23. September 2018

Fleiss schlägt Begabung


Hans Ulrich Gumbrecht steht auf, wenn andere noch tief schlafen, er schreibt stets an mehreren Publikationen gleichzeitig, und er sucht auch nach seiner Emeritierung in Stanford nach dem intensiven Leben. René Scheu hat mit dem deutsch-amerikanischen Intellektuellen über späte Träume und frühe Traumata gesprochen.
Unerschrocken: der Romanist und Philosoph Hans Ulricht Gumbrecht, Bild: Christoph Ruckstuhl
"Ich arbeite so viel, dass es mir gelingt, wirklich Begabte aus dem Feld zu schlagen, NZZ, 22.9. von René Scheu


Herr Gumbrecht, waren Sie ein intellektuell frühreifes Kind – oder haben Sie Bücher erst einmal kaum interessiert?
Frühreif? Schön wär’s. Im Gegenteil, nach einigen Wochen der ersten Grundschulklasse bestellte die Lehrerin meine Eltern ein, um über eine Verschiebung in jene Institution zu reden, die man damals Hilfsschule nannte. Ich schaffte im Schreibunterricht nämlich nicht den Übergang von den vertikalen Strichen zum grossen L als erstem wirklichem Buchstaben. Was meine Eltern der beflissenen Frau Fruh, der Lehrerin, versprachen, weiss ich nicht. Doch irgendwann, viel später als die anderen Kinder, begann ich auch zu schreiben, ein Jahr danach waren die Noten beinahe gut – und in den letzten Jahren des Gymnasiums sogar exzellent. Aber die Schule und das Lernen sind Prozesse der Anstrengung und des Traumas für mich geblieben.

Sie stapeln tief. Sie kokettieren! Es fällt mir schwer, zu glauben, dass Sie schwer von Begriff waren. Wenn nicht frühreif – waren Sie dann ein Spätstarter?
Das kann man so auch nicht sagen. Die beflissenen Lehrer damals wiederholten stets dasselbe Mantra, das meine Eltern mir nicht vorenthielten: Hans Ulrich ist nicht begabt, aber er ist sehr fleissig.

War dies Ihr Trauma?
Absolut. Ich habe mir diese Fremdeinschätzung schon früh zu eigen gemacht. Ich war überzeugt: Ich muss mir den Erfolg hart erarbeiten. Und diese Grundstimmung hält bis heute an, ich habe sie, wenn ich so sagen darf, nie überwunden. Und ich will sie auch gar nicht überwinden. Einen Tag nicht zu arbeiten, ist völlig undenkbar. Das Wort «nachlassen» stellt für mich ein Tabu dar, das weiss am besten meine Frau – nachlassen gibt’s nicht. Da verstehe ich keinen Spass.

Sie waren seit Ihren frühen Jahren kompensatorisch unterwegs: Sie wollten über Fleiss erreichen, was andere nicht einmal durch ihre Begabung zustande brachten.
Genau das ist mein Muster: Ich arbeite so viel, dass es mir gelingt, die wirklich Begabten aus dem Feld zu schlagen.

Welches Verhältnis pflegten Sie zu Büchern: Wie gut und womit war die Bibliothek Ihrer Eltern bestückt?
Meine Eltern waren beide die ersten Universitätsstudenten in ihren Familien – und hatten als Mediziner kaum Interesse an Büchern. Auf den Regalen standen ein Herder-Lexikon, Staatsexamensgeschenk für meine Mutter, und eine Schiller-Gesamtausgabe, Abiturgeschenk. Daneben standen, prominenter, die Bücher aus der Zeit des Medizinstudiums. Wenn ich alleine zu Hause war, las ich eifrig in Molls «Handbuch des Sexuallehre». Vor allem die Zeichnung einer nackten «Kaukasierin» hatte es mir angetan.

Aha. Also waren Sie irgendwie doch frühreif. Welche Erzählungen haben Sie zuerst gelesen – ich vermute: die Geschichten von Karl May?
Ja, Karl May. So gehörte es sich damals. Aber es ging vor allem darum, Rekorde zu brechen, mehr Karl-May-Bände gelesen zu haben als meine Schulkameraden, wie es damals hiess.

Ich tat mich immer wahnsinnig schwer mit Karl May. Was kam danach an gehobener Literatur an die Reihe?
Als ich 14 war, richtete mir mein Vater ein Konto bei einer örtlichen Buchhandlung ein, 20 Mark pro Monat. Ich kaufte Heinrich Böll, Gerd Gaiser, Günter Eich – und dann stiess ich auf die «Blechtrommel» von Grass. Es war das erste literarische Buch, das ich mit Begeisterung las. Aber ich war nie der passionierte Leser, als den man sich einen späteren Literaturwissenschafter vorstellt – auch wenn es mir gelang, mich so zu stilisieren.

Wollten Sie durch Ihre Gelehrtheit damals Mädchen beeindrucken?
Ich war nie ein guter Sportler, was ich gern gewesen wäre, und also musste ich mir etwas einfallen lassen. Gelehrtheit fand ich eher abstossend, ich wollte vielmehr ein moderner Intellektueller sein, cool, stets klug, ein wenig exzentrisch, mit Jackett und schräger Krawatte. Sagen wir es so: Die Nummer mit der Intellektualität funktionierte nicht schlecht.

Wann folgten die französische und die englische Literatur?
Graham Greene gefiel mir – vor allem wegen der verhaltenen erotischen Szenen. Französische Literatur – das begann mit einer kurzen Reise nach Paris, als ich 16 war. Ich war begeistert von allem, was französisch war, auch von Jean-Paul Sartre, weil ich mir kein deutsches Äquivalent zu ihm – und schon gar nicht zur Stadt Paris – vorstellen konnte.

Sartre, echt? Er schrieb – vor allem im fortgeschrittenen Alter – schwer verständliche Bücher, er war ungepflegt und sah schlecht aus.
Alles korrekt – aber Sartre war eben nonkonformistisch, exotisch, kommunistisch. Und kommunistisch war damals richtig cool – wenn ich das heute so sagen darf. Denn Kommunist zu sein, war in der alten Bundesrepublik Deutschland viel anrüchiger, als Altnazi zu sein. Das scheint heute unvorstellbar, aber so war’s. Sartre scherte sich derweil keinen Deut um irgendwelche Korrektheiten, er war einfach Sartre. Das faszinierte mich ungemein.

Hand aufs Herz, nun kommt die Gretchenfrage: Wie gut waren Sie in Mathematik?
Sehr, sehr schlecht – ich habe zwar auch in dem Fach am Ende eine Abitur-Eins geschafft, aber nur, weil ich Lösungsschritte auswendig gelernt hatte. Mich selbst habe ich nie überzeugt – bis heute werde ich von einem Albtraum heimgesucht, in dem ein Komitee des Bayerischen Kultusministeriums nach Stanford kommt, um zu überprüfen, ob es in meinem Mathe-Abitur mit rechten Dingen zugegangen sei. Und ich falle jedes Mal durch, mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass ich – ohne Hochschulreife – auch meinen Lehrstuhl verliere.

Sie waren Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und gingen im Schicksalsjahr 1968 auf die Strasse. Welches Verhältnis hatten Sie damals, in den wilden Jahren, zu den USA? Oder anders gefragt: Hätten Sie sich vorstellen können, jemals Amerikaner zu werden?
Natürlich war ich offiziell ganz und gar antiamerikanisch – siehe die gefährlichen Steinwürfe aufs amerikanische Konsulat. Heimlich aber hatte ich immer eine Sympathie, die aus meiner Kindheit «unter amerikanischer Besatzung» kam. Etwa die Hälfte meiner Schulkameraden aus der Klasse von Frau Fruh hatten GIs als Väter, die in der Pause auf ihren Jeeps zum Schulhof kamen, uns Coca-Cola und Kaugummi mitbrachten, einen Basketballkorb schenkten und wirklich tolle Uniformen anhatten. Vor allem waren die meisten von ihnen schwarz.

