Kaum eine andere Berufsgruppe wird so oft Opfer psychosomatischer
Erkrankungen wie Lehrkräfte. Fachleute überrascht das überhaupt nicht.
Burn-Out im Klassenzimmer, Süddeutsche Zeitung, 22.9. von Joachim Göres
Vor Kurzem erst hat in Bayern die Schule wieder begonnen, in anderen
Bundesländern wie in Hessen oder Rheinland-Pfalz hingegen stecken Schüler
und Lehrer quasi schon mitten drin im
Hausaufgaben- und Klausuren-Stress. Angesichts wachsender Belastungen in ihrem
Beruf gelingt es manchen Pädagogen nicht mehr, sich während der Sommerferien zu
erholen. Psychosomatische Erkrankungen sind der Hauptgrund, wenn Lehrer länger
als sechs Wochen in der Schule ausfallen. So hat nach aktuellen Zahlen der
Landesschulbehörde jeder dritte der ungefähr 4600 über einen längeren
Zeitraum erkrankten Lehrer in Niedersachsen psychische Beschwerden.
Besonders betroffen sind Grundschullehrer ab einem Alter von 50Jahren,
die vor allem unter depressiven Stimmungen, Angststörungen oder Erschöpfung
leiden. Gutachten, welche die Dienstfähigkeit von Pädagogen klären sollen,
haben in Rheinland-Pfalz seit Jahren zu circa 70 Prozent eine
psychische Erkrankung der Lehrkraft als Hintergrund. Wird eine aktuelle
Dienstunfähigkeit aus psychischen Gründen festgestellt, kehren diese Personen
später nur selten wieder zurück - bei einer Überprüfung durch ein sogenanntes
Reaktivierungsgutachten wird in Rheinland-Pfalz zu 95 Prozent eine
weiter bestehende Dienstunfähigkeit bescheinigt.
Dirk Lehr, Professor für Gesundheitspsychologie an der Universität
Lüneburg, hat zu diesem Thema geforscht und Studien anderer Autoren
ausgewertet. Nach einer repräsentativen Erhebung der Bundesanstalt für
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin unter mehr als 20 000 Erwerbstätigen
sind Lehrer deutlich häufiger als andere Berufsgruppen von Erschöpfung (mehr
als jeder Zweite), Kopfschmerzen (mehr als 40 Prozent), Nervosität
und Reizbarkeit (knapp 40Prozent) sowie von Schlafstörungen (35 Prozent)
betroffen. Nach der Potsdamer Lehrerstudie, für die 16 000 Lehrkräfte
befragt wurden, liegt die Burn-out-Rate bei 29 Prozent - zusammen mit
Erziehern die höchste Rate aller Berufe.
Laut Lehr legen einige Studien den Schluss nahe, dass das Risiko für
spätere psychische Erkrankungen erhöht ist, wenn Berufsanfänger unrealistische
Erwartungen an ihren Einfluss auf Schüler und überhöhte Leistungsansprüche an
sich selbst haben. Starke negative Gedanken verhinderten einen erholsamen
Schlaf, was das Risiko von Depressionen und Herzerkrankungen erhöhe. Wichtig
sei die Förderung von Verhaltensweisen, die der Erholung dienten. Auf der
Grundlage dieser Studien hat das Lüneburger Institut Lern-Gesundheit unter dem
Titel "Stark im Stress" ein Überlastungstraining für
Lehrer entwickelt.
Lutz Schumacher leitete ein Projekt, für das 30 Schulen in
ganz Deutschland über drei Jahre bei der Verbesserung der
Gesundheitsbedingungen beraten und circa 1000 Lehrkräfte befragt
wurden. Der Professor für Personalmanagement an der Alice-Salomon-Hochschule
Berlin hat dabei drei etwa gleich große Gruppen von Pädagogen ausgemacht: die
gesunden, zufriedenen Progressiven, die für Veränderungen offen sind; die
gesunden und zufriedenen Desinteressierten, die alles beim Alten lassen wollen;
die belasteten und unzufriedenen Resignierten, deren psychische Gesundheit
angegriffen ist und die Veränderungen als dringend nötig bezeichnen. Wobei sie
aber an deren Realisierung nicht glauben.
Der Druck von Ministerien und Eltern
nimmt zu
"Wir haben keine Vorgaben gemacht, sondern die Lehrer konnten
sagen, was verändert werden soll. Dabei fiel auf, dass Probleme mit der Schulleitung
am seltensten ein Thema war, aus Angst vor Konflikten", sagt Schumacher.
