Eine starke Volksschule steht und fällt mit starken Lehrerpersönlichkeiten, die den Klassenunterricht sowie ergänzende Lernformen souverän gestalten. Für ihre verantwortungsvolle Aufgabe braucht die Lehrerschaft eine praxisnahe Ausbildung und eine realistische Bildungspolitik.
Kapitäne oder Coachs, Starke Volksschule Zürich, 3.4. von Hanspeter Amstutz
Eine Lehrerin steht vor der Klasse und schildert die Situation, als Präsident Kennedy die Bilder der Raketenstellungen auf Kuba in seinem Büro erstmals zu Gesicht bekommt. Kennedy weiss, dass die USA vor einer riesigen Herausforderung stehen. Die Lehrerin erläutert die gefährliche Situation anhand von Powerpoint-Bildern und berichtet über die nächsten Schritte. Was sich im Oval-Office des Weissen Hauses und im Atlantik vor Kuba während zweier Wochen im Oktober 1962 alles abspielt, ist genau der Stoff, den Jugendliche fesselt. Die Pädagogin versteht es, die Klasse während einer halben Stunde in Atem zu halten. Sie verlangt Aufmerksamkeit, aber diese ist nicht erzwungen, weil echtes Leben im Unterricht Eingang findet und die Lehrerin dieses Interesse mit den Schülern teilt.
Gemeinsamer Klassenunterricht kann sehr attraktiv sein
Selbstverständlich ist nicht jede Lektion von so grosser Dramatik erfüllt wie die skizzierte Geschichtsstunde. Dennoch wird gemeinsamer Klassenunterricht nie langweilig sein, wenn wirklich zielorientiert gearbeitet wird. Eine gut strukturierte Übungsstunde im Deutsch über treffende Verben wird bei den Jugendlichen ebenso gut aufgenommen, wenn in sportlich-spielerischem Geist der Stoff vermittelt wird. Der Lehrer muss aber von allem Anfang an klarstellen, dass es bei dieser Stilübung um etwas Wesentliches geht und er die Mitarbeit von allen fordert. Dass dabei Fairness den ganzen Lernprozess prägt und die Schüler gemäss ihren Fähigkeiten im richtigen Moment zum Zug kommen, ist ein zentrales Merkmal eines erfolgreichen Klassenunterrichts.
Eine Lehrperson, die gerne mit der Klasse gemeinsam an einer Aufgabe arbeitet, ist mit ihrer ganzen Persönlichkeit gefordert. Es geht dabei nicht um ein aufgeblasenes Ego der Lehrperson. Das würde überhaupt nicht funktionieren, denn Jugendliche durchschauen unechte Autorität in kürzester Zeit. Vielmehr gilt es darum, mit Begeisterung, solider Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen einen schulischen Auftrag zu erfüllen. Doch ohne Erfolgserlebnisse läuft gar nichts. Die Schüler sollen erfahren, dass sie mit konzentriertem Arbeiten vorwärtskommen. Motivierend ist, wenn der Lehrer seine Freude am Erfolg der Schüler immer wieder zeigt, ganz besonders auch bei den Schwächeren.
Ergänzende Lernmethoden bieten einen andern Blickwickel
Selbstverständlich soll jeder Lehrer über ein ausreichend breites Repertoire von Lernmethoden verfügen. Gemeinsamer Klassenunterricht ist zwar das Band, das alles zusammenhält, aber ergänzende Lernformen haben durchaus ihren Platz in einer modernen Schule. Beim projektartigen Unterricht übt der Lehrer seine Rolle vorübergehend als Begleiter aus, indem er von den Schülern entworfene Vortragskonzepte bespricht und Tipps für die Umsetzung gibt. Das gibt einen ganz andern Blick auf die Fähigkeiten der Jugendlichen und schafft eine dialogische Lernbeziehung. Zudem schätzen es die Schüler, wenn passende methodische Abwechslung zum Schulalltag gehört.
Lehrerpersönlichkeiten schöpfen in Fachgebieten aus dem Vollen
Lehrpersonen sollen ihre Stärken voll in den Unterricht einbringen. Wer erinnert sich nicht an Lehrpersönlichkeiten, von denen das ganze Schulhaus wusste, dass sie in einem bestimmten Fach wirklich viel zu bieten hatten. So führte eine Lehrerin ihre Schüler immer wieder an Bäche und Weiher, um ihnen ihre Faszination für Amphibien mitzugeben. Wenn diese Lehrerin einen Molch in die Hand nahm und ihn fasziniert beschrieb, spürte jeder etwas vom Geheimnis der Natur.
