12. September 2018

Reformen für die Katz?

Dank seinem Biologielehrer hätten Hunderte von Schülern später die propädeutischen Examina als Mediziner mühelos bestanden, erzählte Karl Schmid 1970 vor versammelter Zürcher Schulsynode. Er habe es eben verstanden, die Elemente des biologischen Verstehens an wenigen, ausgewählten Organen und Funktionen unvergleichlich genau und sorgfältig zu entwickeln. Sehr viel Pragmatisches, das man in jedem Buch nachschlagen könne, habe er hingegen bewusst vernachlässigt. Schmid, damals Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates, wählte das Beispiel, um «das Wesentliche der Schule» zu illustrieren.
Illustration: Peter Gut

Schulreformen: Für die Katz oder für die Kids, NZZ, 12.9. von Walter Bernet


Schon damals wurde argumentiert, dass die Hälfte der Arbeitstechniken und Arbeitsanforderungen des übernächsten Jahrzehnts noch nicht bekannt sei. Die progressiven Kräfte in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft verlangten deshalb «eine Schulung, die nicht in das einführt, worauf unsere Epoche gegründet ist, sondern die zeitgemäss sein und vorbereiten soll auf das, was kommen wird».

Dieser wissenschaftsgläubigen Bildungseuphorie setzte Schmid eine entschleunigte, dafür umso nachhaltiger wirkende Bildung entgegen. Nur wenn die Schule die Nerven verloren habe, antworte sie auf den Wissensschwund-Schreck und auf den Geschwindigkeitsrausch der Innovationen damit, dass sie selber zu spurten beginne, sagte er. Stattdessen müsse sie sich auf das Elementare, das Zugrundeliegende und das dem Verschleiss nicht Unterliegende besinnen. Bildung wollte Schmid verstanden haben als «Ausbildung dazu, wie man zu geistigen Leistungen fähig wird und für alles, was nicht Leistung ist, empfänglich bleibt».

Ansprüche an die Schule gewachsen
Zürich, Bern und vier weitere Kantone haben nach den Sommerferien mit der Einführung des Lehrplans 21 begonnen. Damit nähert sich eine gut zwei Jahrzehnte dauernde Umbauphase in der Volksschule einem vorläufigen Abschluss. Dass es dabei um «das Wesentliche der Schule» gegangen sei, wäre eine vermessene Behauptung. Der Lehrplan 21 wirkt im Gegenteil wie das am Ende stark zusammengepresste Ergebnis einer Addition aller Ansprüche an die Volksschulbildung. Es war nicht die Schule selber, die den Anstoss zu den Reformprozessen gegeben hatte. Äussere Kräfte, nicht zuletzt aus der Wirtschaft, stellten in den 1990er Jahren ein grosses Reformdefizit fest. Die starke Zuwanderung bildungsferner Gruppen, die gestiegenen Ansprüche der Wirtschaft, die Nachfrage nach Arbeitskräften mit höherer Bildung, die bunte Vielfalt der Familienmodelle und manches mehr forderten die Volksschule heraus.

In seinen Überlegungen vor der Schulsynode zu den Grenzen einer Modernisierung der Schule hatte Karl Schmid vom Griff der Gesellschaft nach der Schule gesprochen: «Diese duldet keine pädagogischen Enklaven.» Ein Vierteljahrhundert nach Schmids Vortrag konfrontierte der neue Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor eine konsterniert reagierende Schulwelt mit seinen Plänen für ein neues «Haus des Lernens». Effizienz und Output sollten mit neuen Steuerinstrumenten gesteigert werden.

Damit setzte der St. Galler Ökonom eine Reformwelle in Gang, deren Tempo keine Debatte folgen konnte. Sie reichte von der Abschaffung der Bezirksschulpflegen bis zur Einrichtung von Schulleitungen, von der Beteiligung an internationalen Leistungstests bis zur Vorbereitung einer Harmonisierung der kantonalen Volksschulen, von der – schliesslich gescheiterten – Einführung der Grundstufe bis zum Frühenglisch als zweiter Fremdsprache in der Primarschule, von Blockzeiten und ausserschulischer Betreuung bis zur integrierten Förderung. Rückenwind erhielten die Reformvorschläge, als zu Beginn des neuen Jahrtausends die ersten mässig ausgefallenen Pisa-Vergleiche auftauchten und der Volksschule nicht das beste Zeugnis ausstellten.

Fast alles ist nach Jahre beanspruchender Umsetzung in der Ära von Bildungsdirektorin Regine Aeppli inzwischen Normalität in unseren Schulen. Trotz heftigen Debatten haben die Reformen Volksabstimmungen in der Regel überstanden, zuletzt diesen Frühling in jener über die Initiative «Lehrplan vors Volk» mit mehr als drei Viertel der Stimmen. Was aber haben sie im Rückblick gebracht? Und wem haben sie genützt? Profitieren die heutigen Schulkinder von ihnen? Oder waren sie für die Katz? Viel Lärm um nichts? Wenn Bildungsforscher wie Stefan Wolter die Frage nach den Effekten der Reformen nicht beantworten können, weil diese kaum messbar sind, macht das stutzig.

