Die Primarschule ist der Ort, wo auf dem
Pausenplatz Gummitwist und Fangis gespielt wird, wo man sich mit dem
Blühverhalten von Löwenzahn beschäftigt, lesen, schreiben und rechnen lernt.
Ein bisschen Französisch oder Englisch – je nach Kanton – und dann kommen die
Dinosaurier dran.
Die Erwachsenen stehlen sich aus der Verantwortung, Bild: Georgios Kefalas
Fördern bis zur Überforderung, SRF, 25.3. von Anna Jungen
Die Mehrheit der Kinder in der Schweiz gibt an,
gerne zur Schule zu gehen. Gleichzeitig klagen sie vermehrt über Leistungsdruck
und Stress.
Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) leiden 27 Prozent der elfjährigen Kinder in der Schweiz unter
Schlafproblemen, 15 Prozent klagen über ständige Niedergeschlagenheit. Zwölf
Prozent leiden regelmässig unter Kopfschmerzen.
Stress im Kinderzimmer
Die Direktorin der Stiftung Pro Juventute, Katja
Wiesendanger, findet deutliche Worte: «Stresssymptome, die wir bisher von
Managern kannten, sind im Kinderzimmer angekommen.» Als häufigster Grund für
Stress wird die Schule genannt. Aber ist die Schule wirklich stressiger
geworden?
Christine Staehelin ist seit über 30 Jahren
Primarlehrerin in Basel-Stadt, mit grosser Leidenschaft und – wie sie sagt –
aus Überzeugung für die öffentliche Volksschule.
«Ich höre immer wieder, der Leistungsdruck in der
Primarschule habe zugenommen», sagt sie. «Man muss sich allerdings genau
fragen, woher dieser Druck denn kommt.»
Eltern würden heute der Bildung einen viel
grösseren Stellenwert zumessen. Den Druck, den sie so auf ihre Kinder ausüben,
würden diese verinnerlichen. «Es herrscht eine gewisse Abstiegsangst unter den
Eltern. Diese geben sie an ihre Kinder weiter.»
Zwischen
Selbstbestimmung und Überforderung
Gleichzeitig müssten Kinder je länger je mehr
Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen, so Staehelin. Gerade die
neuen, als fortschrittlich geltenden Lernformen, das so genannte
selbstorganisierte Lernen, sei für gewisse Kinder eine Überforderung.
«Kinder müssen heute vieles selber machen», erklärt
Staehelin. «Es wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Lernprozess selber
steuern und planen. Damit sind sie ständig auf sich selber zurückgeworfen. Das
kann Stress auslösen.»
Mehr Freiheit
und Mitbestimmung
Selbstorganisiertes Lernen basiert auf der Idee,
dass Lernprozesse dann erfolgreich sind, wenn Kinder besonders viel
mitbestimmen können. Das heisst, sie setzen sich selber Lernziele, die sie
erreichen wollen. Sie motivieren sich selber, suchen selber nach Lernstrategien
und übernehmen damit Verantwortung für ihr eigenes Lernen.
Selbstregulierte Lernformen betonen die aktive
Seite des Lernens und der Lernenden und nehmen diese viel mehr in die Pflicht.
Gerade für starke Schülerinnen und Schüler bieten solche Lernformen viel
Freiheit und Mitbestimmung. Lehrperson können individueller auf Schülerinnen
und Schüler eingehen.
Erwachsene
stehlen sich aus Verantwortung
Trotzdem: Diese Verschiebung von Verantwortung hin
zum Kind findet Christine Staehelin heikel: «Die Erwachsenen verabschieden sich
aus der Verantwortung. Gerade innerhalb eines pädagogischen Kontextes geht das
nicht.»
«Bildung und Erziehung ist etwas, was wir
Erwachsenen den Kindern zumuten», fährt Staehelin fort. «Wir können nicht
erwarten, dass die Kinder das selbst tun. Das ist eine Überforderung, besonders
für die Kinder, die in der Schule Mühe haben.»
«Falsche Vorstellung
von Autonomie»
Auch der Kinder- und Jugendpsychologe Allan
Guggenbühl pflichtet Staehelin bei. Zwar klinge selbstorganisiertes Lernen in
der Theorie toll und nach Mitbestimmung.
In der Realität aber seien solche Lernformen
schlicht nicht kindgerecht: «Selbstorganisiertes Lernen setzt eine Vorstellung
von Autonomie voraus, die es bei Kindern gar noch nicht gibt. Die Kinder werden
alleine gelassen. Das löst Stress und Überforderung aus.»
Kinder sind
frustriert
Aus Untersuchungen wisse man: Kinder lernen dann,
wenn sie spüren, dass die Lehrperson von einem Thema begeistert ist. «Eine
Lehrperson, die mit Leidenschaft ein Thema vermittelt und die Kinder an der
Hand nimmt, kann sie begeistern.»
Müsse das Kind jedoch ständig selber herausfinden,
was es nun lernen wolle und wofür es sich zu interessieren habe, löse das
häufig Frustration aus.
Engmaschige
Beurteilungen
Primarschülerinnen und -schüler sollen also
zunehmend selbstorganisiert lernen. Ihnen wird vermittelt, sie steuerten ihren
Lernprozess selbst. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass gleichzeitig
eine so engmaschige Beurteilung der Kinder stattfindet wie nie zuvor.
Seit einigen Jahren müssen alle Kindergarten- und
Primarschullehrpersonen der Nordwestschweiz einen standardisierten Lernbericht
für jedes Kind ausfüllen: 72 Kreuze auf einer Skala von 1 bis 4. Die
Lernberichte bewerten umfassend alle Leistungen der Kinder.
Protest von
Lehrpersonen
Unlängst machte der Kanton Basel-Stadt
Schlagzeilen. Zwölf Lehrpersonen aus einer Primarschule wagten den Aufstand und
weigerten sich, diese Lernberichte auszufüllen. Die Lernberichte würden zu
unnötigem Leistungsdruck führen und letztlich nichts bringen, so die
Begründung.
Diese Lernberichte sind bei der Lehrerschaft schon
lange umstritten. Eine Umfrage der kantonalen Bildungskonferenz Basel-Stadt
ergab: Über zwei Drittel der Lehrerinnen und Lehrer sind nicht damit
einverstanden, dass bereits Erstklässler und Erstklässlerinnen so beurteilt
würden.
Letztlich wurden die Lehrpersonen aber vom
Erziehungsdepartement dazu gezwungen, die Lernberichte trotzdem auszufüllen.
Diese seien gesetzlich vorgeschrieben.
Kinder als
Arbeitnehmende
Die Diskussion um Leistungsdruck in den Primarschulen
war damit aber definitiv lanciert. Auch Christine Staehelin hat sich mit dem
Protest gegen die Lernberichte solidarisiert.
Besonders stossend an den Lernberichten findet sie,
dass es auch um die Beurteilung so genannter überfachlicher Kompetenzen gehe.
Die Kinder würden dabei wie Arbeitnehmende behandelt.
«Das ist doch
absurd!»
«Da steht zum Beispiel: ‹Das Kind erledigt Aufgaben
termingerecht und vollständig›. Das ist doch absurd!», sagt Staehelin. «Was
heisst denn Selbstständigkeit innerhalb eines pädagogischen Kontextes
überhaupt? Kinder sind keine Arbeitnehmenden.»
Auch Allan Guggenbühl findet die zunehmenden
Rückmeldungen anhand der standardisierten Raster sinnlos: «Wichtig ist, dass
man mit einem Kind im Gespräch bleibt. Das hat einen hohen Wert. Aber mit
Kreuzchen in einem Raster erreicht man ein Kind nicht. Ich würde das ganz
streichen.»
Der diskrete
Charme des Personalwesens
Zu den Beurteilungen der Lehrpersonen kommen die
Selbsteinschätzungen der Primarschüler und Schülerinnen dazu. Mikael Krogerus
ist Redaktor bei «Das Magazin» und Vater zweier Kinder.
Auch er stellt fest, dass Kinder je länger desto
häufiger dazu aufgefordert würden, sich selber einzuschätzen, sich selber zu
beurteilen und konkrete Lernziele für die Zukunft zu formulieren.
Eigentlich alles Dinge, die man bisher aus dem
Personalwesen kannte. Nun aber versprühen Begriffe wie «Zielvereinbarungen»,
«Standortbestimmungen» und «Portfolio» den diskreten Charme des Personalwesens
und damit dessen Botschaften auch in den Primarschulen: «Geübt wird der Blick
von aussen auf sich selber», so Krogerus. «Letztlich geht es um die
Selbstoptimierung.»
Bin ich gut
genug?
Mikael Krogerus hat den Eindruck, dass in der
Schule die klassisch-philosophische Frage aller Heranwachsenden, nämlich «Wer
bin ich?», abgelöst wurde durch die Frage: «Bin ich gut genug?»
«Das ist eine traurige Frage, denn es schwingt
immer mit, dass man noch nicht gut genug ist und stetig an sich arbeiten muss»,
meint Krogerus. «Dabei geht die Freude verloren, etwas zu tun, unabhängig
davon, ob man darin gut ist. Es ist letztlich eine Wettbewerbslogik, in der gut
sein bedeutet: besser sein als andere.»
Man könnte also folgende These formulieren: Wer
ständig dazu aufgefordert wird, über die eigenen Lernfortschritte nachzudenken
und Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, erlebt von klein auf, dass alles stetig
gemessen und bewertet wird. Kinder sind so dem Leistungsdruck unmittelbar
ausgesetzt, bereits in der Primarschule.
Die Kritik an den "neuen Lernformen" und am "selbstgesteuerten Lernen" deckt sich mit den Argumenten der Volksinitiativen "Lehrplan vors Volk" in den verschiedenen Kantonen. Deshalb hat die Schulbürokratie alles versucht, um die "Grundlagen für den Lehrplan 21" unter dem Deckel zu halten, um selber über die Lehrpläne bestimmen zu können. Leider war von dieser Kritik vor den Abstimmungen in den Mainstreammedien nichts zu hören. Deshalb konnte auch keine demokratische Diskussion stattfinden.
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