Ein aktueller Bericht der grossrätlichen
Petitionskommission zeichnet ein ungutes Bild der Situation an den Schulen in
Basel-Stadt. Für diesen hat die Kommission nebst Vertretern des
Erziehungsdepartements (ED) auch den Präsidenten der Freiwilligen Schulsynode
(FSS), Jean-Michel Héritier, sowie dessen Stellvertreterin, Marianne Schwegler,
befragt. Was die beiden Lehrpersonen berichten, ist alarmierend. Behinderte
Kinder, etwa mit einer Trisomie 21, seien vergleichsweise wenig aufwendig zu
betreuen. Am anstrengendsten seien Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten. «Es
ist ein gesellschaftlicher Trend, dass zunehmend Kinder eingeschult werden, die
nicht schulbereit sind», sagt Héritier zur BaZ. Er meint damit, dass
grundsätzliche Fähigkeiten des Zusammenlebens fehlen – etwa Teamfähigkeit oder
die Bereitschaft, Anweisungen zu befolgen. «Kinder blockieren, machen nichts
und stören den Unterricht massiv.»
Die "Normalen" gehen unter, Basler Zeitung, 6.9. von Nina Jeker
Die
Gründe für diese Entwicklung seien vielfältig. Héritier nennt die «digitale
Demenz» – Kinder würden vor Bildschirmen geparkt anstatt, idealerweise zusammen
mit anderen Kindern, sinnvoll beschäftigt. Oft seien die Probleme bei Kindern
aus bildungsfernen Familien besonders gross. «Und Basel hat je nach Quartier
halt eine sehr hohe Quote an Sozialhilfeempfängern. Viele Schüler kommen aus
zerrütteten Familien.» Auch traumatisierte Kinder, etwa aus Heimen, würden
häufig in der Regelschule unterrichtet.
Konzentration
auf Problemfälle
Etwa
ein Fünftel aller Schüler sei vom Verhalten her sehr anspruchsvoll, schätzt
Héritier. Dazu kommen Fremdsprachige, Lernverzögerte und andere, die besondere
Aufmerksamkeit bräuchten. Und mittendrin sollen eben auch behinderte und stark
entwicklungsverzögerte Kinder adäquat unterrichtet werden. Für sie bekommen die
Lehrer zwar Ressourcen, das heisst beispielsweise, dass ein Heilpädagoge
einzelne Stunden in der Klasse verbringt, um das Kind mit Förderanspruch zu
betreuen. Während die sogenannten Integrationsklassen mit mehreren behinderten
Schülern hier gut aufgestellt sind, mangelt es aber bei den Regelklassen, in
denen ein bis zwei Kinder mit speziellem Bedarf sitzen, vielerorts an der
nötigen Unterstützung. «Da kommt dann vielleicht zwei Stunden ein Heilpädagoge.
Den Rest der Woche bin ich als Lehrer ohne entsprechende Ausbildung aber mit
dem behinderten Kind und der Klasse allein», sagt Héritier.
Dass
das ED nach aussen hin «oft so tue», als wären die grössten Hindernisse aus dem
Weg geräumt und als werde jedes Kind in der Regelklasse optimal gefördert,
ärgert viele Lehrer. Vor allem sorgt es auch für eine Anspruchshaltung seitens
der Eltern. «Was das ED da kommuniziert, bildet nicht die Realität ab», sagt
Héritier. Im Alltag sei es manchmal schwierig, den Eltern zu erklären, dass
nicht immer alles gelinge wie gewünscht. Aufhorchen lässt besonders ein Satz,
den Héritier und Schwegler im Bericht äussern: «Es ist zu befürchten, dass der
Fokus auf die vielen Kinder mit speziellen Bedürfnissen denjenigen auf die
‹normalen› Kinder, die schulbereit sind und sich auch in einer Gruppe anständig
verhalten können, verdeckt.» Im Schulalltag müsse man sich so sehr auf die
vielen «Problemfälle» konzentrieren, dass der Rest manchmal zu kurz komme.
«Herausforderung
des Berufs»
Die
Lehrer sollen also einerseits Behinderte fördern und Verhaltensauffällige
erziehen und andererseits die unauffälligen Schüler nicht vergessen. «Das ist
ein Spannungsfeld, das viele krank macht», ist Héritier überzeugt. Dies zeige
sich bei den Beratungen der FSS. Auch eine schweizweite Studie stellte fest,
dass jede dritte Lehrperson in der Schweiz an einem Burn-out zu erkranken
drohe. Héritier und seine Kolleginnen und Kollegen wollen die integrative
Schule nicht abschaffen. «Aber es muss sich bei der Umsetzung vieles ändern.»
Bereits im Mai hat die FSS 16 Punkte formuliert, wo sie Verbesserungen
verlangt. «Seit zwei Jahren reden wir, und getan hat sich fast nichts», sagt
Héritier. «Also es hat sich schon etwas getan. Aber vor allem in den Büros und
noch nicht in den Klassenzimmern.» Die erste Forderung der Liste lautet denn
auch: klarere und verkürzte Abläufe mit dem Ziel einer markanten Reduktion der
involvierten Dienststellen. Und Nummer zwei: weniger Konzeptpapiere. Ausserdem
verlangen die Lehrer unter anderem einen unkomplizierteren Zugang zu
Ressourcen, die Wiedereinführung von Einführungsklassen für nicht schulbereite
Kinder sowie Timeout-Angebote an jedem Schulhaus. Dass Störenfriede sofort aus
der Klasse herausgenommen werden können, anstatt den Unterricht lahmzulegen.
Beim
Erziehungsdepartement kennt man die Kritikpunkte der Lehrer. Dass
fälschlicherweise kommuniziert werde, die Umsetzung der integrativen Schule sei
abgeschlossen, weist Volksschulleiter Dieter Baur von sich. «Der strukturelle
Prozess ist mehrheitlich umgesetzt. Die inhaltliche Umsetzung wird aber nie
abgeschlossen sein, weil sich immer neue Herausforderungen ergeben.»
Baur,
der 40 Jahre lang Seklehrer war, räumt zwar ein, dass es durch
gesellschaftliche Veränderungen heute eventuell mehr verhaltensauffällige
Kinder gibt. «Aber messbar ist dies erstens nicht. Und zweitens gab es schon
immer die Gefahr, die Unauffälligen zu vernachlässigen. Das ist eine der
Herausforderungen des Lehrerberufs.» Man probiere wirklich, die integrative
Schule so gut wie möglich umzusetzen und bedarfsgerechte Lösungen zu finden.
«Sehr oft gelingt uns das. Manchmal aber auch nicht.»
Im
letzten Jahr sind 600 Anträge auf verstärkte Massnahmen beim ED eingegangen.
Nur in drei Fällen rekurrierten die Eltern. Zwei Rekurse wurden zurückgezogen,
einer abgewiesen. «So schlecht kann es also nicht laufen», sagt Baur. Konkrete
Änderungen sind derzeit denn auch keine geplant. Die Verteilung der Ressourcen
wolle man aber flexibler gestalten, damit die Lehrpersonen dann Zugriff auf
Unterstützung haben, wenn sie diese benötigen. Es sei aber fast unmöglich, alle
zufriedenzustellen, sagt Baur. «Jemandem ist ein Heilpädagoge zu wenig
Unterstützung, andere beklagen sich, es seien zu viele Spezialisten im
Schulzimmer.»
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