Hans Ulrich Gumbrecht steht auf, wenn andere noch tief schlafen, er
schreibt stets an mehreren Publikationen gleichzeitig, und er sucht auch nach
seiner Emeritierung in Stanford nach dem intensiven Leben. René Scheu hat mit
dem deutsch-amerikanischen Intellektuellen über späte Träume und frühe Traumata
gesprochen.
Unerschrocken: der Romanist und Philosoph Hans Ulricht Gumbrecht, Bild: Christoph Ruckstuhl
"Ich arbeite so viel, dass es mir gelingt, wirklich Begabte aus dem Feld zu schlagen, NZZ, 22.9. von René Scheu
Herr Gumbrecht, waren Sie ein intellektuell
frühreifes Kind – oder haben Sie Bücher erst einmal kaum interessiert?
Frühreif? Schön wär’s. Im Gegenteil, nach einigen Wochen der ersten
Grundschulklasse bestellte die Lehrerin meine Eltern ein, um über eine
Verschiebung in jene Institution zu reden, die man damals Hilfsschule nannte.
Ich schaffte im Schreibunterricht nämlich nicht den Übergang von den vertikalen
Strichen zum grossen L als erstem wirklichem Buchstaben. Was meine Eltern der
beflissenen Frau Fruh, der Lehrerin, versprachen, weiss ich nicht. Doch
irgendwann, viel später als die anderen Kinder, begann ich auch zu schreiben,
ein Jahr danach waren die Noten beinahe gut – und in den letzten Jahren des
Gymnasiums sogar exzellent. Aber die Schule und das Lernen sind Prozesse der
Anstrengung und des Traumas für mich geblieben.
Sie stapeln tief. Sie kokettieren! Es fällt mir
schwer, zu glauben, dass Sie schwer von Begriff waren. Wenn nicht frühreif –
waren Sie dann ein Spätstarter?
Das kann man so auch nicht sagen. Die beflissenen Lehrer damals
wiederholten stets dasselbe Mantra, das meine Eltern mir nicht vorenthielten:
Hans Ulrich ist nicht begabt, aber er ist sehr fleissig.
War dies Ihr Trauma?
Absolut. Ich habe mir diese Fremdeinschätzung schon früh zu eigen
gemacht. Ich war überzeugt: Ich muss mir den Erfolg hart erarbeiten. Und diese
Grundstimmung hält bis heute an, ich habe sie, wenn ich so sagen darf, nie
überwunden. Und ich will sie auch gar nicht überwinden. Einen Tag nicht zu
arbeiten, ist völlig undenkbar. Das Wort «nachlassen» stellt für mich ein Tabu
dar, das weiss am besten meine Frau – nachlassen gibt’s nicht. Da verstehe ich
keinen Spass.
Sie waren seit Ihren frühen Jahren kompensatorisch
unterwegs: Sie wollten über Fleiss erreichen, was andere nicht einmal durch
ihre Begabung zustande brachten.
Genau das ist mein Muster: Ich arbeite so viel, dass es mir gelingt, die
wirklich Begabten aus dem Feld zu schlagen.
Welches Verhältnis pflegten Sie zu Büchern: Wie gut
und womit war die Bibliothek Ihrer Eltern bestückt?
Meine Eltern waren beide die ersten Universitätsstudenten in ihren
Familien – und hatten als Mediziner kaum Interesse an Büchern. Auf den Regalen
standen ein Herder-Lexikon, Staatsexamensgeschenk für meine Mutter, und eine
Schiller-Gesamtausgabe, Abiturgeschenk. Daneben standen, prominenter, die
Bücher aus der Zeit des Medizinstudiums. Wenn ich alleine zu Hause war, las ich
eifrig in Molls «Handbuch des Sexuallehre». Vor allem die Zeichnung einer
nackten «Kaukasierin» hatte es mir angetan.
Aha. Also waren Sie irgendwie doch frühreif. Welche
Erzählungen haben Sie zuerst gelesen – ich vermute: die Geschichten von Karl
May?
Ja, Karl May. So gehörte es sich damals. Aber es ging vor allem darum,
Rekorde zu brechen, mehr Karl-May-Bände gelesen zu haben als meine
Schulkameraden, wie es damals hiess.
Ich tat mich immer wahnsinnig schwer mit Karl May.
Was kam danach an gehobener Literatur an die Reihe?
