Das moderne
Akademiewesen hat ein überspezialisiertes, aber lebensunfertiges
Diplomproletariat hervorgebracht. Von wem können junge Menschen heute noch
etwas lernen?
Bei Diplomübergabefeiern sitzt der Tod der Neugier auf der Ehrentribüne, NZZ, 26.6. von Milosz Matuschek
Es ist bekanntlich ein Kennzeichen freiheitlicher Gesellschaften, die
Entfaltung des Individuums in den Mittelpunkt zu stellen. Zugleich braucht es
nicht viel an Hellsichtigkeit, um schon allein am Beispiel unseres
Bildungssystems das Gegenteil dieses Ideals zu erkennen. In Demokratien, so
schon Alexis de Tocqueville, modelliert der Staat seinen Bürger. Er bricht
nicht dessen Willen, sondern «weicht ihn auf, faltet und leitet ihn» – heute
sagen wir dazu wohl «nudge». So verhindert man die Geburt der Individualität,
ohne den Menschen physisch zu zerstören.
Der Geist, der heute durch das Bildungssystem weht, ist der Geist der
«Akadämlichkeit». Das ist mehr als Antiintellektualismus oder Bildungsferne. Im
Kern ist es ein auf die Spitze getriebenes Wissenschaftsbeamtentum, ein
Euphemismus für erlernte Hilflosigkeit durch Ansammlung von Kreditpunkten und
«Kompetenzen». Die Begriffe verraten viel: Das französische Wort «formation»
deutet bereits auf Modellierung hin, die «Beschäftigungsfähigkeit» oder
«employability» zeigt die Orientierung an der Verwertbarkeit von
Bildungsinhalten. Der Akademiker von heute gleicht dem gentechnisch gepäppelten
Masthuhn: Das Gewicht stimmt, aber aufstehen können beide nicht mehr.
Man will Maturanden oder Absolventen heutzutage nicht beneiden. Auf
immer pompöseren Abschlussbällen feiern sie die Illusion, dass Diplome einen
«Abschluss» oder Zielpunkt verkörpern können. Bei Diplomübergabefeiern sitzt
der Tod der Neugier auf der Ehrentribüne. Welchen Wert haben denn Diplome, die
nicht nur inflationär vergeben werden, sondern die man mit der Erwartung
erwirbt, jetzt endlich «alles wieder vergessen zu können»? Gemessen werden
heutzutage mehr die Fähigkeit zu Unterordnung, zu Belohnungsverzicht und das
Durchhaltevermögen als das eigenständige Denken. Und niemand hat das vermutlich
besser erkannt als die Universität selbst, die sich ihre Absolventen gekonnt
mit immer prekäreren Arbeitsbedingungen vom Halse hält.
Der Gewinn des Wissens liegt in der Befähigung, ein Spiel mit
unendlicher Kombinationsfähigkeit zu erlernen, also elegant mit Ideen und
Konzepten zu jonglieren. Bildung als Form der Selbsterziehung ist der
Werkzeugkoffer der Lebenskunst. Diese Fähigkeit kultivieren die an den Rand gedrängten
Amateure oder Dilettanten, wortwörtlich also die Liebhaber, Tüftler und
Erfinder jenseits der Akademien. Sie strömen heutzutage zum Beispiel zu privat
organisierten Meet-ups, sie bilden sich mit Youtube-Videos fort oder zahlen
Geld für Konferenzen, um etwas über künstliche Intelligenz, IoT, Blockchain
oder Kryptowährungen zu erfahren. An den Universitäten dagegen wird schon
niemandem mehr erklärt, wie zum Beispiel das Geldsystem funktioniert.
Der nach zwei Psychologen benannte Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass
Inkompetenz es unmöglich macht, ebendiese zu erkennen. In einer
hochspezialisierten Welt voller fachlicher Exzellenz in immer engeren Nischen
entsteht eine neuartige Form von Inkompetenz: die Unfähigkeit zu Überblick und
Verknüpfung. Je tiefer man in die Erde bohrt, desto kleiner wird der Himmel
über einem. Der Mensch verschmilzt mit seiner Rolle, wird eindimensional; und
das nicht trotz, sondern oft gerade durch Brief und Siegel der Universitäten.
Wo ist hier bitte der Ausgang? Es gibt einen, doch der Schlüssel dazu
liegt in jedem selbst. Jede Generation kämpft für sich allein und stets gegen
den Kanon der Vorgängergeneration. Bei Mark
Twain klingt diese Erkenntnis so: «I have never let my schooling interfere with
my education.»
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen