Für Lehrer ist der Kontakt zu Eltern
in den vergangenen Jahren belastender geworden. Einige versuchen bereits im
Kindergarten, auf die Bildung ihrer Kinder Einfluss zu nehmen.
Angriffe von allen Seiten: Wenn Eltern Lehrer belehren, St. Galler Tagblatt, 28.3. von Silvan Meile
Eine junge Lehrerin setzt einen Hilferuf ab: «Ich hatte letzte Woche den
Elternabend zum Thema Übertritt in die Sekundarstufe. Einige Eltern üben jetzt
Druck auf mich aus, damit ihr Kind in die Sek E kommt.» Die Lehrerin fühlt sich
von allen Seiten angegriffen, heisst es in einem Artikel im Schulblatt des
Kantons Thurgau: Ein Vater sagt, sein Sohn werde zu streng benotet. Eine Mutter
findet, ihre Tochter lerne nicht genug, weil sie zu wenig Hausaufgaben bekomme.
Und eine andere Mutter kritisiert, dass die Prüfungen zu spät angekündigt
werden. Der Lehrerin wird das zu viel. Sie wendet sich schliesslich an die
Schulberatung des kantonalen Amtes für Volksschule.
Professionalität der Lehrer wird in
Frage gestellt
Beim Lehrerverband Bildung Thurgau ist dieses Problem bekannt. «In den
vergangenen zehn bis zwanzig Jahren ist für Lehrpersonen die Elternarbeit sehr
belastend geworden», sagt Verbandspräsidentin Anne Varenne. «Ich vernehme aus
Lehrerkreisen immer wieder, dass Eltern wegen des Entscheids der Typen- oder
Niveau-Zuteilung für den Übertritt in die Sekundarschule intervenieren.» Früher
hätten die Eltern den Entscheid einer Lehrperson verständnisvoller akzeptiert.
Eine verstärkte Einflussnahme der Eltern stellt auch das kantonale Amt
für Volksschule fest. «Schon ab dem Kindergarten», sagt Amtschef Beat
Brüllmann. Das habe durchaus auch positive Aspekte, wenn sich die Eltern
vermehrt für die ideale Förderung ihrer Kinder interessieren. Problematisch
werde es dann, wenn die Eltern mehr Leistung von ihrem Kind fordern, als dieses
in der Lage ist, tatsächlich zu erbringen. Hier sei es besonders wichtig, dass
sich Eltern und Lehrer in einem konstruktiven Gespräch auf gemeinsame Ziele
festlegen, sagt Brüllmann. Das gelinge in den meisten Fällen, aber nicht in
allen.
Wenn an den Elterngesprächen völlig unterschiedliche Ansichten über die
Leistung des Kindes aufeinanderprallen, zerrt das an der Substanz der Pädagogen.
«Die Lehrperson wird in ihrer Professionalität in Frage gestellt», sagt
Brüllmann. Besonders junge Lehrer stecken das nicht einfach weg. Ein
Studienabgänger aus dem betreuten Umfeld einer pädagogischen Hochschule spürt
so plötzlich den rauen Wind der Realität.
Rückgang bei den Übertrittsprüfungen
Bei Problemen zwischen Eltern und Lehrern wird zuerst die Schulleitung
beigezogen. Auch können sich die Lehrer an die Schulberatung des Kantons
wenden. Wenn die Eltern vor dem Übertritt in die Sekundarstufe den Entscheid
der Einteilung nicht akzeptieren, können sie für ihr Kind eine kantonale
Übertrittsprüfung verlangen. Trotz zunehmender Einflussnahme der Eltern in den
Bereich der Schule hat sich genau in diesem Bereich die Situation
offensichtlich entspannt. Brüllmann stellt fest: «2001 haben noch sieben Prozent
der Schüler vor dem Übertritt in die Sekundarschule diese Prüfung absolviert.
2017 waren es noch drei Prozent.» Den Grund für diesen Rückgang sieht der
Amtsleiter in der durchlässigen Sekundarschule.
Die starre Einteilung in Sek und Real ist im Thurgau 2009 komplett
verschwunden. Heute erfolgt die Zuordnung nach der sechsten Klasse in die
Sekundarstufe E (erweitere Anforderungen) und G (grundlegende Anforderungen).
Die schulische Stärke entscheidet über die Stammklasse. Für die Durchlässigkeit
sorgt ein Niveau-Unterricht in Mathematik und mindestens einer Fremdsprache.
Unabhängig von der Stammklasse werden die Schüler dort in eines von zwei oder
drei Niveaus eingeteilt. Vor allem im ersten Jahr sind sowohl Auf- und
Abstufungen des Leistungsniveaus möglich, betont Brüllmann.
Doch Lehrer müssen den Bezugspersonen das System oft erklären. «Man muss
den Eltern klar machen, dass mit einer Einteilung in Typ G nicht alle Züge
abgefahren sind», sagt Anne Varenne vom Lehrerverband. Vor allem mit dem
heutigen Angebot an Fachhochschulen bieten sich auch später viele
Möglichkeiten. Ein Übertritt in die Kantonsschule ist aber nur für Schüler der
Stammklasse E vorgesehen.
Hilfe vom Schulleiter und der
Schulberatung
Die Schulberatung des Kantons hat den Hilferuf der jungen Lehrerin
gehört. In Beratungsgesprächen entscheidet sie, wie sie den Eltern und ihren
Forderungen begegnen soll. Für ein besonders schwieriges Elterngespräch
beschliesst sie, den Schulleiter beizuziehen, der ihr den Rücken stärkt. So
gelingt es ihr, mit dem Druck der Eltern umzugehen und ihren Standpunkt
bezüglich Notengebung und Einstufung in die Sekundarschule selbstbewusst zu
vertreten.
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