Remo
Largo, der 74-jährige Entwicklungsforscher und Autor von Bestsellern wie
«Babyjahre» und «Das passende Leben»,wird am Donnerstag in Chur über das Wesen
des Kindes und die Ansprüche der Gesellschaft sprechen. Dies tut er im Rahmen
der Veranstaltung «Wer bestimmt den Lernerfolg? Kind. Schule. Gesellschaft» des
Vereins Kulturkanton Graubünden. Im folgenden Interview äussert sich Largo zur
Initiative «Nur eine Fremdsprache in der Primarschule». Diese wurde dem
Stimmvolk kürzlich von der Bündner Regierung ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung
empfohlen. Käme es zu einer Annahme, würde in den romanischund
italienischsprachigen Regionen nur noch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet.
Englisch stünde in Deutschbünden auf dem Stundenplan.
"Schickt die Kinder lieber in ein Ferienlager im Misox", Südostschweiz, 10.4. von Madleina Barandun
Remo Largo, was halten
Sie davon, dass man in der Primarschule statt zwei nur noch eine Fremdsprache
lernen soll, wie dies die Fremdspracheninitiative will?
REMO LARGO: Wissen Sie,
der Widerstand gegen die Fremdsprachen kommt überall immer wieder hoch, derzeit
auch in Basel. Hier geht es um zwei Grundprobleme in unserem Bildungswesen. Ein
Problem ist, dass man die Beschlüsse zu Fremdsprachen und zum Lehrplan 21 ganz
weit oben fasst. Der Staat setzt sie um, obwohl die Bevölkerung oft gar nicht
einverstanden ist. Solche anonymen Entscheide sind undemokratisch. Weil niemand
hinsteht, Verantwortung übernimmt, und sagt: Aus diesen Gründen sind
Fremdsprachen in der Primarschule sinnvoll und effektiv.
Bringt das
Fremdsprachenlernen denn wirklich gar nichts?
Es gibt Studien, die sagen, es
bringe auf der Primarstufe gar nichts. Das zweite gravierende Problem,das mich
noch mehr aufbringt, ist, dass man den Kindern einen Unterricht aufzwingt, der
nicht kindgerecht ist.
Aber Kinder lernen Sprachen doch mit links.
Stimmt.
Zwischen einem und etwa zehn Jahren lernen Kinder eine Sprache, ohne dass man
sie ihnen beibringt. Sie werden mit der Fähigkeit geboren, sich die Sprache
anzueignen, mit der sie aufwachsen. Niemand geht hin und erklärt ihnen, wie man
konjugiert und dekliniert. Sämtliche Regeln von Grammatik und Satzbau erfassen
sie selbstständig.
Und was brauchen sie dazu?
Die Grundvoraussetzung ist, dass
Kinder die Sprache nicht nur hören, sondern auch erleben. Beim sogenannten
Immersionslernen geht Sprache hören immer mit Erfahrungen mit Personen,
Handlungen und Situationen einher. Wenn ein Kind aus Syrien in den Kindergarten
kommt, dann dauert es sechs bis zwölf Monate und es spricht perfekt
Schweizerdeutsch. Weil es die Sprache erlebt. Zweite Bedingung: Der Umgang mit
der Sprache muss mit einer gewissen Intensität geschehen. Unsere Kinder sind
Sprachgenies. Aber auch sie können in zwei Lektionen pro Woche keine Sprache
lernen.
Also am besten gar keine Frühfremdsprachen auf Primarstufe?
Wenn, dann
wirklich nur mit Immersionslernen. Die Sprache muss voll in den Alltag
eingebettet sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Brixen im Südtirol. Dort wird
eine Hälfte der Woche Deutsch, die andere Italienisch gesprochen. Die Kinder
sind nicht nur perfekt zweisprachig. Sie sprechen auch noch Ladinisch, ein
Idiom des Rätoromanischen. Vokabulare büffeln und die Regeln der Grammatik
auswendig lernen funktioniert erst in der Oberstufe. Und sogar da für viele
Schüler nur unbefriedigend.
Die Gegner der Fremdspracheninitiative fürchten ein
Ende des Sprachenfriedens. Sie haben Angst, dass sich die Südbündner und
Nordbündner nicht mehr verstehen können.
Eine berechtigte Sorge. Sind die
Erwachsenen aber auch wirklich sprachkompetent? Das ist doch scheinheilig. Ein
Vorschlag: Machen wir doch einmal eine Umfrage,wie gut Regierungsräte,
Grossräte und Bevölkerung die drei Kantonssprachen beherrschen.
Verschwenden
wir also mit Frühfremdsprachen Zeit und Geld?
Noch schlimmer. Wir tun so, als
ob die Kinder mit dem aktuellen Sprachunterricht sprachk ompetent würden. Ein
Mythos, den wir endlich loswerden sollten. Die Bündner sollten die Kinder
lieber in ein langes Ferienlager im Misox schicken, wenn sie wirklich eine
solche Integration betreiben wollen. Zusammen mit Italienisch sprechenden
Schülern und umgekehrt. Integration hat nicht nur mit Sprache, sondern auch
sehr viel mit Kultur zu tun.
Die Diskussion in Graubünden müsste sich also
nicht um die Anzahl Fremdsprachen, sondern eher, um den Unterricht drehen?
Genau. Grundsätzlich sind Kinder fähig, zwei oder drei Fremdsprachen zu
lernen, wenn die Sprache in den Alltag eingebunden ist.Im Idealfall sollte man
mit den Fremdsprachen bereits im Vorschulalter beginnen. Dann geht es gratis in
der Familie oder Krippe. Dazu braucht es sprachkompetente Erwachsene und vor
allem Erfahrungen mit anderen Kindern.
Was soll man anstelle von Sprachen
unterrichten? Mathematik oder technische Fächer, wie Unternehmer immer wieder
fordern?
Wissen Sie, das ist eine weitere politisch kontroverse Frage. Die
Forderung nach mehr Mathe, mehr technischen Fächern kommt von Politikern, die
sich an den momentanen Bedürfnissen der Wirtschaft orientieren.
Ist das so
verkehrt?
Ja. Woher wissen sie, wie viele IT-Fachleute und Techniker wir in 20
Jahren brauchen werden, wenn alles automatisiert ist? Es wäre weit sinnvoller,
die Schule so zu gestalten, dass die Kinder ihre individuell angelegten
Fähigkeiten entwickeln dürfen. So, dass sie am Ende der Schulzeit sagen können:
Ich bin fähig, mit meinen Stärken in der Gesellschaft zu bestehen. Ich kann mit
meinen Schwächen umgehen. Dabei geht es also nicht nur darum, was die Kinder lernen,
sondern auch wie. Ihr Selbstwertgefühl wird in der Schule gestärkt, statt durch
jahrelange Überforderung beschädigt.
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