Die Schaffung der öffentlichen Volksschule in der
Schweiz ist eine Leistung des 19. Jahrhunderts. Während die Schule bisher eine
Angelegenheit der Kirchen war, wird sie nun zur Sache des Staates, zur
Staatsschule. Obwohl die Schulhoheit mit wenigen Ausnahmen bei den Kantonen verbleibt,
bilden sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem auf der Volksschulstufe
einige Gemeinsamkeiten heraus. Die wichtigste unter ihnen ist der seit der
Totalrevision der Bundesverfassung 1874 für alle Kinder freie
Grundschulunterricht. Der Staat bestimmt nun die Schulzeit und die Lehrpläne;
er gründet neue Schultypen, baut Schulhäuser und ruft Lehrerbildungsanstalten
ins Leben.
Privatisierung - als Reform getarnt, St. Galler Tagblatt, 4.9. von Mario Andreotti
Dieses öffentliche Schulwesen ist heute von zwei
Seiten her bedroht. Zum einen drängen immer mehr private Anbieter in unser
Bildungssystem, die vorgeben, mit ihrem individualistischen Lehr- und
Erziehungsstil die Bildungsziele besser zu erreichen, vor allem den einzelnen
Schüler gezielter zu fördern als die öffentliche Schule, denen es aber nicht
zuletzt um ihren Profit geht. Darunter finden sich private Einrichtungen, die
als «freie demokratische Schulen» ohne Noten auskommen wollen, über Schulen,
die nach dem Lustprinzip unterrichten, wo die Kinder selber entscheiden, ob und
wann sie lernen, bis zu Schulen, die bestimmten ideellen Vereinigungen
nahestehen und in denen die Heranwachsenden mehr oder weniger gezielt
indoktriniert werden. «Aus dem staatlich geschützten öffentlichen Gut Bildung»
wird so zunehmend eine Ware gemacht, «die sich auf dem lukrativen privaten
Markt profitabel verkaufen lässt», wie Renate Caesar in ihrem Bericht «Die
heimliche Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens» zu Recht schreibt.
Das ist die eine, gleichsam die sichtbare Seite der
schleichenden Privatisierung unseres Schulwesens.
Es gibt daneben aber noch
eine zweite Form der Privatisierung, die weniger einsehbar und daher besonders
heimtückisch ist. Sie tarnt sich als Reform, so dass Eltern und selbst
Lehrkräfte sich im Glauben wiegen, es handle sich um notwendige Erneuerungen,
um einen pädagogischen Fortschritt im Dienste einer verbesserten Bildung. Dabei
geht es den Bildungsexperten, die mit vermeintlich wissenschaftlichen Studien
ihre akademische Existenz legitimieren müssen, nicht um einzelne Reformen in
Teilbereichen des Unterrichts, sondern im Grunde um etwas ganz anderes: nämlich
darum, die Schulen insgeheim so umzubauen, dass sie sich wie Unternehmen führen
lassen, scheinbar aber unter staatlicher Aufsicht bleiben. Das erklärt
weitgehend, warum heute der Staat Riesensummen in die Digitalisierung der
Schulen investiert, den Internetkonzernen Geld vor die Füsse wirft, so dass die
Computer zunehmend die Rolle der Lehrer übernehmen, die Lehrer selber zu
Lerncoaches herabgestuft werden und die Unterrichtszimmer zu Grossraumbüros
verkommen.
Das Ziel dieser verdeckten Privatisierung und
Kommerzialisierung der Bildung besteht nicht darin, Kinder zu ganzheitlichen
Persönlichkeiten, zu mündigen Bürgern in einer demokratischen Gesellschaft zu
erziehen, sondern sie vielmehr zu ökonomiekompatiblen Menschen zu formen. Dazu
dient die Einführung von Marktmechanismen wie «testing» und «ranking», das
heisst die Veröffentlichung von Testergebnissen, um Schulen anhand von
Ranglisten miteinander zu vergleichen. Der Druck der Konkurrenz führt dabei zu
einem veränderten Lehren und Lernen, zu einem «Teaching-to-the-test», einem
Unterrichten auf den Test hin. «Dadurch werden die Lernerfahrungen der Schüler
eingeengt, und der Lehrer wird gezwungen, vorfabriziertes Material mit
kontrollierter Geschwindigkeit zu benützen.» So Renate Caesar im bereits
genannten Bericht. Und was ebenso fatal ist: Komplexere Inhalte, die sich nur
schwer testen lassen, werden gar nicht mehr gelehrt. Schulische Bildung
reduziert sich so auf testbares Wissen, auf ein paar Kernkompetenzen. Echte
Bildung, die sich nicht nur an ökonomischen Interessen orientiert, sondern die
geistigen Fundamente unserer Kultur vermittelt, sieht anders aus.
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