Wie stand es um Ihren Antikapitalismus? Um Ihre Solidarität mit den unterdrückten Völkern dieser Welt? Um Ihre Begeisterung für Kuba und China?
Offiziell und explizit lag alles auf der orthodoxen Linie. Ich glaube aber, dass meine sozialen Gefühle anderswoher kamen. Als ich 14 war, verkündete mein Vater, ich müsse nun jeden Sommer – allein – auf einem anderen Kontinent verbringen. Und was blieb mir übrig: Kanada und die USA im ersten Jahr, dann Ghana, Togo und Nigeria, danach Indien und Pakistan, dann Brasilien und Peru, schliesslich Thailand und Japan. In einem politischen Sinn – oder soll ich sagen «ethischen» Sinn? Ich hasse dieses Wort wirklich – hat mich vor allem Indien beeinflusst. Es war und ist immer noch ganz unerträglich für mich zu erleben, unter welch extremen Bedingungen von Armut Menschen leben und überleben können.

Was vermuteten Sie damals hinter dem eisernen Vorhang – das kommunistische Paradies? Oder wenigstens einen kleinen Umweg auf dem Marsch dahin?
Es gehörte in meiner Generation zum Programm aller westdeutschen Gymnasien, in der Unterprima eine – sehr ideologisch geplante und vom Staat finanzierte – Reise nach Berlin zu unternehmen, zu der ein Tag auf der DDR-Seite der Stadt gehörte. Dieser eine Tag hat all meine aufkeimenden Illusionen sehr früh ausgetrocknet – obwohl ich genau das Gegenteil sagte, für mindestens ein Jahrzehnt, und das Gegenteil auch in ein in der DDR ausliegendes Gästebuch schrieb.

Wie war Ihr Verhältnis zur «Frankfurter Schule», also zu Horkheimer, zu Adorno und zu Habermas? Waren Sie der damals verbreiteten Meinung, dass die traumatisierte Gesellschaft an der Sozialdemokratie genesen musste?
Mit «Dialektik der Aufklärung» gewann mein Ekel vor der Nazivergangenheit eine intellektuelle Form – deshalb war dieses Buch intellektuell und existenziell sehr wichtig für mich. «Erkenntnis und Interesse» des jungen Jürgen Habermas hat mich erstmals zum erkenntnisphilosophischen Nachdenken gebracht, einmal ganz abgesehen von seinem wirklichen Klassiker über die Ko-Emergenz von Aufklärung und Öffentlichkeit – während ich die Ästhetik von Adorno bis heute für die Ästhetik einer grossbürgerlichen Elite halte, zu der ich – schon angesichts der bescheidenen Bibliothek meiner Eltern – nicht gehören konnte.

Mit 26 wurden Sie Professor in Bochum. Der junge Professor mit Jeans und ­T-Shirt auf der einen und junge langhaarige Gammlerstudenten auf der anderen Seite – konnte das gut gehen?
Die Universität Bochum war eine sehr erfolgreiche Neugründung in einer strukturschwachen Gegend von Westdeutschland. Sehr viele Studenten stammten tatsächlich aus Arbeiterfamilien und reisten aus dem ganzen Ruhrgebiet im Nahverkehr an, um Mietkosten zu sparen. Sie waren sehr motiviert – und überliessen das Revolutionär-Sein dem jungen Prof im T-Shirt und mit Angela-Davis-Frisur. Diese Studenten wollten fast ohne Ausnahme Studienrat werden und waren deshalb interessiert an solidem Unterricht.

Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Professorenkollegen?
Ich versuchte in den ersten Monaten zu provozieren – einmal hatte ich in einer Fakultätssitzung die Beine pseudo­entspannt auf dem Tisch. Aber als niemand reagierte, ging es mir dann wie mit den Bochumer Studenten: Ich wurde ein ganz normaler – immer noch junger – Professor.

Hegten Sie damals den Traum, die akademische, vielleicht gar die intellektuelle Welt auf den Kopf zu stellen?
Über Karrierestrategien habe ich, grosses Ehrenwort, bis heute noch keine Sekunde nachgedacht – und nun, nach der Emeritierung, ist es wohl zu spät dafür. Bochum, wo ich den «Schulterschluss mit dem Proletariat» erwartet hatte, war eine heilsame Schule der Nüchternheit für mich. Wenn ich irgendwo «den Beruf gelernt habe», dann sicher an der Ruhr-Universität.

Wie ich Sie kenne, konnte Ihr Ziel nur eines sein: der grösste lebende Romanist zu werden.
Ich will immer der Grösste sein – und halte das für ganz natürlich.

