Seit
einiger Zeit ist viel von schulischer «Inklusion» oder «Integration» die Rede.5
Die Begriffe bedeuten, dass möglichst alle Kinder – ob normal begabt oder
geistig behindert, ob unauffällig oder verhaltensauffällig – zusammen
unterrichtet werden. Kleinklassen und Sonderschulen soll es kaum mehr geben.
Begründet wird die Schulreform damit, dass die Schüler auf diese Weise mehr
Sozialkompetenz lernen würden. Trifft das zu?
Inklusion - Fortschritt oder Rückschritt? Basel-Express, 21.6. von Judith Barben
Bis vor
einigen Jahren bestand in der Schweiz ein sorgfältig aufgebautes Kleinklassen- und
Sonderschulwesen. Kinder mit besonderem Förderbedarf wurden gezielt gefördert. Kleinklassen
gehörten zur Volkschule; die meisten wurden bereits abgeschafft. Die
Sonderschulen hingegen bestehen noch.
Integration als Ziel
Kleinklassen
gab es für verhaltensauffällige, lernschwache und fremdsprachige Kinder. Dank
der kleineren Schülerzahl und der zusätzlichen Unterstützung konnten Schüler
dort lernen, in einer Klassengemeinschaft zu bestehen. Da ihre Mitschüler
ähnliche Schwierigkeiten hatten wie sie, fühlten sie sich eher zugehörig und
dem Vergleich gewachsen. Lernfreude und ein gesunder Wetteifer konnten
entstehen. Kleinklassen für Fremdsprachige boten fremdsprachigen Schülern die
Gelegenheit, die Landessprache so gut zu lernen, dass sie später in eine
Regelklasse übertreten konnten.
Auch
für Kinder, die bei Schuleintritt noch nicht ganz schulreif waren, gab (und
gibt es teilweise noch) Kleinklassen, in denen der Stoff der ersten Klasse in
zwei Jahren gelernt wurde. So konnten Schulanfänger mit Entwicklungsdefiziten
die Inhalte der ersten Klasse so kleinschrittig und gründlich erlernen, dass
sie anschliessend gute Startbedingungen in der zweiten Regelklasse hatten. Das
Ziel aller Kleinklassen war es, die Schüler auf den Eintritt in eine
Regelklasse vorzubereiten.
In den
Sonderschulen hingegen werden Kinder und Jugendliche mit körperlichen
Beeinträchtigungen oder Sinnesschädigungen ihren Möglichkeiten gemäss gezielt
gefördert. So erhalten sie das Rüstzeug, um zukünftig ein möglichst
eigenständiges und sinnerfülltes Leben zu führen. Laut «Inklusion» sollen auch
diese Schulen längerfristig verschwinden.6
Ähnlicher Leistungsstand – mehr Lernerfolg
Das
beschriebene Schweizer Kleinklassen- und Sonderschulwesen hat sich sehr
bewährt. Seine Anfänge reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Davor gab es
weder Jahrgangsklassen noch Förderangebote für Schüler mit Beeinträchtigungen.
Alle Kinder sassen im gleichen Schulraum. Jedes arbeitete an etwas anderem,
Klassenunterricht gab es noch nicht.7
Doch
mit der Zeit erkannten die Pädagogen, dass sich das gemeinsame Lernen von
Schülern mit ähnlichem Leistungsstand günstig auf den Lernerfolg auswirkt.
Deshalb wurden Jahrgangsklassen gebildet. Im Jahr 1832 erliess der Kanton
Zürich ein Unterrichtsgesetz, das eine Schulpflicht in sechs aufeinander
folgenden Jahrgangsklassen vorschrieb.8
Schulen für Blinde und Gehörlose
Dank
privaten Initiativen wurden auch Schulen für Blinde und Gehörlose gegründet.
Blinde und stark sehbehinderte Kinder lernten dort die «Brailleschrift», eine reliefartige
Punktschrift, die heute die Weltschrift der Blinden ist.9
Gehörlosen
wurde die Gebärden- und Fingersprache beigebracht sowie ein Lautverfahren, mit
dem sie sprechen lernen konnten. Geistig behinderte Kinder hingegen wurden
lange überhaupt nicht geschult oder sie sassen in normalen Klassen mit den
anderen Schülern zusammen, ohne vom Unterricht zu profitieren. Dabei verloren
sie oft jedes Selbstvertrauen.
