8. Mai 2018

"Martialische Darbietungen sind Teil der türkischen Kultur"

Es sind befremdliche Szenen, die sich in der Mehrzweckhalle im thurgauischen Uttwil abspielen: Ein gutes Dutzend Schulkinder steht in Militäruniformen mit hölzernen Gewehren im Anschlag auf der Bühne und spielt Krieg. Im Hintergrund hört man das Rattern von Maschinengewehren. Umrahmt wird die morbide Szenerie von türkischen Flaggen und dem Konterfei von Staatsgründer Atatürk.
Die Mär vom *Erdogan-Kriegsspiel", Basler Zeitung, 8.5. von Serkan Abrecht


«Erdogan lässt Schweizer Schüler Krieg spielen», titelte derSonntagsblick am Wochenende. Dem Journalisten wurde ein kurzes Video der Kriegsspiele vom 25. März zugespielt. Die Aufführung sollte an die siegreiche Gallipoli-Schlacht von 1916 erinnern. Die Osmanen besiegten damals in den Dardanellen die Engländer, Australier und Neuseeländer. Das Theaterstück wurde vom Elternbeirat der türkischen Schule St. Gallen organisiert, und geprobt wurde die Aufführung im Rahmen des türkischen Unterrichts für «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK) – unterstützt durch die Regierung in Ankara. Für das HSK-Angebot arbeiten die Kantone deshalb mit der türkischen Botschaft zusammen. Das ist für den Journalisten des Boulevardblatts Grund genug, um den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan und die Regierungspartei AKP für das Spiel im Thurgau verantwortlich zu machen.
Unschuldige Reizfigur
Offenbar hat sich der Sonntagsblick jedoch nicht über die Hintergründe dieses makaberen Schulschauspiels schlau gemacht. Für den Journalisten schien von vornherein klar: türkischer Nationalismus gleich Erdogan. Der Sonntagsblick schreibt weiter: «Nationalistische Gedenkfeiern rund um die Gallipoli-Schlacht haben in der Türkei seit Jahren Tradition. Erdogan nutzt die Erinnerung an das Ereignis, um seine Grossmachtsfantasien zu befeuern.» Das ist falsch. Der türkische Präsident, der sein Land Schritt für Schritt in eine islamische Autokratie verwandelt, ist für Schweizer Journalisten zu Recht zur Reizfigur geworden. Doch dürfen ihm nicht alle – für uns unverständliche – türkisch-kulturellen Eigenarten in die Schuhe geschoben werden. Gedenkfeiern – besonders jene zur Gallipoli-Schlacht – haben seit Jahrzehnten, lange vor Erdogans Geburt, Tradition. Ebenso, dass türkische Kinder diese nachspielen.

Schon mein Vater (Jahrgang 1948) musste im Primarschulalter als osmanischer Soldat verkleidet den Krieg gegen das Commonwealth aufführen. Die Diaspora-Türken führen diese Tradition seit Generationen im Ausland weiter. Die Schlacht in den Dardanellen, eine der blutigsten des Ersten Weltkriegs, ist Teil der Erinnerungskultur und einer der Grundpfeiler des türkischen Nationalismus.

Das Osmanische Reich, kurz vor dem definitiven Zerfall, hat es vor 102 Jahren geschafft, den Einfall Grossbritanniens in sein Land zu verhindern. Angeführt wurden die Truppen von Mustafa Kemal Atatürk (Vater der Türken), dem späteren Gründer der türkischen Republik. Für die Türken gehört diese Schlacht deshalb zum nationalen Selbstverständnis. Ebenso wie für die Australier und die Neuseeländer: Der Krieg mit der Türkei gilt dort als nationales Volkstrauma, da die englische Krone Hunderttausende junge Australier und Neuseeländer fernab ihrer Heimat in einen Krieg gegen ein Volk entsandte, gegen das das Gros der Bevölkerung keine Feindschaft hegte. Deshalb ist der Anzac Day (Akronym für Australian and New Zealand Army Corps) dort der höchste nationale Feiertag. Für viele Australier gilt die Niederlage als Geburt ihrer Nation – so auch für viele Türken.
Ein Stück Erinnerungskultur
Die Schlacht symbolisiert den Widerstand, den die damaligen Türken um Atatürk der Entente entgegenbrachten, die die Türkei auf einen Bruchteil des heutigen Landes reduzieren wollte. Weil es sich bei der Türkei um einen Vielvölkerstaat handelte, dessen Stämme es zu vereinen galt, mystifizierte und glorifizierte Atatürk verschiedene historische Ereignisse zu Feiertagen des türkischen Nationalismus – so auch den Sieg über die Griechen im Befreiungskrieg (Schlacht von Dumlupinar) oder den Tag der nationalen Souveränität. Die Türkei definiert sich stark durch solche Schlachten und die Abschaffung des Sultanats. Dies ist eine Erinnerungskultur, die hauptsächlich von Atatürks sozialdemokratisch-republikanischer Partei CHP bewirtschaftet wurde. Die AKP hingegen behandelt diesen Gedenktag eher stiefmütterlich und gewichtet die islamischen Feiertage umso stärker – ganz im Sinne von Erdogans Islamisierung der säkularen Türkei.
Ähnliche Veranstaltungen wie in Uttwil werden von Diaspora-Türken seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt organisiert. Das ist weder neu, noch hat dies, wie es der Sonntagsblick behauptet, irgendetwas mit «der langen Hand des türkischen Staats» zu tun.


Auch ich halte es für unsinnig, kleine Kinder mit Spielzeugwaffen aufmarschieren zu lassen, um Krieg zu spielen – für die Türken ist dies jedoch normal. Und dass diese Veranstaltung im Rahmen des türkischen Unterrichts für «Heimatliche Sprache und Kultur» geschah, ist ebenfalls kein Skandal: Solche martialischen Darbietungen sind nun mal tatsächlich Teil der türkischen Kultur.

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