Kriens schafft ab dem nächsten
Schuljahr die Hausaufgaben ab. Diese seien wirkungslos und würden die
Chancenungleichheit fördern. Dies sieht Germanist und Didaktiker Mario Andreotti
anders.
Bildungsexperte zum Thema Hausaufgaben: "Chancengleichheit ist eine Utopie", Nidwaldner Zeitung, 19.3. von Susanne Balli
Als wohl erste Gemeinde der Zentralschweiz streicht die Volksschule
Kriens ab dem nächsten Schuljahr die klassischen Hausaufgaben in der
Primarschule. Stattdessen werden innerhalb des regulären Unterrichts sogenannte
Lernzeiten eingeführt, wo die Kinder die Möglichkeit haben, selbstständig
Aufgaben zu lösen. Mario Andreotti* (70),
Germanist, Historiker, Didaktiker und Dozent, sagt, was er davon hält.
Mario Andreotti, haben Sie als Schüler gerne
Hausaufgaben gemacht?
Sie werden staunen, aber ich habe diese ganz gerne
gemacht. Obwohl zu meiner Zeit bereits in der Primarschule die Hausaufgaben
wesentlich umfangreicher waren als heute. Man machte sie einfach, weil man
nichts anderes kannte. Und die Eltern standen auch dahinter.
Welchen pädagogischen Wert haben Hausaufgaben?
Durch das Erteilen und Erledigen von Hausaufgaben
werden verschiedene grundlegende Haltungen geschult. Schulung von
Selbstdisziplin, Pflichtbewusstsein, Durchhaltevermögen, Zeitmanagement,
selbstständiges Arbeiten, Fähigkeit, Probleme selbstständig zu lösen: Alles
Qualitäten, die später in Ausbildung und Beruf gerade im digitalen Zeitalter
sehr wichtig sind.
Seit wann erteilen Schulen Hausaufgaben?
Bereits im 15. Jahrhundert, mit der Entstehung der
ersten öffentlichen Schulen, werden Hausaufgaben in den Schulordnungen erwähnt.
Im 18. Jahrhundert gelten sie weitgehend als selbstverständlicher Teil des
Unterrichts. Mit der obligatorischen Schulpflicht finden sie Ende des 19.
Jahrhunderts Eingang in die kantonalen Schulgesetzgebungen.
Höchste Zeit also, den alten Zopf abzuschneiden?
«Altes» ist nicht per se schlecht, nur weil es in
die Jahre gekommen, zur Tradition geworden ist.
Die Volksschule Kriens macht genau das. Sie
streicht die Hausaufgaben und führt sogenannte Lernzeiten innerhalb des
regulären Unterrichts ein. Kann das funktionieren?
Was die Volksschule Kriens plant, haben einige
Schulen bereits umgesetzt. Statt Hausaufgaben gibt es spezielle Schulstunden,
in denen Übungsaufgaben aus allen Fächern erledigt werden können. Das hat
zugegebenermassen den Vorteil, dass vor allem schwächere Schüler bei
Schwierigkeiten die Unterstützung der Lehrperson in Anspruch nehmen können. Das
hat aber auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Diese «Lernzeiten» finden
ja während des regulären Unterrichts statt, sodass für die eigentliche
Vermittlung des Stoffes wesentlich weniger Zeit zur Verfügung steht. Entweder
wird Lehrstoff abgebaut oder die Lehrperson geht im Stoff schneller vorwärts.
Beides mindert den Lernerfolg.
Aber diverse Studien zeigen auf, dass Hausaufgaben
kaum eine positive Wirkung zeigen.
Die Gegner von Hausaufgaben sagen, gute Schüler
hätten diese nicht nötig, und schwache Schüler würden durch Hausaufgaben
demotiviert. Dies ist offenbar das Ergebnis von Studien. Eine Studie der
Technischen Universität Dresden soll gezeigt haben, dass Hausaufgaben keinen
nachweisbaren Einfluss auf die Schulnoten haben. Ich will diesen Studien nicht
von vornherein mangelnde Seriosität unterstellen. Aber es lässt sich mit Fug
und Recht fragen, in welchem Auftrag diese jeweils verfasst werden.
Sie stellen also die Unabhängigkeit der Studien in
Frage?
Richtig. Es gibt nämlich andere Studien, die genau
das Gegenteil sagen.
Aber Tatsache ist doch, Hausaufgaben mindern die
Chancengleichheit, weil ein Teil der Kinder Unterstützung erhält und der andere
nicht.
Seien wir ehrlich: Absolute Chancengleichheit in
der Schule ist eine Utopie. Lehrkräfte weisen zu Recht immer wieder darauf hin,
dass die Schüler ihre Hausaufgaben grundsätzlich ohne Hilfe machen sollen. Die
Eltern sollen dem Kind helfend zur Seite stehen, wenn es darum bittet, aber auf
keinen Fall die Probleme für das Kind lösen. Hausaufgaben sind primär eine
Angelegenheit zwischen der Lehrperson und dem Kind – und nicht zwischen dem
Kind und seinen Eltern.
Möglicherweise funktionieren Hausaufgaben im
heutigen integrativen System, wo leistungsstarke und -schwache Schüler in einer
Klasse sind, nicht mehr.
Das ist vor allem angesichts unserer heutigen
multikulturellen Gesellschaft tatsächlich ein gewisses Problem. Trotzdem kann
man Hausaufgaben nicht einfach weglassen. Man kann aber Lehrpersonen auch nicht
zumuten, jedem Kind individuelle Aufgaben zu geben. Darum sollte der Grundsatz
gelten: Alle Schüler, ob leistungsstark oder -schwach, sollten gleich viel Zeit
für ihre Aufgaben aufwenden. Dies kann durch ein Aufgabenangebot mit einem
fixen Zeitlimit oder durch ein Wahlangebot erreicht werden, bei dem die Schüler
selber bestimmen, welche Aufgaben sie lösen wollen und können und welche nicht.
Die Aufgaben können zudem einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad haben.
Aber es gibt auch sinnlose Hausaufgaben.
Hausaufgaben müssen sinnvoll sein; sonst schaffen
wir sie in der Tat lieber ab. Reine Übungsaufgaben sind, abgesehen von den
Fremdsprachefächern, eher zu vermeiden. Vorbereitende Aufgaben mit einem Bezug
zur Lebenswelt des Schülers sind vorzuziehen. Und wichtig ist: Hausaufgaben
sollen nicht einfach nur korrigiert zurückgegeben werden, sondern im Unterricht
aufgegriffen und weiterverwendet werden. Erst dann tragen sie wirklich zum
Lernprozess bei.
Und wie viele Hausaufgaben sind angemessen?
Es gibt dazu eine Faustregel: pro Schuljahr mal 10
Minuten. Das bedeutet für ein Kind in der 2. Klasse 20 Minuten, für ein solches
in der 5. Klasse 50 Minuten Hausaufgaben pro Tag.
Ein Teil der Eltern sagt, dass Hausaufgaben für
Familien Stress bedeutet. Viele Eltern finden es aber auch schlecht, wenn
Hausaufgaben abgeschafft werden. Wie erklären Sie diese Diskrepanz?
Einerseits müssen Konflikte um Hausaufgaben oft für
andere Familienkonflikte herhalten. Andererseits befürworten gerade Eltern
Hausaufgaben, wie das Beispiel von Schwyz gezeigt hat, wo vor allem die Eltern
1997 die Wiedereinführung der Hausaufgaben forderten, nachdem man sie nur vier
Jahre zuvor abgeschafft hatte. Die Eltern sind viel weniger
hausaufgabenkritisch als erwartet. Sie befürworten Hausaufgaben auch als eine
Art Kontrollinstrument, um zu wissen, wo ihr Kind steht.
Sie haben in unserer Zeitung kürzlich Josef Kraus,
Präsident des Deutschen Lehrerverbandes zitiert, die Abschaffung von
Hausaufgaben sei «ein Griff in die Klamottenkiste der Kuschelpädagogik».
Es geht mir in keiner Weise darum, einen
Generalverdacht gegen Lehrer zu initiieren. Aber ihr ewiges Jammern über die
angeblich so gestressten Schüler ärgert mich etwas. Wenn sich Schüler heute
gestresster fühlen als zu meiner Zeit, dann hängt das nicht primär mit der
Schule zusammen, sondern mit dem Riesenangebot an Freizeitbeschäftigungen, das
ihnen zur Verfügung steht. Dazu müssen sie erst noch den ganzen Tag online
sein. Dieser Stress wird dann einfach der Schule in die Schuhe geschoben. Also
soll die Schule zur «Wohlfühloase» werden, sollen vor allem Hausaufgaben, die zugegebenermassen
manchmal anstrengend sind, abgeschafft werden. Aber die Erfahrung zeigt: Wo
Schüler schulisch versagen, da versagen sie häufig deshalb, weil sie viel zu
viel anderes am Hals haben.
Wird es in 20 Jahren noch Hausaufgaben geben?
Es wird zwar zunehmend Schulen geben, die
Hausaufgaben abschaffen. Aber ich bin sicher, dass einige der Schulen sie
wieder einführen werden. Denn die allermeisten Fächer kommen ohne sie nicht
aus, weil für das Einüben und die Vertiefung eines neuen Lernstoffes die reguläre
Unterrichtszeit nicht ausreicht. Man denke etwa an das Auswendiglernen von
Vokabeln im Fremdsprachenunterricht. Ja, unsere Schüler werden auch in 20
Jahren noch Hausaufgaben machen und von deren Lerneffekt profitieren.
Hinweis
*Mario Andreotti studierte Germanistik, Geschichte und Didaktik des
höheren Lehramtes in Zürich. 1977 erwarb er das Diplom für das Höhere Lehramt
an Gymnasien. Er war unter anderem bis 2012 Hauptlehrer an der Kantonsschule am
Burggraben in St. Gallen und ist seit 1999 Lehrbeauftragter für Sprach- und
Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen. Daneben ist er Buchautor.
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