Das sagen Sie wirklich ohne Ironie?
Eigentlich schon. Meinen Studenten habe ich in jeder Sprechstunde gesagt, wenn sie mit ihren Seminararbeiten nicht Foucault überbieten wollen, dann sollen sie gar nicht mit dem Schreiben anfangen, so unwahrscheinlich es auch ist, dass ihnen das gelingt. Folglich bin ich heute – tatsächlich – enttäuscht, nicht in die Liga von Plato und Kant, Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein aufgestiegen zu sein.

Und wo sehen Sie Ihre Position unter den Romanisten?
Die Tradition der grossen Romanisten habe ich auch nicht fortgesetzt – aber das hat wohl damit zu tun, dass dies nur in und aus Europa möglich gewesen wäre. Romanistik, das sollte man nicht vergessen, war eine Erfindung deutscher akademischer Intellektueller, die Probleme mit Deutschland hatten. Vielleicht – aber es steht mir im Ernst nicht zu, das zu beurteilen – habe ich eine neue Version des Romanist-Seins erfunden. Das sollte dann auf meinem Grabstein stehen – einmal abgesehen davon, dass ich nicht mit einer Beerdigung rechne, sondern hoffe, als in den Pazifik gestreute Asche wieder «Materie zu werden».

Wie haben sich Funktion, Bild und Rolle des Intellektuellen in den letzten vierzig Jahren gewandelt?
Ihre Frage macht mir deutlich, dass ich vielleicht weniger pessimistisch bin, als ich selbst erwartet hätte. Glücklicherweise gibt es ja heute keine ernst zu nehmenden Intellektuellen mehr, die glauben, sie seien berufen, die Menschheit in die Sonne der Aufklärung und des kollektiven Glücks zu führen. Aber es gibt vielleicht Gründe zu der Vermutung, dass sie in einer anderen Funktion und Rolle an Ansehen – und auch an finanziellem Marktwert – gewonnen haben: nämlich als diejenigen, die unsere Erfahrung der Welt komplexer machen, diejenigen, die anders denken, ohne dies ­unbedingt für revolutionär zu halten, diejenigen vielleicht sogar, die dazu bei­tragen, dass die Lebendigkeit der Mensch­heit am Leben bleibt.

Weg vom Buch, hin zum Essay, weg vom Werk, hin zur Intervention? Weg vom Überparteiischen, hin zum begründet Parteiischen?
Halt, mein Hauptgrund zur Emeritierung war die Hoffnung, dass ich ohne Lehre einen besseren Rhythmus zum Bücherschreiben finden kann. Und dann haben Sie recht: «Intervention» eben im Sinn von Impulsen eines nicht institutionalisierten Denkens.

Sie waren ja sehr Paris-affin. Welche angesagten Intellektuellen haben Sie in Paris kennengelernt – Jacques Derrida zum Beispiel?
Klar. Und Derridas Philosophie hat in meinem Kopf nie eine aussergewöhnliche Resonanz ausgelöst, was natürlich keinesfalls gegen ihn oder seine Bücher spricht. Immerhin bin ich davon ausgegangen, dass ein Denker, der so viel in Bewegung setzt – wenigstens in der Gegenwart dieser Resonanz –, eine besondere Bedeutung haben muss. Deswegen habe ich Derrida nach Siegen und später mehrere Male nach Stanford geholt. Und wir waren uns, meine ich, auf eine etwas distanzierte und fast überraschte Weise sympathisch. Davon ist auch die Rede in der Derrida-Biografie von Benoît Peeters.

Genau. Da steht, dass sich Derrida trotz Ihrer Bekanntschaft lange geziert habe, nach Stanford zu kommen – Sie mussten ihn gleichsam bearbeiten, Peeters spricht leicht ironisch sogar von Belästigung. Wo lag das Problem?
Es hatte einen Namen: René Girard. Girard war damals mein Kollege in Stanford. Zuvor hatte er an der Johns Hopkins University gelehrt und 1966 ein Symposium über Strukturalismus zu Ehren Jacques Lacans organisiert. An diesem Symposium hatte auch der sehr junge Derrida teilgenommen, es war sein erster wichtiger Auftritt in den USA, und er bestimmte die ganze kommende Derrida-Mythologie: Derrida hielt ein glänzendes Referat, so dass alle sogleich von diesem neuen Franzosen redeten – und Lacan, der ebenfalls teilnahm, war plötzlich kein Thema mehr. Das kränkte Lacan so sehr, dass er beleidigt abreiste. Girard hat das Derrida nie verziehen. Und Derrida wusste das. Deshalb waren Girard und Derrida einander nicht gerade wohlgesinnt