Als ich 14 war, richtete mir mein Vater ein Konto bei einer örtlichen
Buchhandlung ein, 20 Mark pro Monat. Ich kaufte Heinrich Böll, Gerd Gaiser,
Günter Eich – und dann stiess ich auf die «Blechtrommel» von Grass. Es war das
erste literarische Buch, das ich mit Begeisterung las. Aber ich war nie der
passionierte Leser, als den man sich einen späteren Literaturwissenschafter
vorstellt – auch wenn es mir gelang, mich so zu stilisieren.
Wollten Sie durch Ihre Gelehrtheit damals Mädchen
beeindrucken?
Ich war nie ein guter Sportler, was ich gern gewesen wäre, und also
musste ich mir etwas einfallen lassen. Gelehrtheit fand ich eher abstossend,
ich wollte vielmehr ein moderner Intellektueller sein, cool, stets klug, ein
wenig exzentrisch, mit Jackett und schräger Krawatte. Sagen wir es so: Die
Nummer mit der Intellektualität funktionierte nicht schlecht.
Wann folgten die französische und die englische
Literatur?
Graham Greene gefiel mir – vor allem wegen der verhaltenen erotischen
Szenen. Französische Literatur – das begann mit einer kurzen Reise nach Paris,
als ich 16 war. Ich war begeistert von allem, was französisch war, auch von
Jean-Paul Sartre, weil ich mir kein deutsches Äquivalent zu ihm – und schon gar
nicht zur Stadt Paris – vorstellen konnte.
Sartre, echt? Er schrieb – vor allem im
fortgeschrittenen Alter – schwer verständliche Bücher, er war ungepflegt und
sah schlecht aus.
Alles korrekt – aber Sartre war eben nonkonformistisch, exotisch,
kommunistisch. Und kommunistisch war damals richtig cool – wenn ich das heute
so sagen darf. Denn Kommunist zu sein, war in der alten Bundesrepublik
Deutschland viel anrüchiger, als Altnazi zu sein. Das scheint heute
unvorstellbar, aber so war’s. Sartre scherte sich derweil keinen Deut um
irgendwelche Korrektheiten, er war einfach Sartre. Das faszinierte mich
ungemein.
Hand aufs Herz, nun kommt die Gretchenfrage: Wie
gut waren Sie in Mathematik?
Sehr, sehr schlecht – ich habe zwar auch in dem Fach am Ende eine
Abitur-Eins geschafft, aber nur, weil ich Lösungsschritte auswendig gelernt
hatte. Mich selbst habe ich nie überzeugt – bis heute werde ich von einem
Albtraum heimgesucht, in dem ein Komitee des Bayerischen Kultusministeriums
nach Stanford kommt, um zu überprüfen, ob es in meinem Mathe-Abitur mit rechten
Dingen zugegangen sei. Und ich falle jedes Mal durch, mit der unvermeidlichen
Konsequenz, dass ich – ohne Hochschulreife – auch meinen Lehrstuhl verliere.
Sie waren Mitglied des Sozialistischen Deutschen
Studentenbundes und gingen im Schicksalsjahr 1968 auf die Strasse. Welches
Verhältnis hatten Sie damals, in den wilden Jahren, zu den USA? Oder anders
gefragt: Hätten Sie sich vorstellen können, jemals Amerikaner zu werden?
Natürlich war ich offiziell ganz und gar antiamerikanisch – siehe die
gefährlichen Steinwürfe aufs amerikanische Konsulat. Heimlich aber hatte ich
immer eine Sympathie, die aus meiner Kindheit «unter amerikanischer Besatzung»
kam. Etwa die Hälfte meiner Schulkameraden aus der Klasse von Frau Fruh hatten
GIs als Väter, die in der Pause auf ihren Jeeps zum Schulhof kamen, uns
Coca-Cola und Kaugummi mitbrachten, einen Basketballkorb schenkten und wirklich
tolle Uniformen anhatten. Vor allem waren die meisten von ihnen schwarz.
Wie stand es um Ihren Antikapitalismus? Um Ihre
Solidarität mit den unterdrückten Völkern dieser Welt? Um Ihre Begeisterung für
Kuba und China?