Aus seiner Sicht haben Schulleiter eine Schlüsselrolle - von ihnen hänge ab, ob
Lehrer sich unterstützt fühlen, ob sie an Entscheidungen beteiligt werden und
ob ein Gruppengefühl an ihrer Schule entsteht, an der man idealerweise
gemeinsame Werte und Ziele teilt.
Ansprechende Räumlichkeiten, das gilt insbesondere für das Lehrerzimmer,
können das Wohlbefinden erheblich verbessern - davon ist Sebastian Ginser,
Fremdsprachenlehrer am Gymnasium Burgdorf bei Hannover, überzeugt. An der 860 Schüler
und 80 Lehrer zählenden Schule ist
vor Kurzem das 50 Jahre alte Lehrerzimmer umgebaut und neues Mobiliar
angeschafft worden. Neue Teppiche und abgehängte Decken reduzieren den Lärm.
Ein neuer Ruheraum kann für das Nickerchen zwischendurch an der Ganztagsschule
genutzt werden. "Früher sind viele Kollegen sofort nach ihrem Unterricht
abgehauen, weil es hier laut und nicht schön war. Jetzt bleiben viele länger zu
kollegialem Austausch. Außerdem kann man sich auch eher mit einem Kaffee
zurückziehen und wirklich eine Pause machen", sagt Ginser.
In Rheinland-Pfalz bietet das Institut für Lehrergesundheit (IfL) allen
Bediensteten an staatlichen Schulen eine persönliche Beratung vor Ort sowie
eine telemedizinische Sprechstunde an, zudem werden regelmäßig Studientage zum
Thema Lehrergesundheit veranstaltet. Dort geht es darum, was die Gesundheit im
Berufsalltag beeinflusst, und wie die laut IfL wichtigsten Faktoren -
störungsfreie Arbeitspausen, Ruhe- und Rückzugsmöglichkeiten,
Verwaltungsaufwand und Lärmpegel - in den Schulräumen verbessert werden können.
"Die Vergleiche der Ergebnisse des diesjährigen Gesundheitsberichts mit
denen der vier vorangegangenen Schuljahre zeigen, dass sich wenige
Veränderungen in der Gesundheitssituation der Bediensteten sowie auch bezüglich
der Arbeitsmerkmale finden lassen", heißt es im
aktuellen IfL-Gesundheitsbericht.
Karl Gebauer, der 25 Jahre Rektor einer Göttinger Grundschule
war und heute im Ruhestand ist, wundert das nicht. Zu den Belastungsfaktoren im
Lehrerberuf gehören nach seiner Erfahrung nämlich auch Konflikte mit Kollegen
oder der Schulleitung sowie Neuerungen im Schulsystem. "Der Stress wächst
seit der Diskussion um das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler beim
Pisa-Test im Jahr 2000. Seitdem ist alles auf Effizienz ausgerichtet. Der
Druck von Ministerien und Eltern nimmt zu. Der Schulleiter hat heute mehr Macht
und sagt, wo es langgeht, und viele Lehrer ziehen sich zurück. Nicht Menschen,
sondern Ziele stehen im Vordergrund, und die nötige Empathie wird
zurückgedrängt", kritisiert Gebauer. Nach seiner Überzeugung ist das
Einfühlungsvermögen in andere eine Quelle für besseren Umgang mit Stress. Der
Autor rät, mit Kollegen über Gefühle und Belastungen zu sprechen und gemeinsam
nach Veränderungsmöglichkeiten zu suchen.
In seinem Buch "Stress bei Lehrern. Probleme im Schulalltag
bewältigen" beschreibt Gebauer, wie an seiner einstigen Schule ein Team
von 16 Lehrern konstruktiv mit Problemfällen umging, unter anderem in
Form von Rollenspielen, Aufzeichnungen in einem pädagogischen Tagebuch oder dem
Zeichnen von Karikaturen. Eine seiner Empfehlungen am Ende des Buches:
"Fehlschläge und Misserfolge sind Teil der Arbeit. Sie müssen als normal
angesehen werden. Lehrkräfte sollten darauf achten, dass sie Misserfolge nicht
gleichsetzen mit einer allgemeinen Unfähigkeit für Erziehungsprozesse. Aus
Fehlern kann man lernen. Ist diese Lernfähigkeit nicht mehr vorhanden, ist dies
oft ein deutlicher Hinweis auf Stress. Wenn kein Ausweg mehr gesehen wird,
sollten die Alarmglocken läuten. Man muss sich dann selbst auf den Weg machen,
um aus einer solchen Sackgasse wieder heraus zu kommen. Dabei geht es oft nicht
ohne die Hilfe eines Teams oder einer Therapie."
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