Derrida trat auch lieber an Universitäten auf, die mit der Dekonstruktion fraternisierten. Ich nehme mal an, dass dies in Stanford nicht der Fall war.
Auch das stimmt, dennoch haben wir gut zusammengearbeitet. Derrida hatte eine Aura, die Studenten suchten seine Nähe und standen auch Schlange. Auf mich wirkte er wie der gepflegte Vertreter der zweiten Generation von Winzern: gut angezogen, formvollendet in den Gesten, rücksichtsvoll, ein wenig umständlich, aber zugleich doch zutraulich und sympathisch.

Derrida als Winzer: Das ist eine schöne Vorstellung. Hat er sich denn an Partys gern betrunken?
Kaum, jedenfalls ist es mir nicht aufgefallen. Derrida hatte aber den Ruf, Drogen zu konsumieren – wegen angeblichen Drogenhandels war er 1982 in Prag festgenommen worden. Allein, ich habe meine Zweifel, und ich erzähle Ihnen eine schöne Stanford-Anekdote. Die Studenten standen Schlange vor Derrida, und die Hälfte von ihnen hatten Haschisch oder Kokain dabei, irgendetwas weiss Schimmerndes in Papiertütchen. Sie überreichten ihre Gabe ehrfurchtsvoll, Derrida nahm sie würdevoll entgegen. Als wir später mit meinem Jeep zu seinem Hotel fuhren, öffnete er das Fenster und warf die ganze weisse Ladung weg. Auf meine Frage, warum er das tat, lächelte er bloss – und sagte ironisch, er wolle nicht wieder wegen Drogenbesitzes festgenommen werden. In Wahrheit illustrierte er damit, dass er sich seiner Wirkung auf andere bewusst war und eine Art Derrida-Mythologie ebenso bewusst pflegte.

Was bleibt von Derrida?
Ich habe nie eine Welle der Philosophie erlebt, die so schnell verebbt – und gleichsam, wenn die Metapher nicht so schief wäre – vergilbt ist. Trotzdem könnte sie eine Renaissance haben.

Warum?
Weil intellektuelle Moden eben so funktionieren: Plötzlich ist das Unpopuläre wieder superpopulär.

Welches Verhältnis haben Sie zu Michel Foucault gepflegt?
Mit ihm habe ich – kurz vor seinem Tod im Jahr 1984 – vier oder fünf Mal in Paris zu Mittag gegessen, wo es um sein Projekt eines europäischen intellektuellen «Frühwarnsystems» ging. Er suchte junge Profs, die ausgezeichnete Arbeiten von Studenten über Verlage wie Gallimard, Suhrkamp, Einaudi schnell – und eben europaweit – bekannt machen sollten. Er traute mir zu, diese Rolle für Deutschland zu spielen.

Wiederum: Das Leben ist ein Geben und Nehmen. Was bleibt von Foucault?
Kein Historiker des 20. Jahrhunderts hat mehr Impulse zur Veränderung in unserem Verhältnis zur Vergangenheit gegeben als Foucault. Als Philosophen allerdings halte ich ihn für eher epigonal – was ja durchaus keine Schande ist. Anders gesagt: Er nutzte epistemologische Rahmen und philosophische Begriffe, um seine Projekte als Historiker zu ermöglichen. Für das Selbstverständnis der Geisteswissenschaft ist nie ein wichtigeres Buch geschrieben worden als «Die Ordnung der Dinge» im Jahr 1966.

Wie standen Sie zu François Lyotard, dessen Werk jüngst etwas verblasste?
Er war für mich der Wichtigste von allen. Sein vierwöchiges Seminar in Siegen, fünf Tage pro Woche, manchmal über den ganzen Nachmittag, war ein unvergessliches Ereignis – für mich und wohl auch für François Lyotard selbst, der darüber einen kleinen Aufsatz unter dem Titel «Ersiegerungen» geschrieben hat. Ich habe nie einen Intellektuellen gesehen wie ihn: Klassiker wurden geradezu zur Energiequelle für sein eigenes Denken, das war unglaublich. Sein ganz grosses und dennoch bis heute unterschätztes Buch ist «Der Widerstreit», in dem es um unser existenzielles Verhältnis zu Problemen geht, für die wir keine Lösung finden.

Im Jahr 1989 haben Sie nach Stanford gewechselt. Sie sind also emigriert, und zwar in jenes Land, das Sie in den 1960er und 1970er Jahren bestimmt noch verachtet hatten. Was hatte sich in den letzten zwanzig Jahren mental und intellektuell im Kopf des Hochkulturprofessors verändert, dass er sich freudig dazu bereit erklärte, ins Land der angeblichen Kulturbanausen zu ziehen?
Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich bin, dann habe ich die Vereinigten Staaten nie wirklich verachtet. Die Kindheitserinnerungen an die GI mit den Coke-Bottles waren immer da. Und ich liebe die USA mit und wegen all der Phänomene, über die sich die guten Europäer so gern aufregen. Beweist nicht das Silicon Valley, dass wir weiterhin – und vielleicht mehr denn je – das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind? Sogar Donald Trump ist wahrscheinlich eine Horrorversion von unbegrenzter Möglichkeit.

Es gibt fast schon eine eigene Tradition der Amerika-Entdeckung europäischer Intellektueller, von Tocqueville über Weber bis hin zu Foucault, Baudrillard und Derrida. Wie würden Sie sich in diesem Traditionsstrang verorten – wie verlief Ihre Entdeckung?
Ich glaube, es war in der Tat die kindliche Begeisterung aus den 1950er Jahren, die mich zusammen mit der Begeisterung für die grossen amerikanischen Universitäten – vor allem nach zwei Gastprofessuren in Berkeley 1980 und 1983 – nach Amerika getragen hat. Die Entdeckung und Kritik Amerikas durch europäische Intellektuelle im 20. Jahrhundert – und da schliesse ich Tocqueville natürlich aus – kam mir immer wie an den Haaren herbeigezogen vor, spätkolonialistisch, von Ressentiment und Neid getrieben. Natürlich gibt es immer einige Highlights – so Baudrillards Beschreibung des Fahrstils auf amerikanischen Freeways. Aber das allermeiste ist europäischer Intellektuellen-Provinzialismus.

Sehr schön gesagt! In Stanford sind Sie auf die Unterscheidung zwischen Techy und Fuzzy gestossen. Und Techies waren irgendwie cooler. Sie waren also als Fuzzy gleich unter Rechtfertigungszwang. Wie sind Sie damit umgegangen?
Das ist ein wildes Gerücht – ich habe nie das Gefühl gehabt, dass irgendein Student oder irgendein Kollege in Stanford ein Problem mit den Fuzzies hatte. Dass sich mehr der begabtesten jungen Leute im Jahr 2018 für Computer-Science oder Symbolic Systems interessieren als für Germanistik oder Musikgeschichte, scheint mir durchaus nachvollziehbar. Vielleicht sind die Engineering-Departments ja der Ort, wo Hegels Weltgeist heute zu Hause ist.

Sie sind in Stanford mit einem Jeep unterwegs, wie ein richtiger Yankee. Was hat es mit dem Fahrzeug auf sich?
Lyotard, der einmal beim Aussteigen aus meinem Auto platt auf die Erde fiel, hat schon mal dieselbe Frage gestellt: «De quoi te punis-tu avec cette voiture?» Die richtige Antwort geht in eine ganz andere Richtung: Ich fahre das Auto zur Ehre der Väter meiner Würzburger Klassenkameraden, die uns neben Coke und Kaugummi auch Powered Milk in den Pausenhof brachten. Sie machten mich zu einem Produkt der amerikanischen Re-Education, und das ist wohl die Grundlage meines lebendigen Glücks.

Das Interview ist ein Auszug aus einem autobiografischen Gespräch, das abgedruckt ist im demnächst erscheinenden Buch: Hans Ulrich Gumbrecht: Der Weltgeist im Silicon Valley – Leben und Denken im Zukunftsmodus. NZZ Libro, Zürich 2018. 237 S., 32.90 Fr.


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