Offiziell und explizit lag alles auf der orthodoxen Linie. Ich glaube
aber, dass meine sozialen Gefühle anderswoher kamen. Als ich 14 war, verkündete
mein Vater, ich müsse nun jeden Sommer – allein – auf einem anderen Kontinent
verbringen. Und was blieb mir übrig: Kanada und die USA im ersten Jahr, dann
Ghana, Togo und Nigeria, danach Indien und Pakistan, dann Brasilien und Peru,
schliesslich Thailand und Japan. In einem politischen Sinn – oder soll ich
sagen «ethischen» Sinn? Ich hasse dieses Wort wirklich – hat mich vor allem
Indien beeinflusst. Es war und ist immer noch ganz unerträglich für mich zu
erleben, unter welch extremen Bedingungen von Armut Menschen leben und
überleben können.
Was vermuteten Sie damals hinter dem eisernen
Vorhang – das kommunistische Paradies? Oder wenigstens einen kleinen Umweg auf
dem Marsch dahin?
Es gehörte in meiner Generation zum Programm aller westdeutschen
Gymnasien, in der Unterprima eine – sehr ideologisch geplante und vom Staat
finanzierte – Reise nach Berlin zu unternehmen, zu der ein Tag auf der
DDR-Seite der Stadt gehörte. Dieser eine Tag hat all meine aufkeimenden
Illusionen sehr früh ausgetrocknet – obwohl ich genau das Gegenteil sagte, für
mindestens ein Jahrzehnt, und das Gegenteil auch in ein in der DDR ausliegendes
Gästebuch schrieb.
Wie war Ihr Verhältnis zur «Frankfurter Schule»,
also zu Horkheimer, zu Adorno und zu Habermas? Waren Sie der damals
verbreiteten Meinung, dass die traumatisierte Gesellschaft an der
Sozialdemokratie genesen musste?
Mit «Dialektik der Aufklärung» gewann mein Ekel vor der
Nazivergangenheit eine intellektuelle Form – deshalb war dieses Buch
intellektuell und existenziell sehr wichtig für mich. «Erkenntnis und
Interesse» des jungen Jürgen Habermas hat mich erstmals zum
erkenntnisphilosophischen Nachdenken gebracht, einmal ganz abgesehen von seinem
wirklichen Klassiker über die Ko-Emergenz von Aufklärung und Öffentlichkeit –
während ich die Ästhetik von Adorno bis heute für die Ästhetik einer
grossbürgerlichen Elite halte, zu der ich – schon angesichts der bescheidenen
Bibliothek meiner Eltern – nicht gehören konnte.
Mit 26 wurden Sie Professor in Bochum. Der junge
Professor mit Jeans und T-Shirt auf der einen und junge langhaarige
Gammlerstudenten auf der anderen Seite – konnte das gut gehen?
Die Universität Bochum war eine sehr erfolgreiche Neugründung in einer
strukturschwachen Gegend von Westdeutschland. Sehr viele Studenten stammten
tatsächlich aus Arbeiterfamilien und reisten aus dem ganzen Ruhrgebiet im
Nahverkehr an, um Mietkosten zu sparen. Sie waren sehr motiviert – und
überliessen das Revolutionär-Sein dem jungen Prof im T-Shirt und mit
Angela-Davis-Frisur. Diese Studenten wollten fast ohne Ausnahme Studienrat
werden und waren deshalb interessiert an solidem Unterricht.
Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen
Professorenkollegen?
Ich versuchte in den ersten Monaten zu provozieren – einmal hatte ich in
einer Fakultätssitzung die Beine pseudoentspannt auf dem Tisch. Aber als
niemand reagierte, ging es mir dann wie mit den Bochumer Studenten: Ich wurde
ein ganz normaler – immer noch junger – Professor.
Hegten Sie damals den Traum, die akademische,
vielleicht gar die intellektuelle Welt auf den Kopf zu stellen?
Über Karrierestrategien habe ich, grosses Ehrenwort, bis heute noch
keine Sekunde nachgedacht – und nun, nach der Emeritierung, ist es wohl zu spät
dafür. Bochum, wo ich den «Schulterschluss mit dem Proletariat» erwartet hatte,
war eine heilsame Schule der Nüchternheit für mich. Wenn ich irgendwo «den
Beruf gelernt habe», dann sicher an der Ruhr-Universität.
Wie ich Sie kenne, konnte Ihr Ziel nur eines sein:
der grösste lebende Romanist zu werden.
Ich will immer der Grösste sein – und halte das für ganz natürlich.
Das sagen Sie wirklich ohne Ironie?
