8. Juli 2018

Vorurteile gegenüber Migrantenkindern

Eigentlich müssten sie es ja wissen, die Lehrerinnen und Lehrer: Ihre Einstellung gegenüber den Schülern hat einen grossen Einfluss auf deren Leistung. Umso wichtiger ist es, dass sie ihren Schützlingen möglichst unvoreingenommen gegenübertreten. Weder Geschlecht noch familiäres Umfeld noch Herkunft sollten den professionellen Umgang mit den Schülern beeinflussen.
Lehrer haben Vorurteile gegen Migrantenkinder, NZZaS, 8.7. von René Donzé


Doch das ist graue Theorie. «Die Förderung und Beurteilung von Kindern erfolgt leider nicht so neutral, wie sie sollte», sagt Markus Neuenschwander, Professor an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zu diesem Schluss kommt eine Forschungsgruppe unter seiner Leitung in einer Studie mit 75 Lehrern und 1100 Schülern, die den Titel «Scala» trägt. Ihre Erkenntnis: Pädagogen erwarten von Schülern mit Migrationshintergrund von vornherein schlechtere Leistungen als von einheimischen Kindern. Oder anders gesagt: Die Erwartungen an Migrantenkinder sind tiefer, als objektiv angezeigt wäre.

Besonders augenfällig war dieser Unterschied in der Mathematik, wo faktisch kein Leistungsunterschied zwischen Migrantenkindern und einheimischen Kindern bestand. «Dennoch lag auch hier die Leistungserwartung der Lehrpersonen massiv tiefer», sagt Neuenschwander. Im Fach Deutsch gibt es zwar objektiv unterschiedliche Leistungen von Migranten und Nichtmigranten, doch sind die Unterschiede in den Erwartungen der Lehrerinnen und Lehrer noch grösser. Das Fatale ist, dass diese tiefen Erwartungen zu tieferen Leistungen bei den Schülern führen. Auch das weist die neue Studie nach.
Fachleute sprechen vom Pygmalioneffekt. «Wer von einem Kind weniger erwartet, fördert und fordert es weniger», sagt Neuenschwander. Das kann für Migrantenkinder negative Folgen haben. Sie geraten in einen ­Teufelskreis. Vorurteile werden ­bestätigt. «Die Leistungsunterschiede zwischen Migranten und Nichtmigranten werden also im Verlauf einer Schulkarriere immer grösser», so der Professor.

Die Studie bestätigt Ergebnisse von anderen Untersuchungen im Ausland und die Erfahrung vieler Fachleute in der Schweiz. «Geringe Erwartungen führen zu ­geringen Leistungen», sagt Erziehungswissenschaftlerin Katharina Maag, die an der Universität Zürich zu solchen Themen forscht. Besonders ausgeprägt zeige sich das etwa beim Übertritt von der Primarschule an die Oberstufe. «Noch immer werden Kinder mit Migrationshintergrund weniger gut gefördert, weil man ihnen zum Beispiel das Gymi gar nicht zutraut», sagt sie.

Die Studie von Neuenschwander zeigt übrigens auch Vorurteile gegenüber Kindern aus bildungsfernen Familien auf. Und geschlechtsbedingte Stereotypen: Trotz gleich guten Testergebnissen wurden von Mädchen bessere Leistungen in Deutsch erwartet, von Knaben in Mathematik.

Beat Zemp, Präsident des ­Lehrerverbands Schweiz nimmt seine Kolleginnen und Kollegen in Schutz: «Erwartungen sind immer durch Erfahrungen geprägt, die sich im Verlauf der Zeit zu Stereotypen verdichten können», sagt er. Das gelte für Lehrer genauso wie für andere, etwa Journalisten oder Politiker. «Lehrpersonen sind nicht davor gefeit, negative Erwartungshal­tungen auf Schüler zu übertragen», sagt Zemp.

Für Neuenschwander ist klar: Dagegen muss man etwas unternehmen. Er hat eine Weiterbildung für Lehrer entworfen, bei der sie ihre Einstellungen gegenüber Migrantenkindern reflektieren und systematisch hinterfragen. «Den meisten ist ja gar nicht bewusst, dass sie Vorurteile haben.» Mit einer Begleitstudie konnte er aufzeigen, dass die Absolventen dieser Weiterbildung weniger voreingenommen waren und die Leistungen ad­äquater einschätzten.

Uniprofessorin Katharina Maag begrüsst solche Anstrengungen: «Die Lehrpersonen müssen sich verbessern», sagt sie. «Dazu braucht es Information, aber auch ein ständiges Hinterfragen der eigenen Haltung.» Und den regelmässigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Für Lehrerpräsident Zemp wäre es darüber hinaus wichtig, dass vermehrt auch Lehrer mit Migrationshintergrund in die Schulhäuser kämen. Noch ist ihr Anteil sehr gering. «Eine bessere Durchmi­schung der Schulteams würde die Erwartungshaltung der Kol­leginen und Kollegen positiv ­beeinflussen», sagt er.


1 Kommentar:

  1. Die Lehrer sind das nicht alleine. Auch der sich hartnäckig haltende, längst wissenschaftlich widerlegte, Glaube an die Vererbung von psychischen und kognitiven Eigenschaften führt dazu, dass man nicht jedem gute Leistungen zutraut. Auch der Lehrplan 21 schraubt mit seinen Minimalzielen (Zyklen) und dem selbstgesteuerten Lernen sowohl Anforderung und Förderung (Lehrer als blosse Lernbegleiter Coach) drastisch herunter. Das gilt auch immer wenn den Schülern Steine aus dem Weg geräumt werden, wie zum Beispiel mit der Basisschrift, die in den USA zu 23% erwachsenen Analphabeten geführt hat.

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