prometheus, so würde
man sich jetzt mit Wonne in der Einöde des Kaukasus anschmieden und sich von
einem riesigen Adler die Eingeweide herausreissen lassen. Das sollte für eine
Schulkrankmeldung reichen, über deren Phänomenologie man so ausgiebig
diskutieren kann, als gelte es, den Nahost-Konflikt zu lösen. Doch man ist kein
Titan. Es gibt kein Entrinnen.
Überdies meint die Ehefrau, 1.) dass der
Elternabend eine prima Sache sei, weil sich da die Schulfamilie konstituiere,
Informationen ausgetauscht, Partizipation und soziales Miteinander
institutionell gelebt und das Eltern-Lehrer-Verhältnis vertieft würden.
Ausserdem, 2.), sei man einfach «dran».
Auf diese Weise wird man typologisch den
Elternabend als «Störer» bereichern. Dazu gehören Leute, die von ihren Frauen
oder Männern hergeschickt wurden und die nicht genau wissen, ob der Sohn in die
2b oder doch in die 3e geht. Manchmal gucken sich Störer heimlich während des
Elternabends Sky Go unter der Bank an. Einmal wird einer erwischt und vor die
Tür geschickt.
Die «Informierte» nimmt das mit Befriedigung
zur Kenntnis. Sie schreibt alles auf, markiert manches davon farbig, stellt so
manche Frage – und schlägt dann vor, sich gegenseitig fürderhin tagesaktuell
per Whatsapp-Elternchat zu informieren. Das ist, wie man sich vorstellen kann,
der einzige Satz, den die «Lustige» nicht mit einem wirklich humorvollen
Zwischenruf kommentiert. Stattdessen krümmt sie sich in ihrer Reihe, als läge
sie im Sterben. Was einem, also das Sterben, für einen kurzen Augenblick und
angesichts einer Vorahnung über den Verlauf des Elternchats, der sehr oft mit
«nur mal so in die Runde gefragt» eingeleitet wird, als diskutable Alternative
zu einem Leben voller Elternabende und Elternchats erscheint.
Die Lustige wird dann aber
zuverlässig und komplett humorfrei vom «Darwinisten» am Lustigsein gehindert.
Der Darwinist überprüft die Sitzposition seines Kindes im Klassenzimmer,
beurteilt diese aus akustischen, raumpsychologischen und
sichtachsenspezifischen Gründen als Karrierehindernis und löst damit im Laufe
einer immer bizarrer werdenden Diskussion zum Sitzplan tumultartige Szenen aus.
Um aber die Hölle jetzt mal zu verlassen: Es
soll Lehrer geben, die grossartig sind. Ausserdem grossartige Schüler. Was
wäre, wollte man der Schule, das ist der Ort, an dem sich Lehrer und Schüler im
Idealfall ohne Aufsicht frei begegnen, einfach mal vertrauen? Ganz so, als wäre
das Schulsystem ein Schulsystem – und keine tickende Zeitbombe, um die wir
Heli-Eltern uns ja auch noch kümmern müssen. Was wäre also, würden Eltern nur
dann zur Schule kommen, wenn es echte Probleme gibt? Nur mal so in die Runde gefragt.
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