Eigentlich schon. Meinen Studenten habe ich in jeder Sprechstunde
gesagt, wenn sie mit ihren Seminararbeiten nicht Foucault überbieten wollen,
dann sollen sie gar nicht mit dem Schreiben anfangen, so unwahrscheinlich es
auch ist, dass ihnen das gelingt. Folglich bin ich heute – tatsächlich –
enttäuscht, nicht in die Liga von Plato und Kant, Nietzsche, Heidegger und
Wittgenstein aufgestiegen zu sein.
Und wo sehen Sie Ihre Position unter den
Romanisten?
Die Tradition der grossen Romanisten habe ich auch nicht fortgesetzt –
aber das hat wohl damit zu tun, dass dies nur in und aus Europa möglich gewesen
wäre. Romanistik, das sollte man nicht vergessen, war eine Erfindung deutscher
akademischer Intellektueller, die Probleme mit Deutschland hatten. Vielleicht –
aber es steht mir im Ernst nicht zu, das zu beurteilen – habe ich eine neue
Version des Romanist-Seins erfunden. Das sollte dann auf meinem Grabstein
stehen – einmal abgesehen davon, dass ich nicht mit einer Beerdigung rechne,
sondern hoffe, als in den Pazifik gestreute Asche wieder «Materie zu werden».
Wie haben sich Funktion, Bild und Rolle des
Intellektuellen in den letzten vierzig Jahren gewandelt?
Ihre Frage macht mir deutlich, dass ich vielleicht weniger pessimistisch
bin, als ich selbst erwartet hätte. Glücklicherweise gibt es ja heute keine
ernst zu nehmenden Intellektuellen mehr, die glauben, sie seien berufen, die
Menschheit in die Sonne der Aufklärung und des kollektiven Glücks zu führen.
Aber es gibt vielleicht Gründe zu der Vermutung, dass sie in einer anderen
Funktion und Rolle an Ansehen – und auch an finanziellem Marktwert – gewonnen
haben: nämlich als diejenigen, die unsere Erfahrung der Welt komplexer machen,
diejenigen, die anders denken, ohne dies unbedingt für revolutionär zu halten,
diejenigen vielleicht sogar, die dazu beitragen, dass die Lebendigkeit der
Menschheit am Leben bleibt.
Weg vom Buch, hin zum Essay, weg vom Werk, hin zur
Intervention? Weg vom Überparteiischen, hin zum begründet Parteiischen?
Halt, mein Hauptgrund zur Emeritierung war die Hoffnung, dass ich ohne
Lehre einen besseren Rhythmus zum Bücherschreiben finden kann. Und dann haben
Sie recht: «Intervention» eben im Sinn von Impulsen eines nicht
institutionalisierten Denkens.
Sie waren ja sehr Paris-affin. Welche angesagten
Intellektuellen haben Sie in Paris kennengelernt – Jacques Derrida zum
Beispiel?
Klar. Und Derridas Philosophie hat in meinem Kopf nie eine
aussergewöhnliche Resonanz ausgelöst, was natürlich keinesfalls gegen ihn oder
seine Bücher spricht. Immerhin bin ich davon ausgegangen, dass ein Denker, der
so viel in Bewegung setzt – wenigstens in der Gegenwart dieser Resonanz –, eine
besondere Bedeutung haben muss. Deswegen habe ich Derrida nach Siegen und
später mehrere Male nach Stanford geholt. Und wir waren uns, meine ich, auf
eine etwas distanzierte und fast überraschte Weise sympathisch. Davon ist auch
die Rede in der Derrida-Biografie von Benoît Peeters.
Genau. Da steht, dass sich Derrida trotz Ihrer
Bekanntschaft lange geziert habe, nach Stanford zu kommen – Sie mussten ihn
gleichsam bearbeiten, Peeters spricht leicht ironisch sogar von Belästigung. Wo
lag das Problem?
Es hatte einen Namen: René Girard. Girard war damals mein Kollege in
Stanford. Zuvor hatte er an der Johns Hopkins University gelehrt und 1966 ein
Symposium über Strukturalismus zu Ehren Jacques Lacans organisiert. An diesem
Symposium hatte auch der sehr junge Derrida teilgenommen, es war sein erster
wichtiger Auftritt in den USA, und er bestimmte die ganze kommende
Derrida-Mythologie: Derrida hielt ein glänzendes Referat, so dass alle sogleich
von diesem neuen Franzosen redeten – und Lacan, der ebenfalls teilnahm, war
plötzlich kein Thema mehr. Das kränkte Lacan so sehr, dass er beleidigt abreiste.
