Dank seinem Biologielehrer hätten Hunderte von Schülern später die
propädeutischen Examina als Mediziner mühelos bestanden, erzählte Karl Schmid 1970 vor versammelter Zürcher
Schulsynode. Er habe es eben verstanden, die Elemente des
biologischen Verstehens an wenigen, ausgewählten Organen und Funktionen
unvergleichlich genau und sorgfältig zu entwickeln. Sehr viel Pragmatisches,
das man in jedem Buch nachschlagen könne, habe er hingegen bewusst
vernachlässigt. Schmid, damals Präsident des Schweizerischen
Wissenschaftsrates, wählte das Beispiel, um «das Wesentliche der Schule» zu
illustrieren.
Illustration: Peter Gut
Schulreformen: Für die Katz oder für die Kids, NZZ, 12.9. von Walter Bernet
Schon damals wurde argumentiert, dass die Hälfte der Arbeitstechniken
und Arbeitsanforderungen des übernächsten Jahrzehnts noch nicht bekannt sei.
Die progressiven Kräfte in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft
verlangten deshalb «eine Schulung, die nicht in das einführt, worauf unsere
Epoche gegründet ist, sondern die zeitgemäss sein und vorbereiten soll auf das,
was kommen wird».
Dieser wissenschaftsgläubigen Bildungseuphorie setzte Schmid eine
entschleunigte, dafür umso nachhaltiger wirkende Bildung entgegen. Nur wenn die
Schule die Nerven verloren habe, antworte sie auf den Wissensschwund-Schreck
und auf den Geschwindigkeitsrausch der Innovationen damit, dass sie selber zu
spurten beginne, sagte er. Stattdessen müsse sie sich auf das Elementare, das
Zugrundeliegende und das dem Verschleiss nicht Unterliegende besinnen. Bildung
wollte Schmid verstanden haben als «Ausbildung dazu, wie man zu geistigen Leistungen
fähig wird und für alles, was nicht Leistung ist, empfänglich bleibt».
Ansprüche an die
Schule gewachsen
Zürich, Bern und vier weitere Kantone haben nach den Sommerferien mit
der Einführung des Lehrplans 21 begonnen. Damit nähert sich eine gut zwei Jahrzehnte
dauernde Umbauphase in der Volksschule einem vorläufigen Abschluss. Dass es
dabei um «das Wesentliche der Schule» gegangen sei, wäre eine vermessene
Behauptung. Der Lehrplan 21 wirkt im Gegenteil wie das am Ende stark
zusammengepresste Ergebnis einer Addition aller Ansprüche an die
Volksschulbildung. Es war nicht die Schule selber, die den Anstoss zu den
Reformprozessen gegeben hatte. Äussere Kräfte, nicht zuletzt aus der
Wirtschaft, stellten in den 1990er Jahren ein grosses Reformdefizit fest. Die starke
Zuwanderung bildungsferner Gruppen, die gestiegenen Ansprüche der Wirtschaft,
die Nachfrage nach Arbeitskräften mit höherer Bildung, die bunte Vielfalt der
Familienmodelle und manches mehr forderten die Volksschule heraus.
In seinen Überlegungen vor der Schulsynode zu den Grenzen einer
Modernisierung der Schule hatte Karl Schmid vom Griff der Gesellschaft nach der
Schule gesprochen: «Diese duldet keine pädagogischen Enklaven.» Ein
Vierteljahrhundert nach Schmids Vortrag konfrontierte der neue Zürcher
Erziehungsdirektor Ernst Buschor eine konsterniert reagierende Schulwelt mit
seinen Plänen für ein neues «Haus des Lernens». Effizienz und Output sollten
mit neuen Steuerinstrumenten gesteigert werden.
Damit setzte der St. Galler Ökonom eine Reformwelle in Gang, deren
Tempo keine Debatte folgen konnte. Sie reichte von der Abschaffung der
Bezirksschulpflegen bis zur Einrichtung von Schulleitungen, von der Beteiligung
an internationalen Leistungstests bis zur Vorbereitung einer Harmonisierung der
kantonalen Volksschulen, von der – schliesslich gescheiterten – Einführung der
Grundstufe bis zum Frühenglisch als zweiter Fremdsprache in der Primarschule,
von Blockzeiten und ausserschulischer Betreuung bis zur integrierten Förderung.
Rückenwind erhielten die Reformvorschläge, als zu Beginn des neuen Jahrtausends
die ersten mässig ausgefallenen Pisa-Vergleiche auftauchten und der Volksschule
nicht das beste Zeugnis ausstellten.
Fast alles ist nach Jahre beanspruchender Umsetzung in der Ära von
Bildungsdirektorin Regine Aeppli inzwischen Normalität in unseren Schulen.
Trotz heftigen Debatten haben die Reformen Volksabstimmungen in der Regel
überstanden, zuletzt diesen Frühling in jener über die Initiative «Lehrplan
vors Volk» mit mehr als drei Viertel der Stimmen. Was aber haben sie im
Rückblick gebracht? Und wem haben sie genützt? Profitieren die heutigen
Schulkinder von ihnen? Oder waren sie für die Katz? Viel Lärm um nichts? Wenn
Bildungsforscher wie Stefan Wolter die Frage nach den Effekten der Reformen
nicht beantworten können, weil diese kaum messbar sind, macht das stutzig.