Jedes Kind gemäss seiner Eigenart fördern
Um
diese Situation zu verbessern, entwickelte man Lehrmittel und Lehrpläne für
lernschwache und geistig behinderte Kinder. Der Stoff wurde darin so einfach
und anschaulich wie möglich dargeboten. In Spezialschulen und Spezialklassen
wurde jedes Kind gemäss seinen individuellen Fähigkeiten und seiner
Belastbarkeit unterrichtet.
Anliegen der Heilpädagogik
Ein
Lehrbuch von 1925 bringt das Anliegen der Heilpädagogik wie folgt zum Ausdruck:
«Alle Kinder haben das gleiche Recht auf
Bildung. Die Gleichheit besteht in der gleichen Möglichkeit für jedes Kind,
innerhalb der obligatorischen Schulpflicht die seiner natürlichen
Leistungsfähigkeit entsprechende Ausbildung zu erhalten. Jedem Kinde, dem
schwachen wie dem starken, muss die seiner Eigenart gemässe Entwicklung und
Förderung zuteil werden. Ziel ist eine abgeschlossene Schulbildung, die zur
Grundlage für die weitere Erwerbung von Kenntnissen und Fertigkeiten dienen
kann.»10
Lernen auf Augenhöhe
Das
Prinzip, dass jedes Kind gemäss seiner natürlichen Leistungsfähigkeit und
Belastbarkeit unterrichtet wird, ist auch heute noch gültig. Dieses Prinzip
lässt sich auf jede Art des Unterrichts anwenden. So trainieren zum Beispiel im
Sport Mannschaften mit ähnlich starken Spielern. Auch in Sprachkursen wird zu
Beginn immer ein Eintrittstest gemacht, der darüber bestimmt, welcher
Niveaugruppe ein Teilnehmer zugewiesen wird. Denn vom gemeinsamen Unterricht
mit Teilnehmern auf ähnlichem Niveau profitieren alle am meisten. Jede
Lehrerin, jeder Lehrer weiss, dass Lernen am meisten Freude macht, wenn alle
Schüler einen ähnlichen Leistungsstand haben. Kinder, die immer erleben, dass
alle anderen besser sind als sie, werden mutlos und entwickeln ein negatives
Selbstbild. Nicht wenige beginnen, den Unterricht zu stören. Doch auch Schüler,
die den anderen weit voraus sind, verlieren die Freude am Lernen. Sie vermissen
echte Herausforderungen und langweilen sich. Nicht selten beginnen auch sie,
den Unterricht zu stören.
Je unterschiedlicher desto besser?
Umso
erstaunlicher ist es, dass mit dem «Lehrplan 21» sogar die Jahrgangsklassen und
der Kindergarten aufgelöst werden sollen. Ab vier Jahren wird laut «Lehrplan
21» in altersdurchmischten Gruppen gelernt, die mindestens drei bis vier
Jahrgänge umfassen.11 Gleichzeitig wird die «Inklusion» propagiert, und zudem
legen immer mehr Gemeinden die unterschiedlichen Oberstufen-Typen wie Sek A und
Sek B zusammen. So entsteht noch eine zusätzliche Typenvermischung auf der
Oberstufe.
Das
Ziel des «Lehrplan 21» scheint zu sein: je heterogener (unterschiedlicher),
desto besser. Warum aber wird unseren Kindern ein derart übertriebenes Mass an
Heterogenität zugemutet?
Um
Verschiedenartigkeit zu erzeugen, werden funktionierende Jahrgangsklassen
auseinandergerissen und Kleinklassen werden aufgelöst. Sodann werden die
Schüler in möglichst unterschiedlichen Gruppen neu zusammengewürfelt. Dass
dabei Aggressionen unter den Schülern erzeugt werden, liegt auf der Hand. Denn
lernfreudige und leistungsstarke Schüler ärgern sich über Störenfriede, die sie
ständig vom Lernen abhalten. Die Störenfriede wiederum stören den Unterricht
oft nur deshalb, weil sie stofflich nicht mitkommen. So werden mit der
willkürlichen Vermischung künstlich Konflikte zwischen den Schülern geschürt.