Girard hat das Derrida nie verziehen. Und Derrida wusste das. Deshalb waren
Girard und Derrida einander nicht gerade wohlgesinnt
Derrida trat auch lieber an Universitäten auf, die
mit der Dekonstruktion fraternisierten. Ich nehme mal an, dass dies in Stanford
nicht der Fall war.
Auch das stimmt, dennoch haben wir gut zusammengearbeitet. Derrida hatte
eine Aura, die Studenten suchten seine Nähe und standen auch Schlange. Auf mich
wirkte er wie der gepflegte Vertreter der zweiten Generation von Winzern: gut angezogen,
formvollendet in den Gesten, rücksichtsvoll, ein wenig umständlich, aber
zugleich doch zutraulich und sympathisch.
Derrida als Winzer: Das ist eine schöne
Vorstellung. Hat er sich denn an Partys gern betrunken?
Kaum, jedenfalls ist es mir nicht aufgefallen. Derrida hatte aber den
Ruf, Drogen zu konsumieren – wegen angeblichen Drogenhandels war er 1982 in
Prag festgenommen worden. Allein, ich habe meine Zweifel, und ich erzähle Ihnen
eine schöne Stanford-Anekdote. Die Studenten standen Schlange vor Derrida, und
die Hälfte von ihnen hatten Haschisch oder Kokain dabei, irgendetwas weiss
Schimmerndes in Papiertütchen. Sie überreichten ihre Gabe ehrfurchtsvoll,
Derrida nahm sie würdevoll entgegen. Als wir später mit meinem Jeep zu seinem
Hotel fuhren, öffnete er das Fenster und warf die ganze weisse Ladung weg. Auf
meine Frage, warum er das tat, lächelte er bloss – und sagte ironisch, er wolle
nicht wieder wegen Drogenbesitzes festgenommen werden. In Wahrheit illustrierte
er damit, dass er sich seiner Wirkung auf andere bewusst war und eine Art
Derrida-Mythologie ebenso bewusst pflegte.
Was bleibt von Derrida?
Ich habe nie eine Welle der Philosophie erlebt, die so schnell verebbt –
und gleichsam, wenn die Metapher nicht so schief wäre – vergilbt ist. Trotzdem
könnte sie eine Renaissance haben.
Warum?
Weil intellektuelle Moden eben so funktionieren: Plötzlich ist das
Unpopuläre wieder superpopulär.
Welches Verhältnis haben Sie zu Michel Foucault
gepflegt?
Mit ihm habe ich – kurz vor seinem Tod im Jahr 1984 – vier oder fünf Mal
in Paris zu Mittag gegessen, wo es um sein Projekt eines europäischen
intellektuellen «Frühwarnsystems» ging. Er suchte junge Profs, die
ausgezeichnete Arbeiten von Studenten über Verlage wie Gallimard, Suhrkamp,
Einaudi schnell – und eben europaweit – bekannt machen sollten. Er traute mir
zu, diese Rolle für Deutschland zu spielen.
Wiederum: Das Leben ist ein Geben und Nehmen. Was
bleibt von Foucault?
Kein Historiker des 20. Jahrhunderts hat mehr Impulse zur Veränderung in
unserem Verhältnis zur Vergangenheit gegeben als Foucault. Als Philosophen
allerdings halte ich ihn für eher epigonal – was ja durchaus keine Schande ist.
Anders gesagt: Er nutzte epistemologische Rahmen und philosophische Begriffe,
um seine Projekte als Historiker zu ermöglichen. Für das Selbstverständnis der
Geisteswissenschaft ist nie ein wichtigeres Buch geschrieben worden als «Die
Ordnung der Dinge» im Jahr 1966.
Wie standen Sie zu François Lyotard, dessen Werk
jüngst etwas verblasste?
Er war für mich der Wichtigste von allen. Sein vierwöchiges Seminar in
Siegen, fünf Tage pro Woche, manchmal über den ganzen Nachmittag, war ein
unvergessliches Ereignis – für mich und wohl auch für François Lyotard selbst,
der darüber einen kleinen Aufsatz unter dem Titel «Ersiegerungen» geschrieben
hat. Ich habe nie einen Intellektuellen gesehen wie ihn: Klassiker wurden
geradezu zur Energiequelle für sein eigenes Denken, das war unglaublich. Sein
ganz grosses und dennoch bis heute unterschätztes Buch ist «Der Widerstreit»,
in dem es um unser existenzielles Verhältnis zu Problemen geht, für die wir
keine Lösung finden.