Allerdings dürfen all die Reformen nicht über einen Leisten geschlagen
werden. Ein Teil der Projekte blieb unbestritten, weil diese neu entstandene
Bedürfnisse deckten, so etwa die ausserschulische Betreuung. Gerade dieses
Beispiel verweist übrigens auf die Vorläufigkeit der Reformergebnisse: Aus den
Blockzeiten werden jetzt nicht nur in der Stadt Zürich Tagesschulen. Ein
anderer Teil betraf die Professionalisierung der Schulorganisation, der
Qualitätssicherung und der Schulführung. Zweifellos sind die teilautonomen,
geleiteten Schulen beweglicher geworden, allerdings um den Preis einer
Hierarchisierung und einer grösseren Beeinflussbarkeit durch die
Bildungsverwaltung. Stehen lassen darf man die Aussage von Bildungsdirektorin
Silvia Steiner, heute wäre ein Fall Jegge nicht mehr möglich.
Kostendruck auf die
Schulen
Im Hinblick auf die im engeren Sinn pädagogischen, stark auf die
Bewältigung der gewachsenen Heterogenität ausgerichteten Reformen haben drei
sich als zäh erweisende Trends die Umsetzung geprägt: Erstens war evident
geworden, dass Bildung wie nie zuvor einen absolut entscheidenden Einfluss auf
den beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg der Individuen, aber auch auf die
volkswirtschaftliche Prosperität hat. Zweitens boten Ökonomie und Statistik
Modelle und Methoden zur Steigerung der Effizienz sowie zur Messung und zum
Vergleich der Schulleistungen an. Und drittens meldeten – anders als zu Karl
Schmids Zeiten – mit den Ökonomen und den Bildungsvermessern auch die
Finanzpolitiker ihre Ansprüche an: Reformen sind gut, aber in Zeiten der
Sparzwänge dürfen sie nichts kosten.
Dieser Mix reichte aus, um die Diskussionen über Sinn und Unsinn der
Schulreformen bis heute am Leben zu erhalten. Der erste Trend akzentuierte das
Problem der Chancengerechtigkeit, das heisst der adäquaten Förderung aller
Begabungen. Insbesondere wurde es zur dringlichen Aufgabe der Schule, die nach
wie vor konstant grosse Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern zu
verkleinern, die den Leistungsanforderungen nicht genügt. Patentrezepte dafür
gibt es immer noch nicht. Beim zweiten Trend ist die Überraschung inzwischen
der Ernüchterung gewichen. Allen Massnahmen zum Trotz hat sich auch in der
sechsten Pisa-Testrunde nicht viel am «Output» der Volksschule geändert. Der
dritte Trend, der Sparzwang, hilft der öffentlichen Hand, ihr Engagement unter
Kontrolle zu halten, führt aber in der Praxis dazu, dass man viel Energie in
die Suche nach Lösungen steckt, die primär möglichst wenigen weh tun.
Die wohl grösste Baustelle bleibt die sogenannte integrative Schule. Ist
das Ziel, die Volksschulen so zu stärken, dass sie Schulen für alle sein
können, erreicht? Die objektive Antwort lautet Nein. Auch das neu errichtete
Haus des Lernens erträgt nicht jede Belastung. Der Anspruch, alle Kinder zu
integrieren, kann auch zu absolut und damit utopisch sein. Letztlich muss die
Perspektive des Kindes, des Jugendlichen den Ausschlag geben – vor der Belastungsgrenze
der Schule, aber nicht ohne Rücksicht auf diese.
Ist eine wöchentliche Therapie- oder Förderstunde sinnvoll, wenn die
Fortschritte ausbleiben, weil eine intensivere Begleitung angezeigt wäre? Wie
weit kann die Schule mit ihren Ressourcen und ihrem Potenzial als Organisation
auf jedes individuelle Bedürfnis eingehen? Wie weit kann sie Erziehungsdefizite
und kulturelle Differenzen auffangen? Generelle Antworten auf diese Fragen gibt
es kaum. Die Reformen haben aber geholfen, die Schulen selber beim Finden von
Lösungen handlungsfähiger zu machen. Und sie haben die Betriebstemperatur der
Selbstreflexion erhöht.
Schule braucht Raum
und Luft
An die Volksschule wird mit grosser Selbstverständlichkeit der Anspruch
gestellt, eine für die Reproduktion der demokratischen, wirtschaftlich
prosperierenden, individuelle Entfaltung ermöglichenden Gesellschaft zentrale
Agentur zu sein. Sie kann erstaunlich viel. Das beweist sie täglich in
Dietikon, in Schwamendingen und anderswo.
Inzwischen ist die Volksschule nur noch als integrative Schule denkbar.
Wer sonst könnte die Aufgabe lösen, die zweite Generation aus Migrantenfamilien
in die Berufsbildung zu bringen und damit aus zu engen Bindungen ans eigene
Milieu zu befreien? Trotzdem: Wir dürfen die Integration auf keinen Fall
einfach an die Schule delegieren. Diese bleibt eine Aufgabe aller Beteiligten.
Kerngeschäft der Schule muss das «Wesentliche» im Sinne Karl Schmids bleiben.
Das ist keine konstante, in Kompetenzen erfassbare Grösse, sondern Ergebnis
eines kontinuierlichen Reflexionsprozesses. Dafür braucht die Schule Raum und
Luft.
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