Allerdings dürfen all die Reformen nicht über einen Leisten geschlagen werden. Ein Teil der Projekte blieb unbestritten, weil diese neu entstandene Bedürfnisse deckten, so etwa die ausserschulische Betreuung. Gerade dieses Beispiel verweist übrigens auf die Vorläufigkeit der Reformergebnisse: Aus den Blockzeiten werden jetzt nicht nur in der Stadt Zürich Tagesschulen. Ein anderer Teil betraf die Professionalisierung der Schulorganisation, der Qualitätssicherung und der Schulführung. Zweifellos sind die teilautonomen, geleiteten Schulen beweglicher geworden, allerdings um den Preis einer Hierarchisierung und einer grösseren Beeinflussbarkeit durch die Bildungsverwaltung. Stehen lassen darf man die Aussage von Bildungsdirektorin Silvia Steiner, heute wäre ein Fall Jegge nicht mehr möglich.

Kostendruck auf die Schulen
Im Hinblick auf die im engeren Sinn pädagogischen, stark auf die Bewältigung der gewachsenen Heterogenität ausgerichteten Reformen haben drei sich als zäh erweisende Trends die Umsetzung geprägt: Erstens war evident geworden, dass Bildung wie nie zuvor einen absolut entscheidenden Einfluss auf den beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg der Individuen, aber auch auf die volkswirtschaftliche Prosperität hat. Zweitens boten Ökonomie und Statistik Modelle und Methoden zur Steigerung der Effizienz sowie zur Messung und zum Vergleich der Schulleistungen an. Und drittens meldeten – anders als zu Karl Schmids Zeiten – mit den Ökonomen und den Bildungsvermessern auch die Finanzpolitiker ihre Ansprüche an: Reformen sind gut, aber in Zeiten der Sparzwänge dürfen sie nichts kosten.
Dieser Mix reichte aus, um die Diskussionen über Sinn und Unsinn der Schulreformen bis heute am Leben zu erhalten. Der erste Trend akzentuierte das Problem der Chancengerechtigkeit, das heisst der adäquaten Förderung aller Begabungen. Insbesondere wurde es zur dringlichen Aufgabe der Schule, die nach wie vor konstant grosse Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern zu verkleinern, die den Leistungsanforderungen nicht genügt. Patentrezepte dafür gibt es immer noch nicht. Beim zweiten Trend ist die Überraschung inzwischen der Ernüchterung gewichen. Allen Massnahmen zum Trotz hat sich auch in der sechsten Pisa-Testrunde nicht viel am «Output» der Volksschule geändert. Der dritte Trend, der Sparzwang, hilft der öffentlichen Hand, ihr Engagement unter Kontrolle zu halten, führt aber in der Praxis dazu, dass man viel Energie in die Suche nach Lösungen steckt, die primär möglichst wenigen weh tun.
Die wohl grösste Baustelle bleibt die sogenannte integrative Schule. Ist das Ziel, die Volksschulen so zu stärken, dass sie Schulen für alle sein können, erreicht? Die objektive Antwort lautet Nein. Auch das neu errichtete Haus des Lernens erträgt nicht jede Belastung. Der Anspruch, alle Kinder zu integrieren, kann auch zu absolut und damit utopisch sein. Letztlich muss die Perspektive des Kindes, des Jugendlichen den Ausschlag geben – vor der Belastungsgrenze der Schule, aber nicht ohne Rücksicht auf diese.

Ist eine wöchentliche Therapie- oder Förderstunde sinnvoll, wenn die Fortschritte ausbleiben, weil eine intensivere Begleitung angezeigt wäre? Wie weit kann die Schule mit ihren Ressourcen und ihrem Potenzial als Organisation auf jedes individuelle Bedürfnis eingehen? Wie weit kann sie Erziehungsdefizite und kulturelle Differenzen auffangen? Generelle Antworten auf diese Fragen gibt es kaum. Die Reformen haben aber geholfen, die Schulen selber beim Finden von Lösungen handlungsfähiger zu machen. Und sie haben die Betriebstemperatur der Selbstreflexion erhöht.

Schule braucht Raum und Luft
An die Volksschule wird mit grosser Selbstverständlichkeit der Anspruch gestellt, eine für die Reproduktion der demokratischen, wirtschaftlich prosperierenden, individuelle Entfaltung ermöglichenden Gesellschaft zentrale Agentur zu sein. Sie kann erstaunlich viel. Das beweist sie täglich in Dietikon, in Schwamendingen und anderswo.

Inzwischen ist die Volksschule nur noch als integrative Schule denkbar. Wer sonst könnte die Aufgabe lösen, die zweite Generation aus Migrantenfamilien in die Berufsbildung zu bringen und damit aus zu engen Bindungen ans eigene Milieu zu befreien? Trotzdem: Wir dürfen die Integration auf keinen Fall einfach an die Schule delegieren. Diese bleibt eine Aufgabe aller Beteiligten. Kerngeschäft der Schule muss das «Wesentliche» im Sinne Karl Schmids bleiben. Das ist keine konstante, in Kompetenzen erfassbare Grösse, sondern Ergebnis eines kontinuierlichen Reflexionsprozesses. Dafür braucht die Schule Raum und Luft.


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