Inklusion senkt Leistungsniveau
Oft
wird behauptet, die «Inklusion» habe keine Leistungseinbussen zur Folge. Doch
eine Pilotstudie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich
beweist das Gegenteil. In der Studie wurden 27 «integrative Regelklassen» in
den Kantonen Zürich, St. Gallen und Schwyz untersucht.12 Die Befunde sind
vernichtend.
«Integrationsklassen
schneiden bei Leistungstests schlecht ab», titelte der «TagesAnzeiger».13
Unzufrieden waren auch die Lehrkräfte. Sie beklagten sich über prekärste
Bedingungen beim Umsetzen der «Inklusion». Heilpädagogen stünden ihnen nur für
gewisse Stunden zur Verfügung und zudem sei die Hälfte dieser Personen gar
nicht ausgebildet. Viele Gemeinden würden nämlich statt Heilpädagogen
«Schulassistenten» ohne jede pädagogische Ausbildung anstellen.14
Alarmiert
hat die Wissenschaftler, dass nicht nur die Schüler mit speziellem
Förderbedarf, sondern auch die normalen Regelschüler ohne speziellen
Förderbedarf – die grosse Mehrheit – bei den Leistungstests
unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielten. Die Pilotstudie belegt somit klar,
dass die «Inklusion» das Niveau der ganzen Klasse senkt.15
Im Würgegriff des Lehrplan 21
Der
emeritierte Psychologieprofessor Dr. phil. Gerhard Steiner von der Universität
Basel beurteilt die «Inklusion» äusserst kritisch. Er verfasste dazu den
Aufsatz «Im Würgegriff des Lehrplan 21». Darin zeigt er auf, dass der «Lehrplan
21» mit seiner erzwungenen Heterogenität einen grundlegend falschen Ansatz
verfolgt.16
Im
Gegensatz zum «Lehrplan 21» fordert Steiner eine «Ent-Heterogenisierung» der
Schulklassen. Nur so könne die Lernfähigkeit und Lernwilligkeit der Schüler
gestärkt werden. Lernen sei nämlich immer ein Integrieren von neuer Information
in vorhandenes Wissen. Je stärker das Vorwissen der Schüler in einer Klasse
übereinstimme, so Steiner, desto effizienter könne der Lernprozess gestaltet
werden. Eine möglichst grosse Gleichartigkeit der Klasse sei deshalb anzustreben.
Inklusion widerspricht jeder Vernunft
Ausserdem,
so betont Professor Steiner, weisen viele heutige Schulklassen schon ohne
künstliche Durchmischung eine derart grosse Heterogenität auf, dass ein
angemessener Unterricht kaum noch möglich ist. Deshalb widerspreche es jeder
Vernunft, künstlich noch mehr Heterogenität einzuschleusen. Unglaublich viel
kostbare Lernzeit werde damit verschwendet. Die extreme Unterschiedlichkeit
behindere den Fortschritt aller Schüler und erschwere eine erfolgversprechende
Klassenführung. Zusätzlich bringe die ständige Anwesenheit von Heilpädagogen
und «Klassenassistenten» sehr viel Unruhe in die Klassen, was nach Möglichkeit
vermieden werden sollte. Dem Argument, die Heterogenität durch die «Inklusion»
fördere die Sozialkompetenz, hält Steiner entgegen, dass schon die «normale»
Heterogenität ohne «Inklusion» genüge, um dieses Ziel zu erreichen.
Die Klassengemeinschaft stärken
Laut
Steiner sollte der Lehrer die Homogenität der Schulklasse fördern, indem er sie
bewusst zu einer «verschworenen Lerngemeinschaft» zusammenschmiedet. Dies habe
eine äusserst positive Wirkung auf die Motivation der Schüler. «Man muss von
diesem Prozess nur Gebrauch machen», unterstreicht der Professor und ergänzt:
«Die Klassengemeinschaft als erfolgreiche Lerngemeinschaft pflegen – das
schafft Homogenität auf vielen Ebenen.»