Im Jahr 1989 haben Sie nach Stanford gewechselt.
Sie sind also emigriert, und zwar in jenes Land, das Sie in den 1960er und
1970er Jahren bestimmt noch verachtet hatten. Was hatte sich in den letzten
zwanzig Jahren mental und intellektuell im Kopf des Hochkulturprofessors
verändert, dass er sich freudig dazu bereit erklärte, ins Land der angeblichen
Kulturbanausen zu ziehen?
Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich bin, dann habe ich die Vereinigten
Staaten nie wirklich verachtet. Die Kindheitserinnerungen an die GI mit den
Coke-Bottles waren immer da. Und ich liebe die USA mit und wegen all der
Phänomene, über die sich die guten Europäer so gern aufregen. Beweist nicht das
Silicon Valley, dass wir weiterhin – und vielleicht mehr denn je – das Land der
unbegrenzten Möglichkeiten sind? Sogar Donald Trump ist wahrscheinlich eine
Horrorversion von unbegrenzter Möglichkeit.
Es gibt fast schon eine eigene Tradition der
Amerika-Entdeckung europäischer Intellektueller, von Tocqueville über Weber bis
hin zu Foucault, Baudrillard und Derrida. Wie würden Sie sich in diesem
Traditionsstrang verorten – wie verlief Ihre Entdeckung?
Ich glaube, es war in der Tat die kindliche Begeisterung aus den 1950er
Jahren, die mich zusammen mit der Begeisterung für die grossen amerikanischen
Universitäten – vor allem nach zwei Gastprofessuren in Berkeley 1980 und 1983 –
nach Amerika getragen hat. Die Entdeckung und Kritik Amerikas durch europäische
Intellektuelle im 20. Jahrhundert – und da schliesse ich Tocqueville natürlich
aus – kam mir immer wie an den Haaren herbeigezogen vor, spätkolonialistisch,
von Ressentiment und Neid getrieben. Natürlich gibt es immer einige Highlights
– so Baudrillards Beschreibung des Fahrstils auf amerikanischen Freeways. Aber
das allermeiste ist europäischer Intellektuellen-Provinzialismus.
Sehr schön gesagt! In Stanford sind Sie auf die
Unterscheidung zwischen Techy und Fuzzy gestossen. Und Techies waren irgendwie
cooler. Sie waren also als Fuzzy gleich unter Rechtfertigungszwang. Wie sind
Sie damit umgegangen?
Das ist ein wildes Gerücht – ich habe nie das Gefühl gehabt, dass
irgendein Student oder irgendein Kollege in Stanford ein Problem mit den
Fuzzies hatte. Dass sich mehr der begabtesten jungen Leute im Jahr 2018 für
Computer-Science oder Symbolic Systems interessieren als für Germanistik oder
Musikgeschichte, scheint mir durchaus nachvollziehbar. Vielleicht sind die
Engineering-Departments ja der Ort, wo Hegels Weltgeist heute zu Hause ist.
Sie sind in Stanford mit einem Jeep unterwegs, wie
ein richtiger Yankee. Was hat es mit dem Fahrzeug auf sich?
Lyotard, der einmal beim Aussteigen aus meinem Auto platt auf die Erde
fiel, hat schon mal dieselbe Frage gestellt: «De quoi te punis-tu avec cette
voiture?» Die richtige Antwort geht in eine ganz andere Richtung: Ich fahre das
Auto zur Ehre der Väter meiner Würzburger Klassenkameraden, die uns neben Coke
und Kaugummi auch Powered Milk in den Pausenhof brachten. Sie machten mich zu
einem Produkt der amerikanischen Re-Education, und das ist wohl die Grundlage
meines lebendigen Glücks.
Das Interview ist ein
Auszug aus einem autobiografischen Gespräch, das abgedruckt ist im demnächst
erscheinenden Buch: Hans Ulrich Gumbrecht: Der Weltgeist im Silicon Valley –
Leben und Denken im Zukunftsmodus. NZZ Libro, Zürich 2018. 237 S., 32.90 Fr.
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