Eine andere Lehrerin versteht es, mit ihren tollen Theateraufführungen jede Klasse zusammenzuschweissen. Bei einer dritten Lehrperson sind die Geografielektionen so lebendig, dass bei manchen Jugendlichen der Grundstein für das Interesse an fremden Völkern gelegt wird. Erstaunlich ist, dass diese fachlichen Koryphäen bei den Schülern den Funken der Begeisterung selbst dann entzünden können, wenn ihre Didaktik nicht dem neusten Stand entspricht.
Lerncoachs sind für die Hauptrolle wenig geeignet
Ist die Zeit der umsichtigen und engagierten Kapitäne, die eine Klasse auch durch stürmische Gewässer souverän steuern, vorbei? Muss eine Lehrerin nicht vielmehr in erster Linie in ein Schulteam mit starken sozialen Grundsätzen passen und ihren Unterricht im Sinne einer Lernbegleiterin gestalten? Im Trend sind Unterrichtskonzepte, die individualisiertes Lernen favorisieren und eine möglichst vielseitige Bildung versprechen. Mittelstufenschüler sollen nebeneinander drei Sprachen lernen, in die Welt der digitalen Technik eintauchen, sich in der Medienwelt auskennen und sich früh mit den Naturwissenschaften auseinandersetzen. Hand in Hand mit der unausweichlichen Digitalisierung des Unterrichts soll sich nach der Vorstellung mancher Erziehungswissenschafter die Rolle der Lehrpersonen hin zum Lerncoach verändern. Doch diese Aufgabe droht an den unerhört vielseitigen Ansprüchen an die Lerncoachs zu scheitern. Zwar hofft man, das umfangreiche Bildungsprogramm mit zusätzlichem Lehrpersonal besser bewältigen zu können. Doch die nötige Anzahl gut ausgebildeter Lehrpersonen für Stunden im Teamteaching oder für eine heilpädagogische Unterstützung ist nur in den seltensten Fällen vorhanden.
Lehrerpersönlichkeiten schaffen es, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren
Die Erwartungen an unsere moderne Volksschule sind gewaltig. Die Hoffnungen liegen zu einem grossen Teil bei der neuen Lehrergeneration. Diese soll die grossen Bildungsversprechungen einlösen. Wer will als junger Lehrer schon als verknöchert gelten, wenn er seine erste Stelle antritt? Ausgerüstet mit sehr viel neuen Ideen aus den Pädagogischen Hochschulen will man möglichst viel umsetzen, was als fortschrittlich gilt. Arbeit in Gruppen mit verschiedenen Themen, Training in Lernlandschaften mit anspruchsvollen Aufgabenposten, selbstorganisiertes Lernen in Form von Wochenplänen und digitales Training sollen den modernen Schulalltag prägen.
Engagierte Lehrpersonen setzen sich für die vollständige Integration aller Schüler in die Regelklassen ein oder wagen altersdurchmischtes Lernen. Dabei ist ihnen bewusst, dass die vielseitigen Anforderungen des neuen Lehrplans unbedingt erfüllt werden müssen. Von einer Konzentration auf Wesentliches ist kaum noch die Rede. Wer als Lehrerin oder Lehrer nicht über die Stärke verfügt, wünschbare Bildungsziele zurückzustellen und administrative Arbeiten auf ein Minimum zu beschränken, kommt ganz gewaltig unter Druck. Der Unterricht verkommt zum hastigen Durchnehmen von Schulstoff und reduziert so die Chancen für unvergessliche pädagogische Momente. Soll diese hektische Art des Lernens die künftige Lehrerrolle prägen?
Ohne verantwortungsbewusste Kapitäne geht es nicht
Die erneuerte Schule droht an den überzogenen Ansprüchen und an dogmatischen Vorstellungen über die Lehrerrolle zu scheitern. Die Politik reagiert auf die offensichtlichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung all der vielen Bildungsversprechungen mit immer neuen Forderungen nach zusätzlichen finanziellen Mitteln. Doch auf diese Weise wird das Übel nicht an der Wurzel angepackt. Dieses besteht im fehlenden Mut, den Lehrpersonen zuzugestehen, dass sie das Realisierbare vom Wünschbaren unterscheiden können.
Unsere Volksschule lebt nicht in erster Linie von tollen Projekten, sondern von der pragmatischen Vermittlung wesentlicher Bildungsziele. Für diese Aufgabe brauchen die Lehrpersonen genügend Zeit und viel Gestaltungsspielraum. Unsere Volksschule ist auf gut ausgebildete Lehrerpersönlichkeiten angewiesen, die als verantwortungsbewusste Kapitäne ihre Klassen führen können. Nur so wird es gelingen, die Volkschule für die Zukunft stark zu machen.
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