Steiners
Schlussfolgerung lautet: keine altersgemischten Klassen, keine Integration
lernbehinderter, stark verhaltensgestörter oder lernunwilliger Schüler in
Regelklassen, da alle vom Unterricht in ein- und derselben Klasse massiv zu
wenig profitieren. Die Klassengemeinschaft als erfolgreiche Lerngemeinschaft
sollte laut Steiner unbedingt gepflegt werden – in allen Schultypen. Das
schafft Ansporn, Lernmotivation, Gemeinschaftssinn und stärkt die Schüler für
das spätere Leben.
Keine Rechtsgrundlage
Als
Begründung der «Inklusion» wird oft die Bundesverfassung, Art. 8, 19 und 62
sowie die Uno-Behindertenrechtskonvention, Art. 24 erwähnt. Doch in diesen
Rechtsgrundlagen steht nichts dergleichen. Die Bundesverfassung garantiert,
dass kein Kind diskriminiert werden darf und Kinder mit Behinderungen eine
ausreichende Sonderschulung erhalten. Zur Uno-Behindertenrechtskonvention hält
das Bundesgericht fest· sie sei erfüllt, wenn das Wohl und die
Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes berücksichtigt würden.17 Somit liefern
diese Dokumente keine Begründung für die «Inklusion».
Widerstand leisten
Die von
oben verordnete Alters- und Typenvermischung stösst bei Eltern und Lehrern auf
heftigen Widerstand. Sie wollen sich die vernunftwidrige «Schulreform» nicht
gefallen lassen. Gemeinsames Vorgehen gegen die untauglichen Methoden ist
erfolgreich. So war der Widerstand der Eltern gegen die Altersdurchmischung in
der Zürcher Gemeinde Zumikon so stark, dass die Schulbehörden zu
Jahrgangsklassen zurückkehren mussten.18 Wenn weitere Elterngruppen, Schulen,
Gemeinden oder Kantone beginnen, Widerstand zu leisten, wirkt dies ansteckend.
So kann in der Schweiz eine Gegenbewegung gegen die unsinnigen antipädagogischen
Zwänge gemäss «Lehrplan 21» entstehen. Denn diese können nur «von unten», das
heisst von den Bürgern, aufgehoben werden.
Welche
Erfahrungen haben Sie, liebe Leserin und lieber Leser, mit der «Inklusion» und
der Altersdurchmischung gemacht? Welche Auswirkungen stellen Sie bei Ihren
Kindern fest?
Gerne
nehme ich Anregungen und Fragen zum Thema entgegen: judith.barben@gmx.ch
5 In
den Uno-Papieren werden die Begriffe «Inklusion» und «Integration»
gleichbedeutend verwendet «Inclusion» (englisch) wird dort mit «Integration»
(deutsch) übersetzt.
6
Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik Bern: Was sind die Unterschiede
zwischen Integration und Inklusion? © 2018
7
Klinke Willibald: Das Volksschulwesen des Kantons Zürich zur Zeit der Helvetik
(1798-1803). Zürich 1907
8
Erziehungsrat des Kantons Zürich (Hrsg.): Volksschule und Leh- rerbildung
1832-1932. Festschrift. Zürich 1933, Seite 136
9 Die
Brailleschrift wurde 1825 vom Franzosen Louis Braille erfunden.
10
Heller Theodor. Grundriss der Heilpädagogik. Leipzig 1925, Seiten 462f. (das
Zitat wurde leicht vereinfacht und gekürzt)
11
Lehrplan 21. Heft Überblick, S. 3
12 S. Altmeyer S. et al. Pilotstudie zur
Wirksamkeit sonderpädagogischer Massnahmen in integrativen Regelklassen.
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik. Zürich 2018
13 Integrationsklassen
schneiden bei Leistungstests schlecht ab. Tages-Anzeiger, 22.11.2017
14
A.a.O.
15
A.a.O.
16 Steiner
Gerhard: Im Würgegriff des Lehrplan 21. Uni Basel 2014
17
Bundesgerichtsurteil 2C_590/2014
18 Die
Schule Zumikon kehrt zu Jahrgangsklassen zurück. Neue Zürcher Zeitung,
24.8.2016
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen