Silvia Stettler vom Verein Aaregäuer äussert sich
zu den Gefahren des Lehrplan 21 und weshalb Hausaufgaben zur Schule gehören.
Silvia Stettler ist Präsidentin des Vereins Aaregäuer Nachhilfe, Bild: zvg
Für Silvia Stettler ist klar: "Hausaufgaben gehören zur Schule", Oltner Tagblatt, 14.8. von Sarah Kunz
Nun ist es so weit: Ab Montag heute wird der
Lehrplan 21 im Kanton Solothurn an der Primarstufe integral eingeführt. Die zweite und die dritte Klasse der Sekundarstufe I folgen
aufbauend in den Jahren 2019/2020 und 2020/2021. Die Diskussionen bezüglich
Lehrplan 21 laufen schon seit geraumer Zeit. Vor allem die mögliche aber im
Kanton noch nicht beschlossene Abschaffung von Hausaufgaben gibt viel zu Reden.
Der Verein Aaregäuer mit Sitz in Wolfwil setzt sich
im Rahmen seiner regelmässigen Weiterbildung für Nachhilfelehrpersonen laufend
mit solch aktueller Bildungsthemen auseinander. Der Verein bietet
Einzelnachhilfe für Schüler und Nachhilfe für KV-Lernende in Firmen an. Mit
seinem Angebot will der Verein Schüler aus der Region individuell fördern und
unterstützen.
Silvia Stettler, Präsidentin des Vereins, gibt
Auskunft über die kontrovers geführte Debatte. Für die Abschaffung spricht
beispielsweise, dass lernschwächere Kinder stärker gefördert und betreut
werden. Doch was geschieht nach der Primarschule, wenn Schüler plötzlich mit
Bergen von Hausaufgaben konfrontiert werden?
Frau Stettler, wie lautet Ihre persönliche Meinung
zur Abschaffung von Hausaufgaben?
Silvia Stettler: Ich finde das überhaupt keine gute
Idee. Im Ansatz ist die Überlegung gut, die Eltern vermehrt zu entlasten und
zugleich den lernschwächeren Kindern und solchen mit weniger Unterstützung von
zu Hause aus stärker in der Schule zu fördern. Es braucht aber individuelle
Ansätze. In dieser Form, wie sie momentan diskutiert ist, finde ich die
Abschaffung nicht sinnvoll.
Welcher Grundgedanke steckt dahinter?
Wir Menschen sind nicht gleich. Wir haben nicht die
gleichen Voraussetzungen und somit auch nicht die gleichen Chancen. Nicht alle
haben zu Hause ein geeignetes Lernumfeld und bei Bedarf Unterstützung, um
Hausaufgaben bewältigen zu können. Der Stoff, den die Kinder in der Schule
behandeln, hat sich stark verändert. Dadurch sind viele Eltern überfordert,
ihren Kindern die nötige Unterstützung zu bieten. Das stellt wiederum Lehrer
vor grössere Herausforderungen. Die Lösung für dieses Dilemma scheint deshalb
darin zu bestehen, die Schule für den gesamten Lernprozess verantwortlich zu
machen. Somit hätten alle die gleichen Voraussetzungen für den Lernerfolg.
Was erhofft man sich denn davon?
Dass das Lernen vor allem in der Schule
stattfindet. Dadurch sollen vor allem die Eltern entlastet werden. Zudem soll
dies dazu führen, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben, und dank der
einheitlichen Förderung etwa das gleiche Niveau erreichen. Doch für mich stellt
sich die Frage, ob diese scheinbar logische Überlegung die Problematik der
Chancengleichheit effektiv löst.
Inwiefern?
Es gibt noch viele Baustellen. Man spricht von
Chancengleichheit, doch man will mit dieser Massnahme vor allem lernschwächere
oder benachteiligte Kinder ansprechen. Für die Lernstärkeren könnte die
Abschaffung von Hausaufgaben eine Niveausenkung zur Folge haben, weil diese
nicht mehr ihrem Niveau entsprechend gefördert werden. Wir sind der festen
Überzeugung, dass unterschiedliche Umfeld-Voraussetzungen, unterschiedliche
Begabungen und unterschiedliche Persönlichkeiten immer dazu führen werden, dass
sich das Lernverhalten stark unterscheidet. Gerade deshalb ist es wichtig, die
Schüler dort abholen zu können, wo sie gerade stehen. Gut wäre deshalb eine
Individualisierung der Hausaufgaben.
Was sind Ihre Befürchtungen?
Ich befürchte, dass es gewisse Schüler sehr
schwer haben könnten, wenn sie sich in der Sekundarschule dann plötzlich mit
Hausaufgaben konfrontiert sehen. Sie konnten nie lernen, selbstständig den
Schulstoff zu erarbeiten und sich auf eine Lernkontrolle vorzubereiten. Wenn
lernen nicht mehr gelernt und erfahren wird, werden entlang der
Bildungskarriere die Probleme immer grösser. Die Debatte um die Abschaffung von
Hausaufgaben wird nicht zu Ende geführt. Man muss auch an später denken.
Bis
jetzt haben Hausaufgaben immer zum Schulalltag gehört. Wieso soll jetzt ein
Umschwung erfolgen?
Das hängt natürlich mit der Einführung des
Lehrplan 21 zusammen. Bisher dienten die Hausaufgaben dazu, dass die Kinder
selbstständig ein Thema beziehungsweise den Schulstoff vertiefen, üben,
repetieren und sich auf Lernkontrollen vorbereiten.
Wie
sieht die Diskussion an den Thaler und Gäuer Schulen aus?
Grundsätzlich geht es ja jetzt um die
Umsetzung des Lehrplan 21. Jetzt in der Einführungsphase werden die
Diskussionen, so viel ich weiss, natürlich intensiviert. Der Lehrplan hat noch
sehr viele Baustellen, die jetzt während der Umsetzung angegangen werden
müssen. Da gibt es noch sehr viel zu diskutieren, die Schulen müssen sich jetzt
auch erst einmal an den neuen Lehrplan gewöhnen.
Was
halten Sie vom Lehrplan 21?
Ich finde ihn grundsätzlich gut und
notwendig. Wegen dem hohen Druck auf Kinder und Lehrpersonen braucht es eine
Veränderung. Aber spannend ist ja schon, dass überall in den verschiedenen
Kantonen die Umsetzung anders angegangen wird, obwohl der neue Lehrplan die
Schulen vereinheitlichen soll.
Wie
sollen die fehlenden Hausaufgaben kompensiert werden?
Heute ist der Lernprozess örtlich
aufgeteilt. Ein Teil des Übens und Vertiefens erfolgt ausserhalb der Schule
durch Hausaufgaben. Wenn nun dieser Teil wegfällt, stellt sich die Frage, soll
in Zukunft der gesamte Lernprozess im ordentlichen Schulunterricht erfolgen?
Dann müsste man zwingend die Lernstoffmenge verringern, was man bisher nicht
vorsieht. Oder muss die Schule ein neues Zusatzangebot schaffen, für
begleitetes individuelles Üben und Lernen? Unterschiedliche individuelle
Lerntempi müssen zwingend möglich sein. Dies bedeutet in der Konsequenz: Will
man Hausaufgaben abschaffen, muss ein neues Bildungsgefäss eingeführt werden.
Wie
könnte dieses aussehen?
Man könnte das schulische Angebot mit
spezifischem Learncoaching in themenbezogenen Niveaugruppen erweitern. In einem
neu angedachten Schulmodell könnten solche Ideen in einem Tagesschulangebot am
besten integriert werden. Auch personifizierte Hausaufgaben sind
erstrebenswert. In unserem Schulsystem kann das aber noch kein Thema sein. In
Thaler und Gäuer Schulen sind die Schülerzahlen pro Klasse relativ hoch. Es ist
für einen Lehrer unmöglich jedem Einzelnen individuelle Hausaufgaben zu geben,
die an das Niveau der Schüler angepasst sind. Das Erhöhen der Lektionenzahl
führt dazu, dass Kinder weniger zu Hause arbeiten müssten. Das halte ich für
einen sinnvollen Ansatz.
Wie
sehen Sie Ihre Aufgabe als Verein, wenn der Lernprozess der Kinder nur noch in
der Schule stattfinden soll?
Wir rechnen dann mit noch mehr Nachfragen,
weil gewisse Schüler noch mehr Lücken haben werden, den Anschluss verlieren und
innerhalb kurzer Zeit ungenügende Noten haben. Die Eltern reagieren dann,
unterstützen selber oder holen sich zusätzlich Hilfe. Sie wollen ja nur das
Beste für ihr Kind. Ob die Förderung in der Schule oder zu Hause erfolgt, ist
da nicht massgebend.
Und
was bedeutet das?
Unsere Aufgabe als Verein wird sogar noch
viel umfassender werden, wenn der Lernprozess vornehmlich in der Schule
stattfindet. Wir werden mehr gefordert sein, um vor allem Lerntechnik und
Lernmethodik zu vermitteln. Unsere Unterstützung besteht ja nicht darin, dass
unsere Nachhilfelehrer mit den Schülern und Jugendlichen Hausaufgaben
erledigen. Sie unterstützen beim Vertiefen der Fächer, Vorbereitungen auf
Lernkontrollen oder LAP-Prüfungen. Momentan haben wir 55 Nachhilfelehrer, das
ist ja bereits sehr viel. Aber wir sind ein sehr gutes Team.
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